Günter Zettl (Foto: SR)

Einmal Stasi und zurück – SR-Hörerpost auf Abwegen

 

Am 2. Januar 1964 ging die „Europawelle Saar“ zum ersten Mal auf Sendung – und veränderte die deutsche Radiolandschaft. „Immer mehr hören immer lieber Europawelle Saar“, verkündete der Sender damals bald stolz. Und teils von weither schickten die Hörer „ihrer Europawelle“ reichlich Post – was zu Zeiten des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West durchaus nicht überall geschätzt wurde.

Von Axel Buchholz

Die Anschrift war richtig und sauber geschrieben. Die Briefmarke stimmte. Auch die Post machte keinen Fehler. Und trotzdem brauchte eine Postkarte fast ein halbes Jahrhundert bis sie bei der Europawelle Saar des Saarländischen Rundfunks ankam. In Waren an der Müritz war sie 1969 abgeschickt worden. Gegen Ende 2013 erreichte sie schließlich doch noch ihren Bestimmungsort. Ihren Zweck allerdings verfehlte sie: Die darauf vermerkte Lösung für das „Hallo Twen-Preisrätsel“ kam zu spät. Die Preise waren längst verlost. Und selbst diese Kult-Sendung gibt es schon seit vierzig Jahren nicht mehr. Dafür ist die Postkarte zu einem kleinen Dokument der deutsch-deutschen Geschichte geworden. 

Plattencover des Songs Painterman der Band Creation. (Foto: SR)
Aus dem SR-Archiv: das Cover der Single "Painterman" der Band Creation.

Alles fing ganz harmlos an. Der Schüler Günter Zettl, damals 18 Jahre alt und kurz vor dem Abitur, hörte gern die Sendung „Hallo Twen“ mit Manfred Sexauer. Da wurde öfter mal die englische Beat-Band „The Creation“ gespielt, eine seiner Lieblingsgruppen. Für ihn war’s deshalb ein Kinderspiel, im Musikrätsel den Titel „Painter Man“ zu erkennen. Also schrieb er die Lösung auf, warf sie in Waren an der Müritz im DDR-Bezirk Neubrandenburg in den Briefkasten. Seinen Namen hört er bei „Hallo Twen“ aber nicht, als Sexauer später die Gewinner verkündete. „Pech gehabt“, dachte er und vergaß die Sache. Dass seine Postkarte es gar nicht bis zur Europawelle geschafft haben könnte, das kam Günter Zettl nicht in den Sinn: „Im Traum hätte ich nicht daran gedacht, dass sogar das Ministerium für Staatssicherheit sich mit so banalen Sachen wie mit meiner Postkarte befassen könnte.“ Seit ein paar Monaten weiß er es besser. Aber bis dahin sollten 44 Jahre vergehen.

Günter Zettl als Pionier. (Foto: G. Zettl)
Günter Zettl trug die FDJ-Tracht nur ungern.

Die „Europawelle Saar“' war beliebt damals bei Günter Zettl und so manchem seiner Mitschüler in der Abiturklasse der „Erweiterten Oberschule Richard Wossidlo“. „Ich hatte ein eigenes 60er-Jahre-DDR-Röhrenradio von RFT mit ,Magischem Auge‘. Der Empfang über Mittelwelle war damit gut“, erzählt er. „Vor allem ist es uns Schülern um die Pop-Musik in ,Hallo Twen‘ gegangen.“ Aber auch die Nachrichten hörte er. Dass die ,Westmedien‘ offiziell verpönt waren, kümmerte die Jugendlichen kaum. „Auch mein Vater hat das nicht gern gesehen und mich deshalb öfter zur Rede gestellt“, erinnert sich Zettl noch genau. Seit dessen Jugend im Arbeitersportverein sei der „ein treuer Sozialist alten Schlages“ und nach dem Krieg dann Mitglied in der SED gewesen. Darum gefiel es ihm auch gar nicht, dass sein Sohn Günter das Blauhemd der FDJ nur recht selten – die Haare dafür aber lang trug. „Wie die Beatles halt.“ Ein Regimegegner sei er damals trotzdem nicht gewesen, meint Zettl. Allerdings ein bisschen aufmüpfig und „kein so’n Schisser“.

