Arnfrid Astel (Foto: SR)

Arnfrid Astel – ein Dichter als Redakteur im öffentlich-rechtlichen SR

 

Mehr als drei Jahrzehnte lang war Arnfrid Astel der Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks – und zugleich ein Dichter. Beinahe wären es nur gut drei Jahre geworden. Denn was Astel als untrennbar miteinander verbunden ansah, brachte ihn bei seinem Intendanten in einen Rollenkonflikt.

Anders als er selbst, hielt Intendant Dr. Franz Mai die Form der politischen Agitation und den Inhalt der „aggressiven Gedichte“ des „jugend-frechen“ (Zitate: Astel) radikalen Linken für teilweise nicht vereinbar mit der Funktion eines leitenden Redakteurs im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Autor Rainer Petto war ein Wegbegleiter von Arnfrid Astel, beim SR und auch darüber hinaus.

Von Rainer Petto

Arnfrid Astel (Foto: SR)
Arnfrid Astel: Abteilungsleiter Literatur beim SR.
Lyrische Hefte (Foto: SR )
„Lyrische Hefte“, herausgegeben von Arnfrid Astel.

Der Intendant lässt es sich nicht nehmen, den Bewerber um die Stelle in der Literaturabteilung persönlich zu begutachten, und bittet ihn zum Gespräch in Schloss Halberg (wie andere Kandidaten für leitende Positionen auch). Man kann sich die Szene gut vorstellen: Dr. Franz Mai, der sich selber als Philosoph sieht und auch Gedichte schreibt („Des Lebens stille Flut“), und Arnfrid Astel, Herausgeber einer Zeitschrift namens „Lyrische Hefte“, Sohn eines Professors, ein feinsinniger junger Mann, humanistisch gebildet. Im Gespräch schwingen sie sich zu wahren geistigen Höhenflügen auf. Mai ist beeindruckt.

Arnfrid Astel ist am 9. Juli 1933 in München geboren, seine Kindheit verlebt er in Weimar, seine Jugend in einem Internat in Windsbach/Mittelfranken. In Freiburg und dann ab 1955 in Heidelberg studiert er Biologie und Literatur, ohne mit einem Examen abzuschließen. Von 1957 an ist er Hauslehrer am privaten Englischen Institut.

1959 begründet Astel die „Lyrischen Hefte“, eine Zeitschrift für Gedichte, mit der er beginnt, sich in der Literaturszene einen Namen zu machen (Herausgabe bis 1970). Die „Lyrischen Hefte“ entdecken alte Autoren neu, und sie entdecken neue Autoren, denen sie eine frühe Veröffentlichungsmöglichkeit bieten. Hier veröffentlicht Astel auch eigene Gedichte unter dem Pseudonym Hanns Ramus (lat. ramus = Ast). In einer biografischen Notiz heißt es 1979: „Die zehn Heidelberger Jahre von 1955 bis 1965 waren prägend.“ Und: „1966 folgte ein unglückliches Jahr als Lektor beim Middelhauve Verlag in Köln.“ 1966 ist auch das Jahr seiner Scheidung von der Schriftstellerin Eva Vargas, mit der er seit 1958 verheiratet ist.

SR-Intendant Dr. Franz Mai. (Foto: SR)
SR-Intendant Dr. Franz Mai.

Und so bewirbt sich Arnfrid Astel um die Stelle in Saarbrücken und wird nach dem Gespräch mit dem Intendanten zum 7. 11. 1966 als Programmgestalter in der Hauptabteilung Kulturelles Wort, mit besonderem Schwerpunkt Literatur, festangestellt. Noch bis in den Herbst des folgenden Jahres scheint Mai davon überzeugt zu sein, dass er eine gute Wahl getroffen hat. Denn zum 1. November 1967 kann Astel zum Abteilungsleiter Literatur aufrücken.

