(ab) Auf der „Europawelle Saar“ des Saarländischen Rundfunks begann in der Bundesrepublik die Geschichte der aktuellen Hörfunkmagazine. Ab 4. August 1964 lief in diesem völlig neu konzipierten Programm dienstags und donnerstags ein zweistündiges aktuelles Abendmagazin. Sehr bald erhielt es den Titel „Zwischen heute und morgen – mit Beiträgen aus Politik, Wirtschaft und Zeitgeschehen“. Ab 2. Januar 1967 kam montags und freitags das Magazin „Kultur aktuell“ hinzu.
Dass es damit abends zur selben Sendezeit (21.00 – 23.00 Uhr) zwei unterschiedliche Magazine gab, hatte einen Grund. Es war ein hauspolitischer, kein programmlicher. Die Zuständigkeit für den SR-Hörfunk – und damit auch für die Europawelle – teilten sich zwei Direktionen: die „Chefredaktion“ und die „Programmdirektion“, die u. a. für Kultur und Unterhaltung zuständig war. Daran lag es, dass die Kultur in „Zwischen heute und morgen“ (einer Sendung der Chefredaktion) nicht vorgesehen war. Erst nach Jahren verständigten sich beide Direktionen auf ein gemeinsames Konzept.
Deshalb begannen ab Mitte 1966 die Vorbereitungen der Programmdirektion für ihr eigenes Kulturmagazin. Der als Redakteur frisch von der Uni engagierte Karl-Heinz Schmieding erinnert sich: „Wir machten so ungefähr zehn Probesendungen auf einer ansonsten nicht genutzten Frequenz, um die Moderation formatgerecht zu besetzen. Gesucht wurde jemand, der/die einerseits zum neuen lockeren Stil der Europawelle passte und andrerseits über die erforderlichen Kultur-Kenntnisse verfügte.“ Gegen eine starke Konkurrenz aus dem SR und von außerhalb setzte sich schließlich Gernot Raue durch. Er war kurz zuvor von einem Berliner Radiosender zum SR gekommen und wurde von der Programmdirektion schon als Moderator anderer Sendungen eingesetzt.
Direkt nach Neujahr 1967 ging „Kultur aktuell“ dann auf Antenne, zuerst noch unter dem Titel „Abends um 9 – Kultur aktuell“. Die Sendung sollte laut Hörfunk-Programmdirektor Dr. Wilhelm Zilius „in einer auch breite Hörerschichten ansprechenden Form“ gestaltet werden. Ob das gelungen war, diskutierte anfangs dann ein größerer Kreis von gestandenen Kulturredakteuren nach jedem Sendetag in einer „hochnotpeinlichen“ Nachbesprechung. Sie standen dem Vorhaben ihres Programmdirektors, die Kultur auch auf der Europawelle und noch dazu mit einem Live-Magazin zu etablieren, überwiegend skeptisch gegenüber. „Besonders für mich als Neuling war diese Nachbesprechung manchmal ganz schön hart“, erinnert sich Karl-Heinz Schmieding. Aber schon nach einem guten halben Jahr zeigte sich, dass „Kultur aktuell“ den Durchbruch geschafft hatte. Nach und nach konnte das Team Raue/Schmieding auch prominente Interviewpartner gewinnen wie z. B. die deutsch-amerikanische Hochschullehrerin, Politik-Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt.
Für Karl-Heinz Schmieding war die Sendung der Grundstock seiner Radio-Karriere. Bereits ab Januar 1968 wurde er festangestellt und als 1. Redakteur verantwortlich für die Kabarettredaktion und den Bereich U(nterhaltung) Wort.
Zwei Jahre später verließ Moderator Gernot Raue den SR und übernahm ab Januar 1971 in Frankfurt/Main die redaktionelle Leitung des vom Deutschen Bühnenvereins herausgegebenen „Theatermagazin(s)“. Später wechselte er als Pressesprecher in die Öffentlichkeitsarbeit des Hessischen Rundfunks, war ehrenamtlich eine Zeit lang Präsident des Frankfurter Presseclubs und engagierte sich im Hessischen Journalistenverband. „Kultur aktuell“ wurde nun vom Moderatoren- und Redakteursteam „Schulz&Schilling“ geprägt.
