Bei Manfred Sexauer, da sind sie sich alle Printmedien einig: Egal ob überregional wie SPIEGEL oder Focus, stern oder BILD, FAZ oder Süddeutsche oder große Regionalzeitungen von der Augsburger Allgemeinen über die Saarbrücker Zeitung bis zum Weserkurier – sie würdigten den am 21. Juli 2014 gestorbenen Radio- und Fernsehmoderator des Saarländischen Rundfunks übereinstimmend als einen Pionier der Pop-Musik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Von Dr. Michael Beckert
„Manfred Sexauer hat Radiogeschichte geschrieben.“ Auch diese Formulierung ist in fast allen Texten zu finden. Meistens noch ergänzt durch den kleinen Zusatz: „Mit Hallo Twen“.
Es verwundert deshalb nicht, wenn sich die meisten Nachrufe auf den beliebtesten Moderator des SR gleichzeitig auch wie Nachrufe auf eine Sendung lesen, die immerhin bereits vor mehr als 40 Jahren wieder eingestellt wurde. In der Erinnerung der Autoren wird der 4. Oktober 1965 – der Tag, an dem Hallo Twen zum ersten Mal auf Sendung ging – zu einer Art Initialzündung für Musikprogramme, für die sich auch junge Radiohörer begeistern konnten. Und für den Beginn des Einzugs der Popmusik ins bundesdeutsche Radio.
Am anschaulichsten hat diesen Anfang vielleicht Hans Hoff, Medienkritiker der „Süddeutschen Zeitung“, beschrieben: „Wenn man die Bedeutung einkreisen möchte, die Manfred Sexauer für das deutsche Radio hatte, dann muss man erst einmal vom Mangel reden. Wer als junger Mensch Mitte der Sechzigerjahre das deutsche Radio einschaltete, landete fast nur in gediegenen Gefilden. Es dominierten Orchester und angepasste Einzelinterpreten. Ein bisschen Jazz war das Äußerste, was Intendanten damals zuließen. Wer die Beatles oder die Stones wollte, bekam nichts auf die Ohren. Glücklich konnte sich da schätzen, wer den Saarländischen Rundfunk empfing. In Saarbrücken moderierte Sexauer eine Sendung namens Hallo Twen, die über Mittelwelle bundesweite Beliebtheit erlangte. Der gebürtige Baden-Badener, der damals die Haare ein bisschen länger zu tragen wagte, als es schicklich war, hatte jene Songs im Angebot, die Eltern Schrecken einjagten und jungen Menschen Begeisterungsschreie entlockten.“
Ehemalige Redakteure in der Unterhaltungsabteilung im SR-Hörfunk wie Rosemarie Jungk oder Gerd Arend können das musikalische Angebot der Europawelle Saar (so hieß das neue Mittelwellen-Programm des SR zunächst, als es am 2. Januar 1964 auf Sendung ging) etwas präziser beschreiben als Hans Hoff: Von Klassik und deutschem Schlager über Chansons bis hin zu Tanzorchester- und Akkordeonmusik war praktisch jede Musikfarbe mit eigenen Sendungen vertreten. Bis Unterhaltungschef A. C. Weiland seine Mitarbeiter aufforderte, eine Musiksendung für junge Leute zu entwickeln. Wer letztlich die Idee zu Hallo Twen hatte, weiß heute niemand mehr ganz genau. Dennoch ist davon auszugehen, dass es Manfred Sexauer selbst war, der die Sendung ja dann auch von Anfang an moderierte und die Single-Scheiben zum Teil noch selbst von zuhause mit ins Studio brachte.
Auch nach dem Start von Hallo Twen änderte sich am Musikprogramm der Europawelle im Grundsatz zunächst einmal nichts. Mit dem Beat war nur das musikalische Spektrum (zu dem auch viele reine Instrumentaltitel gehörten) mit einer eigenen Sendung erweitert worden. Deutsche Schlager machten weiterhin die musikalische Grundfarbe aus. Dieter Thomas Heck war ihr besonders prominenter und erfolgreicher Moderator (DJ wie es damals hieß) auf der Europawelle – und damit der musikalische Gegenpol zu Sexauer. Die Schlager aber hatten mit der Pop-Musik eine ernsthafte Konkurrenz bekommen – eine Konkurrenz, die beflügelt vom Hallo-Twen-Erfolg nach und nach das gesamte Programm eroberte. Der Saarländische Rundfunk wurde damit zum Vorreiter einer Entwicklung, die sich später bei vielen Radioprogrammen in der Bundesrepublik ähnlich vollzog.
