Symbolbild: Stasi und der SR – Historische Aufnahme des Funkturms auf dem Halberg und ein vermeintlicher Spion mit Kamera in einem Spiegel (Foto: Heisler, Gerhard / BArch MfS HA VI Fo 1052 Bild 17)

Wie die DDR-Staatssicherheit den SR ausforschte (Teil 3/4)

Die Themen-Top drei der Stasi: Sendungen zum „Prager Frühling“, Hörerpost und Infos aus der SR-Spitze

 

Von Axel Buchholz*

Es fing alles ganz harmlos an – wie es schien. Anfang 1968 bekam eine Saarbrücker Sprecherzieherin den Auftrag, ein Manuskript für eine Ratesendung des Saarländischen Rundfunks zu schreiben. Ende des Jahres waren „Hanna“ und ihr Mann „Hans“ (Decknamen**) gut auf dem Weg, zu den beiden gefährlichsten Stasi-Spionen zu werden, die es im „Kalten Krieg“ beim SR gegeben hat. Zuvor war der Saarländische Rundfunk acht Jahre lang für die beiden inoffiziellen Mitarbeiter (IM) im Saarland allenfalls ein Nebenthema gewesen. Sie bereiteten vor allem Partisanenaktionen für den Krisenfall vor und kundschafteten z. B. Militäreinrichtungen oder Energieunternehmen aus. Erst 1968 wurde der SR ihr Hauptzielobjekt.

Um an den Großteil ihrer Informationen zu kommen, schöpften sie zwei Kontaktpersonen ab. Über welche davon sie was ausspionierten, ist teilweise den „Treffberichten“ mit ihrem Stasi-Führungsoffizier zu entnehmen. Anderenteils erschließt es sich aus deren Arbeitsgebieten im SR. Im Prinzip lässt sich das von dem Spionage-Ehepaar Ausgeforschte in drei große Blöcke einteilen. Beim zeitlich ersten, dem Jugendfunk, galt ihr Interesse den beiden Sendungen zum "Prager Frühling" vom 7. April und dem 28. Juli 1968 sowie deren Vorbereitung.

„Junge Leute – heute“ vom 07. April 1968
Audio [SR.de, (c) SR, 29.06.2023, Länge: 01:32 Min.]
„Junge Leute – heute“ vom 07. April 1968
Ausschnitt aus der Jugendfunksendung „Junge Leute – heute“ zum „Prager Frühling“ vom 07. April 1968.

Als "Prager Frühling" wurde im Westen eine politische Tauwetterperiode in der Tschechoslowakei bezeichnet. Sie entstand durch eine „Reform von oben“, in der die Kommunistische Partei der ČSSR unter Führung von Alexander Dubček eine gewisse Liberalisierung und Demokratisierung einzuführen versuchte. Dieser angestrebte „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ stieß in der Bevölkerung auf breite Zustimmung und Unterstützung. Das sorgte für eine zunehmende Eigendynamik der Reform – gleichzeitig aber auch für heftigen Widerstand der Führungsmacht UDSSR und der anderen „Hardliner“-Staaten im Warschauer Pakt (dem kommunistischen Gegenstück zur Nato).

Die vorübergehende Liberalisierung machte es möglich, dass an den beiden Jugendfunksendungen sogar Kollegen des deutschsprachigen Programms des tschechoslowakischen staatlichen Senders teilnehmen konnten. Sie erläuterten in einer Konferenzschaltung ihre Vorstellungen von einem reformierten Kommunismus und beantworteten ebenfalls live die telefonischen Fragen von Europawellen-Hörern dazu. Und das in einer Sendung der Europawelle Saar, die außer in der DDR auch in der Tschechoslowakei und in anderen Ostblockländern zu empfangen war! 

Ein Panzer der Sowjetunion vor dem Rundfunkgebäude in Prag (Foto: picture alliance / dpa)
Ein Panzer der Sowjetunion vor dem Rundfunkgebäude in Prag

Die Warschauer Pakt-Staaten wollten in ihren Ländern diese politische Frühlingsluft aus der ČSSR nicht wehen lassen. Vor allem galt das auch für die DDR, die sich vor der Konterrevolution dort fürchtete. Ihre Machthaber schätzten die Entwicklung in der ČSSR als auch für sie bedrohlich ein. Womöglich könnte der Freiheitsfunke von einem Warschauer Pakt-Staat in einen anderen überspringen. Schließlich hatte es am 17. Juni 1953 in ihrem eigenen Land und im Oktober/November 1956 auch in Ungarn Volksaufstände gegeben, die die kommunistischen Regierungen nur mit Hilfe sowjetischer Panzer gewaltsam beenden konnten. Deshalb verschwiegen oder verfälschten die DDR-Medien, was in ihrem „Bruderland“ Tschechoslowakei geschah.