Er wird damit Vorgesetzter des zehn Jahre älteren Fred Oberhauser, der seit dem Abgang von Heinz Dieckmann 1963 kommissarisch die Stellung gehalten hatte. Astel und Oberhauser werden keine Freunde. Alle Versuche Astels, seinen Redakteur in den Griff zu bekommen, scheitern. Oberhauser erschließt sich nach und nach Arbeitsfelder in anderen Abteilungen, er macht sich unentbehrlich als Reporter in Franz-Josef Reicherts Regionaler Kultur („Fahren Sie uns nach“) und als Moderator von Peter Bruggers Fernsehmagazin „Kulturspiegel“. Astel, sein eigentlicher Chef, weiß nie, für wen Oberhauser gerade unterwegs ist. Sie finden einen Modus Vivendi, grenzen ihre Zuständigkeiten innerhalb der Abteilung so ab, dass keiner dem andern in die Quere kommt; Astel bestreitet die Sendung mit den Autorengesprächen, Oberhauser betreut die Buchbesprechungen und frönt der Literarischen Topographie.

Mehr zu Fred Oberhausers Arbeit als Redakteur für regionale Literatur im Rahmen des „Heimatfunks“

Dieser geographischen Spurensuche auf Dichters Pfaden kann Astel herzlich wenig abgewinnen. In seinem Epigramm „Topographie“ billigt er seinem Redakteurskollegen aber immerhin zu, verlässlich darüber Auskunft zu geben, wo Goethe seine Notdurft verrichtet habe. Wenn einen das interessiere, rät er ironisch, solle man Oberhauser fragen (Gedicht im Internet unter www.zikaden.de/gedruckt, alphabetische Suche nach „Topographie“ und gedruckt in Arnfrid Astel, Kläranlage. 100 Epigramme, Carl Hanser Verlag, München 1970).

Der saarländische „Dichter-Fürst“ Ludwig Harig hat seinem „collega epigrammaticus mit einem fröhlichen Augenzwinkern“ öffentlich darauf geantwortet: Astel hebe ihm „da doch etwas zu sehr statt auf den Genius Loci auf den Locus Genii ab“. Da aber Astel inzwischen selbst in mythologischen Haikus Fischreiher und Wildgänse schlachte, „um aus ihren Eingeweiden und ihrem Kot in kryptischen Metaphern Sinn zu entbinden“, erscheine sein Epigramm von damals in einem ganz neuen Licht.

Arnfried Astel - Notstand (Foto: SR)
Umschlagseite des Astel-Gedichtbands „Notstand“.

Dass die anfängliche Harmonie mit Mai ein Missverständnis und der Intendant und er keine Brüder im Geiste sind, ist Astel von Anfang an klar. Mai muss es spätestens erkannt haben, als 1968 Astels Gedichtband „Notstand“ erscheint. Nicht nur, dass Wörter wie „Erektion“ oder „Scheiße“ nach Mais Verständnis in Lyrik nichts zu suchen gehabt haben dürften. Es sind vor allem die politischen Gedichte zu den Notstandsgesetzen, dem Vietnamkrieg und zur Springer-Presse, die dem konservativen Senderpatriarchen bitter aufgestoßen sein müssen.

Eine besondere Rolle sollte ein in diesem Band veröffentlichtes Gedicht zu Kurt Georg Kiesinger spielen, dem Bundeskanzler mit der Nazi-Vergangenheit. Astel empfiehlt ihm statt (s)eines früheren „Heil Hitler“ den Gruß „Grüß Gott“ verbunden mit der Aufforderung „haut ab“ (Gedicht im Internet unter www.zikaden.de/gedruckt , alphabetische Suche nach „Heil Hitler“ und gedruckt in Arnfrid Astel, Notstand, 100 Gedichte, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1968).

Ich erlebte Astel zum ersten Mal im Mai 1968. Mit Freunden, die sich auch mitten in den Abiturprüfungen befanden, besuchte ich eine NPD-Kundgebung im Saarbrücker Johannishof. Fast die Hälfte der Besucher waren Gegendemonstranten, wir haben kräftig mitgebrüllt: „Nazis raus!“ Als am Ende ein Mann auf die Bühne stürmte und eine NPD-Fahne herunterriss, wurde er von den Ordnern ins Freie gesetzt. Jemand wusste den Namen des Mannes: Arnfrid Astel. In der Saarbrücker Literatur- und Politikszene hatte er sich schnell einen Namen gemacht.