Von Heinz Schilling
Die Europawelle wurde von zwei leistungsstarken Mittelwellensendern ausgestrahlt. So konnte auch „Kultur aktuell“ in weiten Teilen Europas gehört werden. Die Themen waren deshalb keineswegs regional auf das Saarland beschränkt.
Das SR-Kulturteam wollte nicht Hörfunkkonsumenten mit Kulturergüssen unterhalten, sondern interessierten, kritischen Hörern umfangreiche Informationen und gründlich recherchierte Hintergrundberichte anbieten. „Ziel der Redaktion: Ein Kulturangebot, nicht gleich zum Schlucken – die Hörer sollen ruhig erst mal dran zu kauen haben“, hieß es in einer Selbstcharakterisierung anlässlich des 10-jährigen Bestehens der Sendung. Da war „Kultur aktuell“ längst zu einer „Marke“ im SR-Programm geworden, als eine geglückte Symbiose von Kultur und Magazin. Ein Glücksfall auch war nach Meinung vieler Hörer das kongeniale Moderatoren-Gespann Schulz & Schilling.
Wir brachten zeitnah mehr als das traditionelle Feuilleton der Zeitungen mit seinen Theaterkritiken, Filmbesprechungen und Ausstellungsberichten. Das Themenprofil wirkte absolut modern, es reichte von Bildungspolitik über Stadtkultur bis zu Technologie, Ökologie und Medizin.
Der Redakteur am Mikrofon Bernd Schulz wurde 1941 in Beckingen/Saar geboren, absolvierte ein naturwissenschaftliches Studium (Forstwirtschaften) in Freiburg i. Br., arbeitete nach dem Examen jedoch als Hörfunkreporter und Wissenschaftsjournalist für den SR.
1970 wurde er Leiter der Abteilung Wissenschaft und Kulturkritik und trat hier als Redakteur am Mikrofon des Magazins „Kultur aktuell“ hervor. Von 1972 bis 1974 war er außerdem im Quadriga-Funkkolleg Biologie aktiv. Das war eine gemeinsame Radio-Fortbildungsreihe von HR, SWF, SDR und SR, deren Kurse die Zuhörer mit Zertifikaten abschließen konnten. 1974 wurde Bernd Schulz Chefreporter Kultur des SR. Nach seiner aufsehenerregenden Kündigung 1977 arbeitete er als freier Autor für Rundfunk- und Fernsehanstalten und war Assistent am Institut für Konsum- und Verhaltensforschung der Universität des Saarlandes und engagierte sich als Schauspieler oder Regisseur in freien Theaterprojekten („Sog. Theater Saarbrücken“).
Für die Stadt Saarbrücken entwickelte er ein Konzept für das Kulturzentrum „Stadtgalerie Saarbrücken“, dessen Gründungsdirektor er 1984 wurde und über 100 Kunstausstellungen kuratierte. Er leitete das sehr eventbetonte, renommierte Zentrum bis 2002. Die Hochschule für Bildende Künste Saar berief ihn als Honorarprofessor; er übernahm auch Lehraufträge in Nancy und Paris. Seine besondere Zuwendung erfuhr später der Bereich der Klangkunst (bis hin zu seiner privaten Email-Kennung „Klangförster“). Nach längerem Aufenthalt in Kanada lebte er ab 2006 als Kurator in Berlin. Er starb 2017.
Ich habe viel von Bernd gelernt und bin ihm für seine kollegiale Freundschaft unendlich dankbar. Er hat viele kulturelle Trends früh erkannt und „Kultur aktuell“-Themen „gerochen“ – noch bevor sie Themen wurden. Er war allerdings auch skeptisch gegenüber allzu marktschreierisch angebotenen Innovationen und hat oft nach einiger Zeit die Frage gestellt: „Was wurde eigentlich aus ...?“ Seine Interviewführung war zugewandt neugierig und kritisch zugleich.
Die Frage nach der „inneren Pressefreiheit im SR“ war essentiell für unser beider Berufsverständnis.