Postkarte von Günter Zettl an die Europawelle (Foto: G. Zettl/SR)
Hörerpost landete bei der Stasi staat bei SR 1.

Zettls zweiter Eintrag in seiner Stasi-Akte stammte ebenfalls aus dem Abiturjahr. „Und hatte auch mit Politik nichts zu tun“, erzählt er. Mit einem Kumpel war er da abends in Waren unterwegs gewesen. Eigentlich nur „auf ein Bier“. Ein paar mehr sind es dann aber doch geworden bis zum Heimweg. Und die seien auch schuld gewesen an einem übermütigen Wettspringen nach einer DDR-Fahne. Ein Volkpolizist witterte dahinter jedoch oppositionelles Treiben. Nach einigen Stunden Verhör machte die Stasi den beiden Schülern schließlich ein Angebot. Sie sollten ihre Loyalität zur DDR beweisen und zukünftig darüber berichten, was ihre Mitschüler und Freunde so denken, treiben und im Radio hörten. Das lag möglicherweise auch daran, dass einige von denen – auch Zettl selbst – unter dem Hemdkragen manchmal Spritzenkanülen trugen. „Wir lassen uns den Sozialismus nicht einimpfen“, sollte das besagen.

Wurde zum Kult: Manfred Sexauer mit seiner Pop-Sendung „Hallo Twen“ (1965 – 1973, montags – freitags, 18.00 – 19.00 Uhr auf der Europawelle Saar).

Zum vorgeschlagenen Stasi-Treff ging Günter Zettl einfach nicht. Sogar sein Vater als überzeugter Genosse hatte ihn darin bestärkt: „Junge, das machst Du nicht.“ Die Stasi meldete sich nicht wieder. Aber „Horch und Guck“ behielt ihn dennoch im Visier. Auf rund 60 Seiten kann Zettl nun nachlesen, was Informelle Mitarbeiter (IMs) akribisch über seinen weiteren DDR-Werdegang zusammengetragen haben: Ausbildung zum KFZ-Handwerker, Schwimmmeister-Prüfung, schließlich Lehramtsstudium und Schuldienst als Deutsch- und Französisch-Lehrer in Halle an der Saale. Da war nach und nach aus dem aufmüpfigen Jugendlichen erst ein renitenter Student und dann ein überzeugter Regimegegner geworden: „Der Unterricht sollte so parteipolitisch geprägt sein, dass ich es fast nicht mehr ertragen habe.“

Bei der Volkskammerwahl 1976 ging Günter Zettl „einfach nicht wählen“. Alles andere als „einfach“ sollte es danach allerdings für ihn werden. Nach dem Wahlsonntag ging es Schlag auf Schlag: Am Montag nach der zweiten Unterrichtsstunde vorläufige Beurlaubung. Am Dienstag Einbestellung zur Rechtfertigung: er auf einem Stuhl in der Mitte, in U-Form an Tischen um ihn herum die Schulleitung, Schulrat, Schul-Parteisekretär und Stasi-Leute. Kein Wort von seiner Wahlverweigerung. Stattdessen der Vorwurf: Verstoß gegen §1 der Sozialistischen Bildungsordnung, der vorschrieb, die Jugend im Sinne des Sozialismus zu erziehen. Seine Erwiderung: „Ich kann den Schülern doch nicht erzählen, dass der Himmel grün ist, wenn alle sehen, dass er blau ist“. Ergebnis: die sofortige Entlassung aus dem Schuldienst.

Stasiunterlagen. (Foto: SR)
Auszüge aus Günter Zettls Stasi-Unterlagen (Teil 1).

Stasiunterlagen. (Foto: SR)
Auszüge aus Günter Zettls Stasi-Unterlagen (Teil 2).