Erich Voltmer (Foto: Oettinger/SR)
Erich Voltmer, Vorsitzender des SR-Rundfunkrats und des Saarländischen Journalistenverbands, beschwerte sich über Astel.

Im September 1969, in der Schlussphase der ersten Großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik, kommt Kiesinger zu einer Wahlkampfveranstaltung der CDU nach Saarbrücken. Auch hier wird Astel auffällig. Was vorgefallen ist, erfährt Mai durch einen Brief von Erich Voltmer, dem Stellvertretenden Chefredakteur der „Saarbrücker Zeitung“ und Vorsitzenden des SR-Rundfunkrats, der sich hier sich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Saarländischen Journalistenverbandes über den Kollegen beschwert. Demnach hat Astel von der Pressetribüne aus missbilligende Zwischenrufe getätigt und Handzettel in den Saal geworfen. Der Text auf den Zetteln: das Kiesinger-Gedicht aus dem Band „Notstand“.

Nun glaubt Mai, eine Handhabe gegen den ihm längst unheimlich gewordenen Mitarbeiter zu haben, und erteilt ihm einen „Strengen Verweis“, weil Astel gegen das Prinzip der Neutralität von Vertretern der Presse auf derartigen Veranstaltungen verstoßen habe. Astel lässt das nicht auf sich sitzen, er geht juristisch gegen die Disziplinarmaßnahme vor, Mai muss den Verweis wieder aus der Personalakte streichen. Das Feld der juristischen Auseinandersetzung, auf dem sich für eine Zeitlang die Beziehungen zwischen Astel und dem Sender bewegen sollen, ist erstmals betreten.

1970 will Astel eine Sendung mit dem Ostberliner Lyriker Paul Wiens machen. Offenbar ist Astel mittlerweile auch als Programmmacher verdächtig, denn vorsichtshalber fragt Programmdirektor Dr. Wilhelm Zilius im Vorhinein beim Intendanten an, ob gegen diese Sendung Bedenken bestünden. Mai lässt sich die Texte vorlegen und findet in seinem Antwortschreiben an Zilius vom 13. 8. 1970 Formulierungen, denen das Landesarbeitsgericht später mit verhaltener Ironie „Originalität“ und quasi literarische Qualität bescheinigen wird, so dass der Eindruck entstehe, die Weitergabe an einen größeren Personenkreis sei geradezu gewünscht worden. Mai hat unter anderem geschrieben: „Natürlich durften die Nerudas, Lumumbas und Togliattis nicht fehlen, die kleinen Heiligen kindlicher Träumer gesellschaftspolitischer Paradiese, fern der Erde, den Menschen und ihren Wirklichkeiten, aber sie sind in so viel lyrisches Chinesisch eingepackt, was natürlich Gedankentiefe gibt, weil alles Chinesisch gedankentief ist, so daß sie mir ungefährlich erscheinen.“ Er hat deshalb die Sendung im Prinzip genehmigt, bleibt aber misstrauisch und will auch die Zwischenansagen vorher vorgelegt bekommen.

Arnfrid Astel Anfang der 1970er Jahre auf dem Altstadtfest in Saarbrücken (Foto: Raymond Odermatt)
Arnfrid Astel Anfang der 1970er Jahre auf dem Altstadtfest in Saarbrücken.