Der andere Redakteur am Mikrofon, war ich, Heinz Schilling. Ich bin am 3. 11. 1942 in Seligenstadt geboren, habe in Frankfurt Kulturwissenschaften und Politologie studiert und stieß 1971 zum Team von „Kultur aktuell“. Zu meinen akademischen Lehrern gehörte Carlo Schmid, Staatsrechtler, aktiver Politiker (1948/49 einer der „Väter des Grundgesetzes“) und Übersetzer von Gedichten Baudelaires sowie von Texten von André Malraux, dem Frankreich die „Maisons de la Culture“ verdankt. Malraux als „linksgaullistischer“ Kulturminister blieb nicht ohne Einfluss auf die neue Kulturpolitik der 1970er Jahre in der Bundesrepublik („Kultur für alle“).
Nach dem Abschluss Magister Artium (M. A. 1968) war ich Wissenschaftlicher Assistent und promovierte 1971 bei dem Volkskundler Wolfgang Brückner mit einer empirischen Untersuchung zur sogenannten Trivialkunst in deutschen Wohnungen.
Im Sommer 1971 bewarb ich mich – mit der frischen Doktorarbeit in der Hand und ohne je vor einem Mikrofon gesessen zu haben – beim Saarländischen Rundfunk als Redakteur für die Abteilung „Wissenschaft und Kulturkritik“.
Der Schwerpunkt meiner Arbeit wurde bald das Hörfunkmagazin „Kultur aktuell“. Mit Kulturredakteur Günter Lösing zusammen war ich auch tätig für ein „klassisches“ Radio-Wissenschaftsprogramm (Magazine, Features und Vortragsreihen). Die Serie „Herrschen die Computer?“, u. a. mit Konrad Zuse, dem Erfinder des Computers, erschien 1974 wegen der großen Hörerresonanz als Buch im Herder-Verlag.
Günter Lösing hatte außerdem die Leitung für zwei Sendungen am Sonntag. Ein Programm-Highlight war morgens „Fragen an den Autor“ mit dem genialen Fragesteller Heinrich Kalbfuss am Mikrofon.
Am Abend widmete sich der „Dialog“ den „heißen“ Themen der Zeit, beispielsweise in der aktuellen Bildungspolitik, und immer wieder auch der Stadtkultur. Unvergesslich eine Dialogsendung zum Thema Kunst, gesendet aus der Saarbrücker „Park-Schänke“; sie war – ein Faible der Wirtin – voller Bilder an den Wänden, alles Originale.
Im Frühjahr 1977 kündigte ich beim SR, gemeinsam mit Bernd Schulz und Jochen Senf (damals Hörspieldramaturg bei Werner Klippert). Die Begründung für diesen in der deutschen Medienlandschaft spektakulären Schritt war unsere massive Kritik am – von uns so empfundenen – wachsenden Einfluss der Politik auf die Programmgestaltung sowie an einer mangelnden inneren Pressefreiheit im Saarländischen Rundfunk („Schere im Kopf“).
Ich kehrte zurück an die Universität Frankfurt, wo ich mich für das neue Fach Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie mit einer Untersuchung zum Thema „Urbanisierung als soziokultureller Prozess“ habilitierte und bis 2005 als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor lehrte. Mit meinen Schülern führte ich zahlreiche Forschungsprojekte durch, abgeschlossen jeweils mit einer Buchveröffentlichung. Eine davon, „Leben an der Grenze. Recherchen in der Region Saarland/Lorraine“, erschien 1986 und umfasste 400 Seiten.
Unsere Themen in „Kultur aktuell“ waren beeinflusst vom gesellschaftlichen Meinungsklima nach 1970 und – auch – von unserem persönlichen Lebensgefühl. Kritik und Diskurs haben Bernd Schulz und ich stets als demokratischen Modus gesellschaftlicher Verständigung verstanden. Als Journalisten waren wir vor allem Beobachter und Vermittler und hatten als solche eine öffentliche Rolle. Wir wollten in den uns anvertrauten Radiosendungen Kunst und Kultur jedoch nicht als etwas nur Privates darstellen und bewerten, sondern – über ästhetische und emotionale Aspekte hinaus – auch den gesellschaftlichen Kontext mit betrachten.
Hierbei waren wir natürlich nicht losgelöst von der Gesellschaft, die uns in Deutschland gerade in den 1970er Jahren umgab und in der wir selbst lebten. Es war eine Phase dynamischer Veränderungen.