Roland Schmitt, Leiter der SR-Bibliothek und kenntnisreicher Archivar der Sender-Geschichte weiß darüber mehr zu erzählen. In seinem Nachruf für das Musik-Magazin „Good Times“ schreibt er u .a.: „Neben der Charts-Ausgabe am Freitag war der Mittwoch der wichtigste Sendetag. Da stellte Sexauer die aktuellsten Scheiben vor, insbesondere aus dem United Kingdom. Ein in London studierender Deutscher sorgte per Expresslieferung für stetigen Nachschub. Damals einmalig innerhalb der ARD!“
Aber es gab auch weniger erfreuliche Begleitumstände. Dem saarländischen Wochenmagazin Forum erzählte Manfred Sexauer ein halbes Jahr vor seinem Tod: „Es gab einen ,Spiegel‘-Artikel über die ,Amerikanisierung der Musik‘ im deutschen Radio. Ein Leser schrieb dazu, wenn man sich darüber informieren wolle, dann müsse man sich nur mal die Sendung ,Hallo Twen‘ im SR anhören. Da treibe ein gewisser Manfred Sexauer sein Unwesen. Das sorgte bei den leitenden Herren natürlich für Stirnrunzeln. Der damalige SR-Intendant Dr. Franz Mai ließ nachforschen, ob es denn auch positive Briefe für die Sendung gäbe. Wir haben ihm wirklich einen Waschkorb voll ins Büro geschickt, und als die Briefe an uns zurückkamen, stand auf dem obersten der Vermerk: Wenn das so ist, dann weiter so.“
Dem Gegenwind, der Hallo Twen anfänglich in Form von Hörerpost und Beschwerde-Anrufen in nicht unerheblicher Stärke entgegen blies, hielten Intendant und Programmdirektor damals stand. Dazu noch einmal Roland Schmitt: „Zu Anfang moderierte Sexauer testweise die Radiosendung ‚Der Schlagerkoffer‘. Die Programmverantwortlichen wollten aber – mit Blick auf die harte Konkurrenz aus Luxemburg – gezielt ‚junge Leute‘ ansprechen, und so entwickelte der Newcomer ein werktägliches Programm mit ‚Beat-Musik‘. Die Reaktionen auf Hallo Twen waren gemischt, wie Berge an Hörerpost belegten: einerseits schroffe Ablehnung seitens der (Groß-)Elterngeneration, die mit dieser ‚Negermusik‘ nichts anfangen konnte, andrerseits helle Begeisterung bei den Kids, demnach die Sendung eigentlich Hallo Teens hätte heißen müssen. Der konservative Intendant hielt schützend die Hand über Sexauer, in Anbetracht des Erfolges kein Wunder. Die Europawelle galt als stärkster Rundfunksender der Bundesrepublik Deutschland mit einer seinem Namen alle Ehre machenden Reichweite.“
Die Akzeptanz von Hallo Twen war in der Tat sensationell – nicht nur bei den Hörern in ganz Europa, sondern auch bei den Künstlern, insbesondere bei deutschen Bands diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Roland Schmitt: „Schon bald gaben sich die Stars bei Sexauer die Klinke in die Hand. Freundschaftliche Kontakte entwickelten sich nicht nur zu den deutschen Bands wie den Lords oder den Rattles, später auch zu Karat und den Puhdys.“ Kontakte, die Jahrzehnte über das Ende von Hallo Twen hinaus noch Bestand hatten. So überreichte „Sexi“, wie ihn seine Freunde gerne nannten, noch im Sommer 2003 in Bremen bei der letzten Verleihung der „Goldenen Europa“, die er zwischen 1984 und 1991 moderierte, den ältesten deutschen Fernsehpreis an die Puhdys.
Überhaupt: die DDR. Die Hörer dort waren „für dieses Fenster in den freien Westen überaus dankbar“ (Roland Schmitt). Und wie ernst diese Sendung sogar von der Staatssicherheit genommen wurde, zeigte sich zuletzt in der abenteuerlichen Odyssee einer Postkarte, die 1969 im mecklenburgischen Waren an der Müritz abgeschickt wurde und 2013 in Saarbrücken ankam. Damals wollte sich der 18-jährige Oberschüler Günter Zettl an einem Preisausschreiben von Hallo Twen beteiligen. Die Postkarte mit der richtigen Antwort wurde von der Stasi abgefangen, ihr Absender erhielt später als Lehrer Berufsverbot. Am 14. Januar 2014 dann das Happy End: Zum 50. Geburtstag der Europawelle trifft Günter Zettl im Weltkulturerbe Völklingen sein Idol von einst – der letzte große öffentliche Auftritt von Manfred Sexauer.