Am 8. Juni 1971 tauchen Mais Formulierungen aus dem Schreiben an Zilius wörtlich in einem Artikel ihres Saarbrücker Korrespondenten Werner Deuker auf, den die „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift „Rundfunkfreiheit nur für den Herrn Intendanten?“ veröffentlicht. Nun holt Mai zum großen Schlag gegen den missliebigen Abteilungsleiter aus. Er unterstellt Astel, die Zitate weitergegeben zu haben, und spricht am 21. 6. 1971 eine sofortige fristlose Kündigung aus. Astel muss das Betriebsgelände sofort verlassen. Er klagt gegen diese Kündigung, und es folgt eine Reihe von außerordentlichen und ordentlichen Kündigungen sowie Prozessen durch alle Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht, da der SR als Verlierer immer wieder in Revision geht.

Es würde zu weit führen, dem juristischen Hickhack im Detail zu folgen. Neben dem „entscheidenden Entlassungsgrund“ (SR) der Weitergabe von Dienstgeheimnissen wird noch einmal die Sache mit der Kiesinger-Veranstaltung angeführt (für die Richter ist der Fall erledigt), und auch der Literatur-Arbeitskreis, den Astel zusammen mit dem gleichfalls einschlägig verdächtigen Hörspieldramaturgen Jochen Senf angeblich ohne Genehmigung des Arbeitgebers (die Gerichte sehen das anders) durchgeführt hat, ist ein Argument. Dazu führt der SR später vor Gericht aus: Astel habe die Erlaubnis der Gefängnisleitung „dazu missbraucht, die Gefangenen zur Kritik an den Verhältnissen, Arbeitsweisen und Arbeitsmethoden der Anstalt und am Strafvollzug schlechthin zu ermuntern“. Kritik an der Anstalt als Kündigungsgrund: Beim Wort „Anstalt“ denkt man natürlich nicht nur ans Gefängnis, sondern auch an den Sender.

Wenn man die Prozessakten von damals liest, werden die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen jener Jahre noch einmal deutlich. Diese Prozesse sind auch ein Stück Zeitgeschichte, sie spiegeln die Mentalitäten jener Jahre. Es ist die Auseinandersetzung zwischen der alten Gesellschaftsauffassung der Nachkriegszeit, deren Repräsentant Mai ist, und einem aufbrechenden neuen Geist, verkörpert von Arnfrid Astel, der seinem Geburtsjahrgang nach eigentlich gar kein richtiger „68er“ mehr ist. Die Mentalität der SR-Seite tritt umso offener zutage, als sich in den Darlegungen ihrer Vertreter immer wieder Argumente finden, die im juristischen Sinne irrelevant (von den Richtern als „unwesentlich“ oder „unbeachtlich“ oder auch „geradezu absurd“ zurückgewiesen), aber in ihrer moralischen Empörung Ausdruck einer bestimmten Gesinnung sind.

Von dem neuen Geist sind auch schon die hier involvierten Gerichte geprägt, die Astels Klage gegen die Kündigung in drei Instanzen bis hin zum Bundesarbeitsgericht Recht geben. Zu guter Letzt muss auch noch einmal das Arbeitsgericht ein Urteil fällen, in dem es um die nachgeschobene Kündigung wegen eines politischen Gedichts geht. In diesem Urteil werden wegweisende Feststellungen getroffen zur Meinungsfreiheit speziell auch von Mitgliedern des Öffentlichen Dienstes; in diesem Zusammenhang wird dem SR eine „überholte Staatsauffassung“ bescheinigt.

Urteil BAG (Foto: Faksimile einer Passage des Urteils des Bundesarbeitsgerichts vom 7. 12. 1972)
Arnfrid Astel obsiegt gegen den SR vor dem Bundesarbeitsgericht.

Nachdem der SR mit Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. 12. 1972 seine juristischen Mittel ausgeschöpft und blamable Belehrungen hat einstecken müssen und am 30. 4. 1973 auch das Urteil des Arbeitsgerichts ergangen ist, kann Astel am 7. 5. nach fast zwei Jahren juristischer Auseinandersetzungen das Betriebsgelände des SR wieder betreten und seine Arbeit aufnehmen.