Ich selbst habe diese Zeit nach der Adenauer-Ära wie eine Stoßlüftung empfunden. Und mein Blick auf das ganze Land schien von einem auf den anderen Tag verändert, als 1969 Gustav Heinemann Bundespräsident wurde und, kurz darauf, der neue Bundeskanzler Willy Brandt hieß. Dessen politische Botschaft umfasste fünf schlichte Worte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“
Die „Bildungsreform“ war eines der der wichtigen Themen. Bereits 1964 erschien in der Wochenzeitung „Christ und Welt“ eine Artikelserie unter dem Titel „Die deutsche Bildungskatastrophe“. Autor war der Philosoph und Pädagoge Georg Picht. Die Serie erregte starke Beachtung und gilt als Initialzündung zu einer breiteren Diskussion und zu einer Reform des gesamten Bildungswesens vom Kindergarten bis zur Universität. Picht ging es vor allem um wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile Deutschlands auf dem Weltmarkt. Er sah letztlich sogar eine Gefahr für die Demokratie selbst. Falls an dem bestehenden System nichts geändert würde, drohe sogar ein Bildungsnotstand. Eine exemplarische Figur für extreme Benachteiligung war für Picht das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“, das sprichwörtlich wurde für eine breite politische Debatte. Der Soziologe und liberale Politiker Ralf Dahrendorf argumentierte mit der Formel „Bildung ist Bürgerrecht“ und prognostizierte ähnlich einen irreparablen Schaden für die Demokratie, falls das Bildungswesen nicht grundsätzlich modernisiert werde.
Eine konkrete Neuerung war dann in den 1970er Jahren die Gesamtschule. Sie wurde – mit teilweisem Verzicht auf die traditionelle Dreigliederung des deutschen Schulsystems – mancherorts als Schulversuch eingeführt und besteht bis heute.
„Aufreger“ der Debatte gab es nicht wenige. Große Aufmerksamkeit bekamen außer Gesamtschule und Mengenlehre (sie gilt längst als in der Praxis des Mathematikunterrichts gescheiterte Methode) die „Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre“ in Hessen, worin Geschichte als eigenständiges Fach keinen Platz mehr haben sollte.
Über die zahlreichen diversen Reformansätze im Bildungssektor haben wir vor allem im Magazin „Kultur aktuell“ über mehrere Jahre hinweg berichtet.
Auch die Ökologie gehörte zu den Aufreger-Themen. „Oikos“ bedeutet im ursprünglichen Wortsinn „das ganze Haus“, gedacht als Regelkreis des Wirtschaftens. Einem breiten Publikum wurde das davon abgeleitete Wort Ökologie spätestens bekannt, als 1972 der international agierende „Club of Rome", ein Forum vor allem naturwissenschaftlicher Experten, den Bericht „Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte. 1973 wurde dieser „Visionär des Wandels“ mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete. Natürlich war Ökologie in den verschiedensten Hörfunk-Formaten des SR immer wieder tagesaktuelles Thema.
1973 bekam man während der „Ölkrise“ (eigentlich eine Ölpreiskrise) eine Vorstellung von der Endlichkeit der Energiequellen auf der Welt und dem, was der „Club of Rome“ mit dem Ende des Wachstums gemeint hatte. Zeichen der Zeit waren damals „autofreie Sonntage“ (mit u. a. Radfahren auf der Autobahn) und ausgeschaltete Weihnachtsbeleuchtungen in städtischen Einkaufsmeilen.
Stadtkultur und Kulturpolitik ganz allgemein waren einer der wichtigsten Themenbereiche von „Kultur aktuell“. Wir wollten Stadtpolitik als Kulturpolitik verstehen, berichteten über alte und neue Formen von Nachbarschaft, beobachteten (Alt-)Stadtfeste, fragten nach dem Wandel von Traditionen, berichteten über Stadtteilinitiativen.
Anstoß dazu gab auch der Kongress des Deutschen Städtetags 1971 unter dem Titel „Rettet unsere Städte jetzt“ – ein Hilferuf angesichts kommunaler Überschuldung, Verkehrskollaps, Smog (Tribut der Bevölkerung an die „autogerechte Stadt“) und Bodenwucher.