Die Sendung Hallo Twen wurde Opfer ihres eigenen Erfolges. Schon 1973 wurde sie im Rahmen einer Programmreform gestrichen. Ihre spezielle Musik war zur Musikfarbe im gesamten Europawellen-Programm geworden. Erstaunlich aber: Ein Radioprogramm, das nur sieben Jahre auf Sendung war, erfreut sich mehr als 40 Jahre nach seiner Absetzung immer noch größter Beliebtheit. Ein weiterer Beweis dafür ist die folgende Entdeckung, die ich im Internet gemacht habe. Da berichtet Horst Maibach aus dem rheinland-pfälzischen Kruft, der sich seit seinem 9. Lebensjahr für die Chart-Listen von Radio-Hitparaden interessiert, auf seiner Chart-Webseite folgendes:
„Am 4. Oktober 1965 startete die erste Hallo-Twen-Sendung mit Manfred Sexauer als Moderator, exakt um 18:05 Uhr nach den Nachrichten, beim Saarländischen Rundfunk auf der Europawelle Saar. Bis 1973 sollte die Sendung ausgestrahlt werden. Die Hallo Twen ,Top Twelve‘ gab es bis Ende 1966 am Montagabend, ab 1967 immer freitagabends. Paul Breitbach aus Polch war einer der engagiertesten Hörer. Ab der Hitparade 53 am 10. Oktober 1966 schrieb er alle Charts fein säuberlich mit und es ist ihm zu verdanken, dass ich diese Charts jetzt Folge für Folge, mit dem entsprechenden Cover garniert, servieren kann.
Nachdem Ende 2008 die ersten Hallo Twen Charts ab SR 53 auf dieser Webseite veröffentlicht wurden, erreichten mich zahlreiche Anfragen mit der Bitte, die ersten 52 Charts (die ich leider nicht besaß) nachzureichen. Alle hörten damals zu, schrieben oftmals mit, aber keiner hatte Unterlagen.
Im Sommer 2012 kam dann die Wende. Heinz Hoffmann, Exilsaarländer, jetzt wohnhaft nahe Karlsruhe, gelang der Clou. Er schreibt dazu: ‚Über einen privaten Kanal konnte ich Verbindung zur Redaktion des SR herstellen. Dort schaut Herr Sexauer gelegentlich vorbei und wurde gefragt, ob er ggf. solche alte Listen noch hätte, denn der Sender hat das alles schon lange weggeworfen, wie ich erfuhr. Ja, das hatte er und zwar einen Kalender, den ihm ein Fan mal geschenkt hatte mit eben diesen Einträgen. Der Kalender wurde prompt ausgeliehen, alles wurde fein säuberlich gescannt, dann ging das Original wieder an MS zurück.‘ Unser besonderer Dank geht damit auch an Manfred Sexauer.“
Geschichten wie diese sind es, die Hallo Twen nach wie vor am Leben erhalten. Eine Sendung, die der Türöffner für weitere Radio-Formate im öffentlich-rechtlichen Rundfunk war. Ohne sie gäbe es womöglich den ebenso legendären und heute noch von den Machern gehegten und gepflegten Pop Shop von SWR 3 nicht, der am 1. Januar 1970 erstmals vom damaligen Südwestfunk Baden-Baden ausgestrahlt wurde.
So unbestritten die Bedeutung von Hallo Twen für die Hörgewohnheiten junger Radiohörer ist, so wahr ist auch, dass es solche Formate im Zeitalter computergestützter Musikprogramme immer schwerer haben. Hans Hoff lässt in seinem lesenswerten Nachruf Manfred Sexauer noch einmal zu Wort kommen: „Damals waren wir uns sicher, dass unsere Musik die Welt ein wenig schneller drehen lässt.“ Und schließt kommentierend an: „Es klang ein klein wenig resigniert, weil ihm wohl schon klar war, dass die Welt inzwischen eine Fahrt aufgenommen hat, die es seiner Musik schwer macht, noch mitzukommen.“
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Gerd Arend, Michael Fürsattel, Rosemarie Jungk, Barbara Meisberger, Sven Müller, Eva Röder, A.C. Weiland, Roland Schmitt