Der zurückgekehrte Astel ist für viele in der Belegschaft nun ein Held, der es „dem da oben“ gegeben hat. Schon am 21. Juni 1971 hat Mai sich gezwungen gesehen, in einer Personalversammlung zum Fall Astel Stellung zu nehmen und „sich zum Teil unsachlichen und unqualifizierten Fragen zu stellen“, wie er vor Gericht empört vortragen lässt. Es kommt zu einer Demonstration vor dem Sitz des Intendanten und zur Sprengung einer Sitzung des SR-Verwaltungsrates. Zum 1. Juli 1971 wählen die Kolleginnen und Kollegen den Gekündigten in den Personalrat und geben ihm damit zusätzlichen Schutz.

Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation von SR-Angehörigen ist jene Szene am Tag von Astels erster fristloser Kündigung, als er noch einmal sein Büro betreten darf, um seine persönlichen Sachen zu packen, und dann sofort das Gelände verlassen muss; auf Anweisung des Intendanten eskortieren ihn dabei zwei Kollegen „gleich einem Häftling“, wie der SPD-Landtagsabgeordnete Rudi Brück es formuliert. Es ist der SR, der die Namen in einer Pressemitteilung („SZ“ vom 19. 7. 1971) öffentlich macht: Kulturhauptabteilungsleiter Heinz Garber und Assessor Roman Wenke, ein Jurist aus der Verwaltungsdirektion.

Zeitungsausschnitt (Foto: SR)
Ausschnitt aus der Saarbrücker Zeitung vom 18. 7. 1971.

Durch das Aufsehen, das der Fall erregt, ist Astels Name nun bundesweit bekannt. Im saarländischen Kulturbetrieb wird er zum führenden Kopf, und zwar nicht nur durch seine Funktion beim SR und durch seinen Status als Dichter, sondern kraft seiner Persönlichkeit. Zugute kommen ihm dabei sein klarer Verstand, seine große rhetorische Begabung, seine Furchtlosigkeit und seine Unbestechlichkeit. Unbestechlich ist er in jedem Sinne: materielle Vergünstigungen bedeuten ihm nichts, und sein Urteil ist von Sentimentalitäten ungetrübt. In seinem Denken ist er ein Radikaler im Öffentlichen Dienst. Mit seinem bis ins hohe Alter federnden Gang umgibt ihn die Aura immerwährender Jugendlichkeit. Jüngere Kollegen versuchen ihn bis in die Sprechweise und die Formulierungen hinein zu imitieren.

Arnfried Astel: Zwischen den Stühlen (Foto: SR/Luchterhand 1974 )
Umschlagseite des Luchterhand-Buches „Zwischen den Stühlen sitzt der Liberale auf seinem Sessel. Epigramme und Arbeitsgerichtsurteile.“
Cover: Karin Struck - Klassenliebe (Foto: Suhrkamp)
Karin Struck: „Klassenliebe“ - Umschlag

Im Frühjahr 1973, kurz vor Astels Wiederbeginn bei SR, veröffentlicht die 25-jährige Karin Struck den autobiographischen Roman „Klassenliebe“, in dem sie kaum verschlüsselt etwas aus der Biographie ihres ehemaligen Geliebten an die Öffentlichkeit zerrt, was bis dahin nur wenigen bekannt war: Arnfrid Astels Vater Karl Astel war im Dritten Reich ein bekennender Nationalsozialist und führender pseudo-wissenschaftlicher Propagandist der Rassentheorie.

In ihrem Buch schildert Struck eine erschütternde Szene: Arnfrid und seine Geschwister hören, wie die Eltern 1945 den Selbstmord des Vaters verabreden. Dass Arnfrid Astel dies ungern zum Thema gemacht hat, liegt wahrscheinlich daran, dass er seinen Antifaschismus, seine anti-autoritäre Einstellung nicht küchenpsychologisch auf einen Vater-Sohn-Konflikt reduziert sehen wollte.

Familienfoto (Foto: SR)
Arnfrid Astel als Dreijähriger im Kreis seiner Familie. Sein Vater zeigt ihm eine Muschel.