Aber auch die soziale und kulturelle Situation von nicht ganz so feinen Stadtvierteln (nach einer Phase der „Stadtflucht“) gelten als Ursache für die Verödung der Stadt. Die Großstadt mit ihrer funktionalen Einsilbigkeit war längst ein Fall für die Psychoanalyse geworden. Alexander Mitscherlichs Buch von 1965, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ sollte laut Untertitel eine „Anstiftung zum Unfrieden“ sein. „Die Unwirtlichkeit, die sich über die neuen Stadtregionen ausbreitet, ist niederdrückend“, schrieb Mitscherlich. Mit gemeint waren aber auch die Innenstädte und die Ödnis der sich dort ausbreitenden Konsummeilen. Aus der Sicht des Psychoanalytikers schlug hier nicht das „Herz der Stadt“; sie bot den Menschen keine Heimat.
Doch wo schlug das „Herz der Stadt“? Antwort gaben Architekten, Stadtplaner und Bauhistoriker am „Kultur aktuell“-Telefon. Anlass boten auch Buch-Neuerscheinungen wie etwa „Architektur, Spielraum für Leben“ (1972) von Ulrich Conrads, Herausgeber der führenden Fachzeitschrift „Bauwelt“ mit seinen unkonventionellen Vorschlägen für „Enteignung auf Zeit“ oder „Bannmeilen für Privatautos“ in den Städten. Oder schlug das Herz eigentlich schon in den Shopping Malls vor der Stadt? Als deren „Erfinder“ galt Victor Gruen, den wir in „Kultur aktuell“ interviewten.
Altstadtsanierung unter Einsatz staatlicher Förderprogramme wurde eine große Herausforderung für Bau- und Planungsfachleute aber auch für die Ideen zur Bürgerbeteiligung. Als Initialzündung wirkten hier zunächst 1975 das Europäische Denkmalschutzjahr und später die Dorferneuerungsprogramme der Bundesländer am Ende des Jahrzehnts. Reichlich Themen also für ein Kulturmagazin.
Vielfach entstanden in den Städten Bürgerbeiräte oder Initiativen mit konkreten ökologischen und sozialen Zielen, oft auch zur kulturellen Wiederbelebung traditioneller Quartiere. Bürgerschaftliches Engagement und Eigeninitiativen gehören zur Signatur dieser Zeit. Und Kommunalpolitiker erkannten, dass mit einer speziellen Kultur-Politik etwas „gebaut" werden konnte, das etwas Spezifisches versprach: Unterscheidbarkeit und Identifikation für Bürger, abseits genormter Fußgängerzonen und Touristen-Hotspots.
„Kinderkultur“ war ebenfalls eines unserer häufigen Themen. Zum „Selbermachen“ zähle ich auch die in vielen Städten Ende der 1960er/Anfang der 70er Jahre aufgekommenen Kinderläden als Alternativen zu städtischen oder kirchlichen Einrichtungen. „Alternativ“ waren nicht nur die Räumlichkeit (oft aufgelassene Ladenlokale inmitten der Stadt oder sogar, wie etwa in Saarbrücken-Schönbach, in einer Gartenumgebung am Stadtrand) und die Organisationsform (Selbstverwaltung), sondern auch die pädagogischen Ideale, etwa die Anleitung zu Selbstverantwortung, Empathie mit Schwachen und soziale Kreativität. Die Gründer, in der Regel Elterninitiativen, gehörten meist zum studentischen Milieu und hatten oft auch politische Motive. Diese reichten von einer Umsetzung jenes „Mehr-Demokratie-Wagen“ bis hin zur Vorbereitung fundamentaler Gesellschaftsreformen.
Was für engagierte Eltern „antiautoritäre Erziehung“ hieß, war in der öffentlichen Debatte für Skeptiker oft ein rotes Tuch; sie witterten „linke" Indoktrination. Ihnen galten Kinderläden als Instrumente einer linksradikalen Verschwörung.
„Kinderkultur“ umfasst natürlich auch die Medienangebote für Kinder. Plötzlich gab es neue Kinderbücher, die Reihe „dtv junior“ startete 1971, „rororo rotfuchs“ – deutlich aufklärerischer intoniert – folgte1972.
Die Kinderliteratur neuen Typs sollte eine „Literatur der kindlichen Gleichberechtigung“ sein. Sie „reklamiert die allgemeinen Menschenrechte auch für Kinder“, so urteilt später der Kinder- und Jugenbuchforscher Hans-Heino Ewers und sieht damit ein Ende der „Infantilisierung der Kinder“ in den herkömmlichen Kinderbüchern, die letztlich auf eine „Entmündigung der Kinder“ hinausliefe.