Anschließend folgte monatelange Arbeitslosigkeit ohne jede finanzielle Unterstützung. „Wer aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen worden war, der wurde nirgendwo eingestellt“, musste er immer wieder erfahren. Dafür sorgte die teilweise geheime „Kaderakte“, die jeden DDR-Arbeitnehmer von Arbeitgeber zu Arbeitgeber durch das Berufsleben begleitete. Schließlich wurde die Diakonissenanstalt der Evangelischen Kirche zu Günter Zettls Rettung. In dem Krankenhaus bekam der Lehrer eine Hausmeisterstelle. Aus seiner politischen Überzeugung machte Zettl da längst kein Hehl mehr. Und sich nicht mehr vor, dass er in der DDR etwas ändern und selbst dort noch eine Zukunft haben könnte. Seine Ausreise in die „BRD“ wurde 1983 genehmigt. Sechs Jahre nach dem ersten Antrag.

„Ich will nach vorn schauen und nicht zurück“, nahm er sich damals vor für sein neues Leben in Frankreich, in der Bundesrepublik und in Spanien. Erst nach 27 Jahren entschloss er sich, bei der Stasiunterlagenbehörde in Halle an der Saale Einsicht in seine Akten zu beantragen. Und obwohl Günter Zettl nichts Gutes erwartet hatte, war er doch von vielem überrascht. Der lockere Kellner Klaus in seiner Studenten-Stammkneipe hatte ihn bespitzelt – als einer von mehreren IMs.

Jedes seiner „heimlichen“ Treffen mit Verwandten oder Freunden später auf der Transit-Autobahn zwischen der Bundesrepublik und Westberlin war genau beobachtet worden und selbst alle seine Wohnsitzwechsel  in der Bundesrepublik wurden bis 1989 sorgfältig registriert.

Am meisten verblüfft allerdings war Günter Zettl über seine kleine Postkarte an die Europawelle Saar von 1969: von ihm längst vergessen – von der Stasi war sie sogar im Original archiviert worden. Er schickte sie der Europawelle Saar mit einem kleinen Kommentar: „Was für ein Land, diese heute oftmals verklärte DDR.“ 
In einem Interview auf SR 1 Europawelle erzählte Günter Zettl 2013 die Geschichte seiner Postkarte. Auch die Deutsche Presseagentur berichtete darüber. Zeitungen in ganz Deutschland und in aller Welt brachten daraufhin die Geschichte der Postkarte auf Abwegen in Zeiten des Kalten Krieges.

Manfred Sexauer suchte daraufhin in seinem Privatarchiv nach dem Titel „Painter Man“, der längst nur noch als Sammlerstück zu haben ist.  Und Günter Zettl wurde vom Saarländischen Rundfunk zum 50. Geburtstag der Europawelle Saar ins Saarland eingeladen. Als Gast bei der Feier in der Gebläsehalle des Weltkulturerbes Alte Völklinger Hütte bekam er als „Trostpreis“ dann die Schallplatte geschenkt – mit einer Widmung von Manfred dazu.

50 Jahre Europawelle: Günter Zettl und Manfred Sexauer (Foto: SR)
50 Jahre Europawelle Ex-DDR-Hörer Günter Zettl erhält von Manfred Sexauer die Platte 'Painter Man', die er 1969 nicht gewinnen konnte, weil die Stasi seine Postkarte abgefangen hat.

Aber das Schönste für Günter Zettl war, „den Manfred“ nach so vielen Jahren endlich sogar persönlich kennen zu lernen. Die Tränen in den Augen verrieten es, als sich beide am 14. Januar 2014 auf der Bühne in den Armen lagen. Nur wenige wussten, wie schwer Manfred da schon krank war. Es wurde sein letzter öffentlicher Auftritt. Manfred Sexauer starb am 20. Juli desselben Jahres.

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Stefan Berger, Roland Helm, Eva Röder (Gestaltung/Layout) und Roland Schmitt (Recherche/Archiv)

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