Die Aufarbeitung der deutschen Nazi-Vergangenheit war ein Thema, das Astel bewegte. Wo immer er Spuren nazistischen Denkens oder Handelns vermutete, agierte, argumentierte oder dichtete er dagegen. In dem Epigramm „Die Unschuld“ klärt er darüber auf, dass sich auch in den ahnungslos getragenen Eheringen noch Spuren des herausgebrochenen Zahngolds von den Nazis ermordeter Juden befinden könnten (Das Einsatz-Epigramm im Internet unter www.zikaden.de/gedruckt , alphabetische Suche nach „Die Unschuld“ und gedruckt in Arnfrid Astel, Notstand, 100 Gedichte, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1968). In einem Astel-Porträt des SR-Fernsehens aus Anlass der Verleihung des Gustav-Regler-Preises erklärt er dieses Epigramm.

Nachdem Astel zum SR zurückgekehrt ist, lassen seine Vorgesetzten ihn in Ruhe. Er genießt nun, wie er gelegentlich selber sagte, eine Art Narrenfreiheit. 1974 veröffentlicht er bei Luchterhand einen Band, in dem neben seinen Epigrammen die für seinen Arbeitgeber peinlichen Gerichtsurteile abgedruckt sind.

Durch seine Auftritte bei Personalversammlungen macht Astel sich auch bei einem Teil seiner Kollegen unbeliebt. Er vergleicht den Sender mit einem Vater, der zwei seiner Töchter auf den Strich schickt, um Geld zu verdienen; er zielt damit auf SR 1 und SR 3, die Werbung platzieren und – so unterstellt Astel – ihre Programme entsprechend ausrichten. Er hat eine sehr hohe moralische Auffassung vom Journalisten und erst recht vom Schriftsteller. Sie sind einzig der Wahrheit und der Erkenntnis verpflichtet. Er hält es für Verrat an der Literatur, das Schreiben zum Beruf zu machen.

Mehr zu den „Einzelheiten“ und zum Autor Rainer Petto

Im Februar 1971 lerne ich Astel persönlich kennen. Ich bin Student und habe gerade eine Zeitschrift mit literarischen und journalistischen Texten herausgegeben, deren einziger Autor ich selber bin. Bald kommen andere Autoren dazu, die „Einzelheiten“ werden politischer, befassen sich gern kritisch mit der „Saarbrücker Zeitung“ und dem „Saarländischen Rundfunk“, auch Arnfrid Astel steuert immer wieder Epigramme bei und fungiert eine Zeitlang auch als Mitherausgeber.

Wir beiden „Co-Herausgeber“ waren allerdings nicht immer einer Meinung. Eine unserer Differenzen „verewigte“ Astel in einem Epigramm. Darin stellt er fest, dass wir uns nie einig würden, solange ich die Bundesrepublik als „Polizeistaat“, er sie aber als „Bullenstaat“ bezeichnen würde (Gedicht im Internet unter www.zikaden.de, alphabetisch unter „Einzelheiten Saarbrücker Alternativpresse“, gedruckt erschienen in „Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme von Arnfrid Astel“ , Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 1978).  

Arnfrid Astel - SR 2 Edition Nr. 10 (Foto: SR)
Cover einer SR-CD zu Arnfrid Astels Autorengesprächen, zusammengestellt von Dr. Ralph Schock, Astels Nachfolger beim SR.