Astrid Lindgren ist für Ewers die Autorin, die weitgehend auf autoritäre Züge in ihren Geschichten verzichtet. Erwachsene treten „nicht als Autoritätspersonen, sondern als Partner der Kinder“ auf. Die offene, provokatorische Infragestellung von Autoritäten, wie in Lindgrens Pippi Langstrumpf sieht der Forscher als Zeichen eines Umschwungs: „Eine nicht-autoritäre Kinderliteratur genießt mit einem Male eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, während gleichzeitig Kinderliteratur mit sichtbar autoritären Zügen in Misskredit zu geraten beginnt.“
Pippi Langstrumpf (schwedisch 1945, dt. 1949) avanciert zu einer Art Superstar der Kinderkultur – insbesondere nach den Verfilmungen: Eine selbstbewusste Neunjährige mit stracken orangeroten Zöpfen, gespielt von Inger Nilsson. Pippi macht sich die Welt – widdewiddewitt – so wie sie ihr gefällt.
Im Fernsehen blühten seit Beginn der 1970er Jahre spezielle Sendungen für Vorschulkinder auf: 1971 „Die Sendung mit der Maus“, 1972 „Das feuerrote Spielmobil“, 1973 „Rappelkiste“. Ebenfalls 1973 kam die deutsch synchronisierte „Sesamstraße“ dazu.
„Kultur aktuell“ berichtete immer wieder über diese Facetten einer neuen „Kinderkultur“. Auch über das „Grips-Theater“ in Berlin, das sich zur erfolgreichsten deutschen Spielstätte für Kinder und jüngere Jugendliche entwickelte. Und dies mit einem ausdrücklich politisch-aufklärerischen Programm: „Gutes Theater ist immer links“, sagte der „Grips“-Gründer Volker Ludwig in einem Kultur aktuell-Interview.
Aus großem zeitlichen Abstand betrachte ich im Sommer 2021 meine Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Magazin „Kultur aktuell“ sowie meine Zeit beim Saarländischen Rundfunk. Beim Erinnern kommen mir Begegnungen mit Menschen, Details aus Sendungen in den Sinn. Und stets war die Suche nach neuen Themen und journalistischen Formen, war die Freude am Experimentieren und am „funkischen“ Gestalten wesentlich für mich. Hinzu kam die Atmosphäre der Redaktion – eine Art Heimat, das Reden über Ideen in der Planungsphase einer „Kultur aktuell“-Ausgabe, dann aber auch die Frage hinterher: Na, wie lief’s denn?
Und generell Fragen à la: Sollen wir nicht öfter mal „rausgehen“, einen Reporter losschicken, der etwa die aus Kinos, Theatern usw. herausströmenden Besucher live nach ihrer Meinung über das gerade Erlebte interviewt? Na, wir probieren das mal aus. Oder sollen wir die Berichterstattung doch lieber (ganz) den Profi-Kritikern überlassen?
Vor genau einem halben Jahrhundert kam ich nach Saarbrücken, lernte schnell „Radio“ und ... lernte immer Neues hinzu. Lernte, „richtig“ zu interviewen: Fragen, zuhören, nachfragen, vergleichen, beurteilen, einordnen, Themen medial umsetzen. Lernte nie aus.
Mit der Zeit wagte mich auch an „große Kisten“, an längere Dokumentarfeatures über Kulturinstitutionen (etwa Museen und ihr Publikum) oder Menschen (glückliche und gescheiterte, etwa über den tragischen Hippie namens Johnny Lux). Aus vielen Mono-O-Ton-Schnipseln im SR-Hörspielstudio eine 75-Minuten-Stereodokumentation basteln.
Doch es dominierte die kleine Form. Aktuell war das, was morgen schon gestern sein würde. Wichtig war das Interesse an Entwicklungen, auch der vergleichende Blick auf solche in Nachbarländern, auf internationale Tendenzen etwa des Designs oder – um ein vielleicht merk-würdiges Beispiel zu nennen – die „linke“ Psychiatriereform in Italien und ihre Ausstrahlung auf Deutschland. Es war eine Zeit, da plötzlich der „mündige Patient“ entdeckt wurde.