Ab April 1968 hatte die DDR nach Kräften damit begonnen, das Programm des deutschsprachigen Prager Rundfunks zu stören.[1] Dass sich ihre Bürger nun über die Vorgänge in der ČSSR auch über die Europawelle Saar mit Hilfe des offiziellen Prager Rundfunks informieren konnten, hat den DDR-Funktionären also mit Sicherheit nicht gefallen.
Nur folgerichtig ist es deshalb, dass sich die Stasi sehr dafür interessierte, wie die Europawellen-Sendungen  zustande kamen, wie sie technisch abliefen und wer was darin gesagt hatte. Das Spionage-Pärchen aus Saarbrücken lieferte die Informationen detailliert und ziemlich korrekt.[2]

Ein Auszug aus dem Stasiprotokoll: Namen, Adressen, Bankverbindungen – alles war für die Stasi-Ausforschung der „Konterrevolutionäre“ in der ČSSR wichtig. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Die IM übermittelten der Stasi zusätzlich zu den Namen der beteiligten tschechoslowakischen Journalisten auch deren Adressen und Bankverbindungen – und das, obwohl weder „Hans“ noch „Hanna“ selbst mit diesen Sendungen zu tun hatten.[3]

Als die beiden Jugendfunksendungen im Frühling und Sommer 1968 ausgestrahlt wurden, übte die Sowjetunion bereits Druck auf die ČSSR aus, ihren Liberalisierungskurs aufzugeben. Schon ab Mitte 1968 begann der DDR-Staatssicherheitsdienst laut dem Grazer Wissenschaftler Professor Stefan Kramer damit, über die wichtigsten Verfechter des liberalen Kurses Dossiers anzulegen: „Sie dienten nach der Invasion als Basis für Säuberungen im Kaderapparat der KPC [Kommunistischen Partei der ČSSR]. [4]
Eine halbe Million Soldaten aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien sorgte schließlich gewaltsam dafür, dass der Traum dieser gewaltfreien Liberalisierung des kommunistischen Systems ausgeträumt war. Die DDR schickte zwar keine Soldaten, hatte sich aber politisch energisch für die Militär-Intervention der Staaten des Warschauer-Paktes eingesetzt.

František Černý (Foto: Imago/Gerhard Leber)
Der Journalist František Černý berichtete während des „Prager Frühlings“ öfter für das aktuelle Abendmagazin "Zwischen heute und morgen" der Europawelle Saar aus der Tschechoslowakei. Er nahm auch an der Jugendfunksendung vom 28.07.1968 teil.

Für die tschechoslowakischen Rundfunkkollegen, die an den Jugendfunk-Sendungen mitwirkten, war das Programmformat ungewohnt – noch dazu in dieser Krisenzeit. Livesendungen mit Hörerfragen zu einem politischen Thema kannten sie von ihrem Heimatsender nicht. Deshalb waren zur Vorbesprechung beider Prag-Sendungen Dr. Vilem Fuchs, Bonner Korrespondent des Prager Rundfunks, und der Politik-Redakteur Milan Weiner nach Saarbrücken gekommen.[5] Der SR hätte für sie ein „Essen gegeben“, übertrieben die Spione im Bericht an ihren Führungsoffizier. Es war schlicht  ein gemeinsames Mittagessen.

Zu den Sendungen wurden dann insgesamt eine Prager Rundfunkkollegin und vier Kollegen per Rundfunkleitung zugeschaltet und von mir interviewt. Einer von ihnen war František Černý – ein besonders engagierter journalistischer Verfechter eines liberalen und humanen Sozialismus. Er bekam nach dem Scheitern dieser Idee Berufsverbot und verlor seine Stelle beim Rundfunk. Nachdem schließlich 1989 in der ČSSR dann sogar mit der „Samtenen Revolution“ eine viel weitergehende demokratische Wende gelungen war, trat Černý in den Auswärtigen Dienst seines Landes ein und wurde später der Botschafter Tschechiens in Deutschland. Dass er damals über die Europawelle Saar frei seine Meinung sagen und damit auch Hörer in seinem Heimatland erreichen konnte, vergaß er dem SR nie. Immer wieder mal bestellte Černý mir über Dr. Klaus Rost, dem Chefredakteur der „Märkischen Allgemeinen“, Grüße aus Berlin nach Saarbrücken.