Ab 1987 bin ich Redakteur in der Regionalen Kultur. Heinz Garber ist inzwischen Programmdirektor, sein Nachfolger als Hauptabteilungsleiter Kultur ist Hans Jürgen Koch. Die Vorgesetzten haben es in diesen Zeiten insgesamt schwer, nicht nur mit Astel. Wöchentlich findet eine gemeinsame Programmsitzung statt. Koch sitzt an seinem neuen Schreibtisch Modell „Kooperation“, aber keiner setzt sich zu ihm, alle drängen von ihm weg, als wollten sie in die Schrankwand kriechen. Jürgen Albers liest in dem Buch, das er am Sonntag in „Fragen an den Autor“ vorstellen will, Erika Ahlbrecht-Meditz meditiert mit geschlossenen Augen, der schwerhörige Hörspielchef Werner Klippert spricht zu laut mit seinem Nachbarn, der Abteilungsleiter Franz-Josef Reichert beehrt Kochs Sitzungen grundsätzlich nicht mit seiner Gegenwart, da er als Sendeleiter ja selber Hauptabteilungsleiter ist. Und Arnfrid Astel, auch ein seltener Gast, legt statt des Protokolls der letzten Sitzung, an der er teilgenommen hat, die Parodie eines Protokolls vor, die der Vorgesetzte keinem anderen durchgehen lassen würde. Aber mit Astel will sich halt keiner anlegen.  

Astel als Meister des gesprochenen Wortes ist durch und durch ein Rundfunkmann, dabei lehnt er alle typisch funkischen Formen wie das Hörspiel oder das Feature ab. Für ihn zählt nur die einfache menschliche Rede, das Gespräch. Mit seinen Autorengesprächen habe Arnfrid Astel „Rundfunkgeschichte geschrieben und sich eingereiht in das Pantheon großer Namen, die für eine deutsche Radiokultur stehen, die längst nicht mehr existiert“, sagt der Schriftsteller Ralf Thenior; der Saarbrücker Germanist Gerhard Schmidt-Henkel spricht von „Sternstunden literarischer Kommunikation“, und für den ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt ist Astel „eines der besten Argumente für das Fortbestehen des Saarländischen Rundfunks“, denn „der Rundfunk nährte seinesgleichen, band sie ans Land, lockte so manchen Landflüchtigen zurück und brachte neue Gesichter, Charaktere und Ideen an die Saar“. Astel pflegt eine spezielle Art des Zuhörens und Fragens und ist ein strikter Anhänger der natürlichen („naturtrüben“, wie er es nennt), ungeschnittenen Wiedergabe des Gesprächsverlaufs im Radio.

In seinem eigenen literarischen Schaffen hat sich Astel fast ganz auf die Form des kurzen Gedichts, insbesondere des Epigramms konzentriert. Über den engeren Kreis der an Lyrik Interessierten hinaus wird er Ende der 1960er Jahre bekannt mit seinen viel zitierten politischen Epigrammen, vor allem dem vom Liberalen, der zwischen den Stühlen auf seinem Sessel sitze. Diese Texte setzen zwar auf Einverständnis in der Szene der Aufgeklärten, überschreiten aber nie die Grenze zum Agitprop oder zur Parteilyrik.

Arnfrid Astel, Porträt von Roland Stigulinszky. (Foto: Roland Stigulinszky)
Arnfrid Astel, Porträt von Roland Stigulinszky.

Ende der 70er Jahre tritt Astel mit überraschend spielerischen, positiv gestimmten, auf Beobachtungen zu Natur und Liebe fußenden Gedichten an die Öffentlichkeit. „Dahlien & Dortien. / Ich will nie mehr / von hier fortziehen“, heißt es in „Die Faust meines Großvaters“. Andere Texte in dem Band (wie auch in den nachfolgenden) zeigen, dass Astel damit nicht zum unpolitischen Menschen geworden ist. Wenn er sich stärker Naturthemen zuwendet, dann kehrt er damit zu seinen Anfängen zurück. Denn auch in seinen früheren Büchern haben die im engeren Sinn politischen Gedichte nie überwogen, sie sind nur in der öffentlichen Wahrnehmung nach vorn geschoben worden und haben das Image des Autors geprägt.

In den folgenden Jahren zeigt sich, wie Astels Interesse sich zunehmend der Mythologie zugewandt hat. Als Natur- und Mythenforscher auf eigene Faust, abseits des Wissenschaftsbetriebs, glaubt er, durch geduldige Beobachtung der Phänomene Entdeckungen gemacht zu haben wie die Entwicklung der Schnecke aus der Muschel. 1990, von den saarländischen Grünen zu einem Vortrag bei ihrer Landesdelegiertenkonferenz eingeladen, spricht er nicht über Politik, sondern über Pflanzen und ihre Mythen. Da er sich in seinen Texten nach wie vor dem Zwang zur kurzen Form aussetzt, geraten sie für mythologisch weniger Bewanderte zu Rätselstücken.