Derlei Themen fanden wenig Zustimmung in den höheren Etagen des SR und brachten den Kultur aktuell-Machern zumindest den hausüblichen „Linksdrall“-Verdacht ein.
Tröstlich dann beispielsweise das Kompliment eines Journalistenkollegen vom Deutschlandfunk: Auf einer längeren Recherchereise durch Osteuropa konnte er als einzigen deutschsprachigen Sender abends SR 1, Europawelle Saar empfangen: „Was macht Eure SR-Kulturredaktion für tolle Sachen! Wenn wir das nur mal auch beim DLF könnten. Nicht nur über den üblichen Kulturbetrieb berichten, sondern wirklich neue Themen aufreißen, den Kulturbegriff ganz weit und noch weiter fassen. Naja, ihr habt dafür ja auch vier Stunden Zeit pro Woche.“
Neben dem (latent) Aktuellen gab es in „Kultur aktuell“ auch feste Rubriken. „Tagesläufe. Kultur als Beruf“, so hieß eine Freitagsrubrik von „Kultur aktuell“, platziert ganz am Ende der Sendung. Das Alphabet kreativer Berufe, Tätigkeiten und Funktionen – von Architektin bis Zukunftsforscher – verweist tatsächlich auf die große Spanne dessen, was in „Kultur aktuell“ „Kultur“ bedeutet hat. Sie reicht deutlich über die Themen des damaligen Zeitungsfeuilletons hinaus:
Was macht ein Schriftsteller, wenn er gerade nicht am Schreiben ist?
Wie sieht der Alltag einer Bühnenbildnerin aus?
Wie plant ein Pianist seine nächste Konzerttournee?
Den deutschen Modeschöpfer in Paris – dies als ein weiteres Beispiel –, dessen Namen inzwischen alle kannten, fragten wir: „Was haben Sie heute gemacht, Herr Karl Lagerfeld?“
„Ich war den ganzen Tag unterwegs hier in der Pariser Region“, so begann das Telefoninterview, das für mich in seiner Schlichtheit wohl auch mit zum Beeindruckenden in meiner journalistischen Laufbahn gehört. Was in den dann folgenden dreizehn Minuten über den Sender ging vermittelte ein Bild vom „normalen“ – gänzlich unspektakulären – Berufsalltag eines Kreativen, von dem das große Society-Publikum nur das gleißende Licht seiner aufsehenerregenden Defileen kannte. Karl Lagerfeld (10. 9. 1933 – 19. 2. 2019) erzählte unaffektiert (und ein bisschen müde) von diesem Tag.
Jeweils ein ständiger Musikredakteur war den SR-Magazinen zugeordnet. Für „Kultur aktuell“ war das Frank Rainer Huck. Eines Tages, im Herbst 1976 kommt Frank Rainer in die Redaktion mit einer Langspielplatte in der Hand: „Ich lass euch das einfach mal da zum Reinhören. Vielleicht interessiert euch das.“
Frank Rainer Huck war selbst aktiver Jazzer und immer sehr nah an der Sendung. Nicht nur beim Redaktionsgespräch über geplante Themen, sondern auch während der Sendung selbst. Da saß Frank Rainer im Regieraum, vor der großen Glasscheibe, wo die Sendung „gefahren“ wurde. Von ihm stammte – beispielsweise – die Idee, an einem Abend ausschließlich Beatles-Titel zu spielen. Dies als Wunschkonzert, bei dem dann später sprichwörtlich die Studiotelefone glühten.
Bei der mitgebrachten LP handelte es sich um einen Querschnitt von Swing-Originalaufnahmen berühmter Bigbands der 1930er Jahre, die im berühmten „Roseland-Ballroom“ in Manhattan gastiert hatten wie die Orchester von Fletcher Henderson, Glenn Miller, Woody Herman, Harry James, Tommy Dorsey … Eine Musik, die in Deutschland seit Oktober 1935 generell wie auch im Reichsrundfunk als „Nigger-Jazz“ verboten war und im Sinne der NS-Doktrin ganz offiziell „eine Angelegenheit von Halbwilden“ genannt wurde. Einer der Titel der Roseland-LP war am 19. November 1936 aufgenommen. 1976, also genau vierzig Jahre später, würden wir an einem Freitag eine „Kultur aktuell“-Sendung haben.