Die beiden IM forschten zum Prager Frühling neben dem Jugendfunk auch die aktuelle Prag-Berichterstattung in den Nachrichten gründlich aus. Sie schilderten ebenfalls detailliert, wie die zusätzlich eingeführten Nachrichten in tschechischer Sprache zustande gekommen waren, wann sie wie lange liefen und wie der Nachrichtensprecher in tschechischer Sprache dafür ausgewählt wurde. Auch die zeitweise Mithilfe von Amateurfunkern bei der Prag-Berichterstattung beschrieben sie ausführlich in ihrem Bericht unter der Überschrift „Die Haltung des Saarländischen Rundfunks und einiger seiner Mitarbeiter zu den Ereignissen in der ČSSR am 21.8.1968.“[6] Erwähnt wird auch, dass sie eine gesonderte „Telefonanrufzusammenstellung“ angefertigt haben, die aber dem Treff-Protokoll nicht beigefügt ist.
Beide IM waren an der Prag-Berichterstattung in den Nachrichten wie auch im Jugendfunk in keiner Weise selbst beteiligt. Sie haben die Informationen bei ihren Kontaktpersonen abgeschöpft.

„Junge Leute – heute“ vom 28. Juli 1968
Audio [SR.de, (c) SR, 29.06.2023, Länge: 03:56 Min.]
„Junge Leute – heute“ vom 28. Juli 1968
Ausschnitt aus der Jugendfunksendung „Junge Leute – heute“ zum „Prager Frühling“ vom 28. Juli 1968.

Wegen dieser besonders umfangreichen und intensiven Ausforschung der SR-Berichterstattung zu den Ereignissen des Prager Frühlings kommt Dr. Jochen Staadt, der Projektleiter des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin (FU), in einem Interview mit dem SR 2004 zu der Feststellung, es hänge unmittelbar mit der ČSSR-Geschichte [Prager Frühling] zusammen, dass der SR ins Visier der Stasi geraten sei.[7]

Originalton von Dr. Jochen Staadt im Fundstück:

Tatsächlich begann ja die Stasi, wie dargelegt,  im Frühling 1968 damit, ihre geheimdienstlichen Aktivitäten gegen den Reformversuch im kommunistischen „Bruderland“ zu verstärken. Da passte es gut, dass IM „Hanna“ einige Monate zuvor (also noch vor der heißen Phase des „Prager Frühlings“) der erste Kontakt zu SR-Mitarbeitern gelungen war. Die daraus entstandenen Spionagemöglichkeiten nutzten sie und „Hans“ nun intensiv. 

Von besonderem Interesse war für die Stasi auch die Hörerpost, die die Europawelle des SR in dieser Zeit aus der ČSSR oder mit Grüßen in die ČSSR erhielt.
Dazu berichtete „Hans“ seinem Führungsoffizier am 19.8.1968, es „häuften“ sich „Anrufe und Karten, die im Zusammenhang mit Bürgern der ČSSR, die entweder im Urlaub im Ausland waren oder aber in der ČSSR sich befinden“. Nach der Einleitung „Im folgenden die festgestellten Postzuschriften im Bezug hierauf“ übermittelt „Hans“ dann rund 6 Seiten lang Auszüge daraus – teilweise mit Details, die über den Sender nicht verlesen wurden.[8]

Aus dem Stasi-Archiv: Ein Hörer-Fernscheiben an die Europawelle Saar aus Hamburg zur Beruhigung von Eltern in der Tschechoslowakei[9]. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Die Hörerpost aus der ČSSR, der DDR und allen anderen Ostblock-Ländern war der zweite große Themenblock, zu dem die Stasi-Spione den SR ausforschten. Dabei ging es fast ausschließlich um solche Zuschriften, die „Hannas“ Kontaktperson zu „Urlaub mit Musik“ bekam. Diese Sendung gab es nur während der Sommermonate vom 2. Juli 1968 bis zum 13.September 1974 in der letzten Stunde vor Mitternacht. Darin wurden Wunschtitel gespielt und Urlaubsgrüße übermittelt – zu Hörern in der Ferne oder von Urlaubern aus teilweise weit entfernten Ländern zu Bekannten oder Verwandten daheim oder anderswo.