Sibylle Knauss (Foto: J. C. Schmidt)
Die Schriftstellerin Sibylle Knauss über Arnfrid Astel: „Er war ein Dichter.“

Sechzehn Jahre lang, vom Wintersemester 1979/80 bis zum Wintersemester 1995/96, bietet er an der Saarbrücker Uni einen Literaturkurs an, mit dem Titel: „Selber Schreiben und Reden – Einhornjagd und Grillenfang – Anfertigen und Vorzeigen kurzer literarischer Texte auf Gegenstände und angreifbare Zustände im Kopf und außerhalb.“ Daraus entsteht, was sich selber, mit zögernder Zustimmung Astels, „Saarbrücker Schule“ nennt, mit so ganz unterschiedlichen Autoren wie Klaus Behringer, Martin Bettinger, Nico Graf, Marietta Schröder, Erhard Schmied oder Wolfgang Stauch. 

Marietta Schroeder (Foto: H. Ruland)
Kam aus Astels „Saarbrücker Schule“: die Schriftstellerin Marietta Schröder.

Astel ist mehrfach Gegenstand von Literatur geworden. Katrine von Hutten hat Gedichte über ihn geschrieben, in Karin Strucks Roman „Klassenliebe“ (siehe oben) figuriert er als „Z.“, bei Angela Praesent als „Reinhard Distel“, bei Michael Buselmeier als „Hans“, in Manfred Römbells „Rotstraßenende“ als „Arved Zabel“.

1998 geht der Literaturredakteur Astel in Rente. Aber er kommt immer wieder gern auf den Halberg zurück, spricht in der Kantine mit Kolleginnen und Kollegen. Ginge es nicht um den betont unsentimentalen Astel, würde man von Anhänglichkeit sprechen. Nach den Auseinandersetzungen Anfang der 70er Jahre hatte er im Sender eine sichere Existenz und eine Plattform, auf der er in großer Freiheit seine Talente entfalten konnte. Das hat er immer anerkannt.

Posthume Verleihung der Professorenwürde  (Foto: SR)
SR-Intendant Prof. Thomas Kleist zu Arnfrid Astel bei der Trauerfeier am 13. April 2018 im SR: „Der SR ist stolz auf Dich, Arnfrid.“

Den Schriftsteller Arnfrid Astel hat die Stadt Saarbrücken schon 1980 mit ihrem Kunstpreis geehrt. Es folgte 20 Jahres später der Kunstpreis des Landes und 2011 der Gustav-Regler-Preis der Kreisstadt Merzig. Am 13. April 2018 wollte die Landesregierung ihm im Konferenzgebäude des Saarländischen Rundfunks den Professoren-Titel verleihen, der Termin war mit ihm abgesprochen. Am 12. März 2018 ist Arnfrid Astel überraschend gestorben, der Termin auf dem Halberg wurde zur Trauerfeier mit Ansprachen von Kultusminister Ulrich Commerçon, des SR-Intendanten Prof. Thomas Kleist und der Schriftstellerin Sibylle Knauss. Sibylle Knauss fasst Astels Wesen mit einem einzigen Begriff zusammen: Er war ein Dichter. (Auszüge aus der Rede von Sibylle Knauss unter https://literaturland-saar.de/news/neu-ein-dichter-wie-kein-anderer-sibylle-knauss-wuerdigt-arnfrid-astel/) 

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Eva Röder (Gestaltung/Layout), Roland Schmitt (Bilder/Recherche); Mitarbeit: Jutta Grünewald, SR-Fernseharchiv (Videos und Standbilder), Gabriele Oberhauser und Elionore Steimer (SR-Bibliothek).

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