Aus dem „interessiert“ wurde ein elektrisiert. Beim Lesen des Covertexts formte sich eine Idee: Wir „erwecken“ jenen 19. November 1936 am kommenden 19. November 1976 „zum Leben“.
Musik würde dann ausschließlich von dieser LP kommen.
Natürlich, Swing- und Jazztitel gab es in „Kultur aktuell“ ohnehin immer mal wieder. Doch eine ganze Sendestunde damit gestalten? Ja!
Unsere Frage sollte dann lauten: Was geschah kulturell an jenem 19. November 1936 in Deutschland? Und was gab es an diesem Tag nicht?
Die NS-Propaganda-Olympiade von Berlin lag gerade ein Vierteljahr zurück; erfolgreichster Athlet war ein schwarzer US-Amerikaner. Mit dem vierfachen Goldmedaillengewinner Jesse Owens schönte das 3. Reich seine Rassenpolitik – jetzt nach dem Erlass der menschenverachtenden Nürnberger Rassengesetze von 1935. Intellektuelle verließen Deutschland seit Jahren bereits. Die Bücherverbrennungen von 1933 waren andauernde Warnung für Dichter.
Welche Bücher durften seitdem hierzulande nicht geschrieben, verlegt, gedruckt, verkauft, gelesen werden?
Welche Filme nicht gedreht und in den Kinos nicht gezeigt werden?
Welche Musik durfte oder sollte damals gespielt werden oder gerade nicht?
Welche Filme liefen in den Kinos?
Welche Künstler galten als „entartet“ und waren verfemt, waren bereits im Exil oder auf dem Weg dahin?
Also: Zeitungsrecherche im Saarbrücker Stadtarchiv. Der 1936 aktuelle Kinofilm hieß „Der Kaiser von Kalifornien“ von und mit Luis Trenker.
Ein besonders aufschlussreicher Fund war ein Zeitungsartikel über den Vortrag, den Joseph Goebbels, Reichsminister für Propaganda und Volksaufklärung, kurz vor unserem „Stichtag“ 1936 auf der Ordensburg Vogelsang in der Eifel gehalten hatte, einer hochrangigen Schulungsstätte für NSDAP-Nachwuchskader. Thema: Die nationalsozialistische Rassen- und Kulturpolitik. Ein O-Ton-Dokument dieser Rede fand sich sogar im Deutschen Rundfunkarchiv.
Zu den Intellektuellen, die Deutschland verlassen hatten, gehörte Alfred Kantorowicz, Jahrgang 1899: Dr. jur., Publizist, Schriftsteller und Literaturhistoriker jüdischer Herkunft. Das Interview mit ihm, eigentlich mehr ein Selbstgespräch des damals 74-jährigen Alfred Kantorowicz, werde ich nie vergessen. Es ist bis heute einer der Höhepunkte meiner SR-Zeit.
So etwa die Planungsskizze für die KA-Ausgabe am 19. November 1976: Sorgfältig recherchierte Wortbeiträge plus Musikauswahl gemäß jener Roseland-LP.
Als eine Nachbemerkung: Diese zuletzt skizzierte Sendung war ein Beispiel dafür, wie sich das Magazin „Kultur aktuell“ in der Zukunft hätte weiter entwickeln können – als eine Art Live-Feature, unabhängig von den Zufälligkeiten einer je aktuellen Themenlage, wie sie von Nachrichtenagenturen vorgegeben wurde.
„Kultur aktuell“ vom 29. 10. 1973 war keine aufsehenerregende Sendung. Doch aufregend für mich war dieser Montag durchaus:
Der Ort eines besonderen Ereignisses war das Winterberg-Krankenhaus Saarbrücken. Dort wurde am 29. Oktober 1973 unsere Tochter Hellen geboren. Das steht zwar nicht auf dem Themenplan, doch in Gedanken war ich den Tag über und während der Sendung auf dem Winterberg bei Karin und dem Kind.
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte und Einführungstext: Axel Buchholz (ab): Illustration Burkhard Döring und Magdalena Hell, Layout und Gestaltung: Eva Röder, Standbilder: Sven Müller (Ferseh-Archiv), Mitarbeit Recherche: Frank Rainer Huck