So war die Europawelle in der Sommerzeit vor allem mit der Sendung „Urlaub mit Musik“ eine beliebte Funkbrücke über den „Eisernen Vorhang“ hinweg (die Grenze zwischen Ost und West). Aber es wurden auch Grüße von einem DDR-Ort zu einem anderen oder zwischen zwei Ländern des Ostblocks bestellt. 

Als Beispiel aus dem Stasi-Protokoll der Gruß eines Hörers, der im DDR-Bezirk Schwerin wohnte und in Budapest Urlaub machte.[10] Zum Vergrößern bitte anklicken.

Im "Prager Frühling" interessierte sich die Stasi vor allem für Hörerpost, die die ČSSR betraf. Ansonsten waren für sie Zuschriften mit Bezug zur DDR oder zu deren übrigen „sozialistischen Bruderländern“ wichtig.  Von dort schrieben auch manche DDR-Bürger, weil sie glaubten, so der DDR-Postkontrolle zu entgehen. Dass sie von der wussten, geht daraus hervor, dass sie zum Beispiel anstelle ihres Namens nur Stichworte genannt wissen wollten oder baten, den Absender nicht zu erwähnen.

Aus den  Stasi-Akten[12]: Diesen Brief schickte dem SR ein DDR-Hörer 1969 vom Baikalsee in der Sowjetunion. Nach rund 7000 Kilometern kam das Schriftstück an – und geriet in Saarbrücken in die Fänge der Stasi. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Die allermeiste Urlauberpost kam natürlich aus der Bundesrepublik oder westlichen Ländern. Die meisten Ostblock-Hörer waren Bürger der DDR. Aber vor allem auch aus Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen kamen nicht wenige Zuschriften. Nimmt man – mangels anderer Möglichkeiten – den Hörerposteingang zum Anhaltspunkt, dürfte der Anteil der Ostblock-Hörer an der Gesamthörerschaft des SR im tiefen einstelligen Bereich gelegen haben. 

Ab Mitte der siebziger Jahre ist die Zahl der Europawellen-Hörer in der DDR wohl zurückgegangen. Immer mehr andere Westsender stellten nach und nach ihr Programmkonzept um. Locker präsentierte Popmusik war dadurch über grenznahe Westsender in großen Teilen der DDR in bester UKW-Qualität zu hören. Über die Jahre entfiel damit die Notwendigkeit, sich mit der häufiger mal technisch unzureichenden Mittelwellenqualität der Europawelle Saar zufrieden zu geben, die meist nur zwischen dem Spätnachmittag und den frühen Morgenstunden einigermaßen sicher und gut zu empfangen war.
Gerade für die Jugend in der DDR bedeutete aber die Übertragungsqualität sehr viel, denn sie nahm die westliche Popmusik gern auf Tonband auf. Schallplatten mit West-Pop waren in der DDR entweder gar nicht oder nur mit viel Glück zu kaufen. 

Brief eines SR-Hörers aus Güstrow (DDR-Bezirk Schwerin), der einen Tonbandclub leitete.[13] Zum Vergrößern bitte anklicken.

Um zu erfahren, welche Westsender in der DDR besonders häufig gehört werden, bediente sich die Stasi gern bei den ansonsten gescholtenen Westmedien. In ihrem internen Informationsmaterial zitiert sie „nur für berechtigte Angehörige des MfS!“ (Ministerium für Staatssicherheit) einen Beitrag von 1988 in der bundesdeutschen politischen Zeitschrift „Deutschland-Archiv“[14] zur „Nutzungsfrequenz westlicher Radiosender“. Danach führte mit 49 % der (amerikanisch geführte) Rias-Berlin mit zwei Programmen, die direkt auch auf Hörer in der DDR ausgerichtet waren. Ausgestrahlt wurden sie von leistungsstarken Sendern in Westberlin (also geographisch mitten in der DDR) und in Hof (Bayern) an der südwestlichen DDR-Grenze. Erst an zehnter Stelle der Nutzungsrangfolge folgte der SR mit 3 %. Vor ihm lagen Rundfunkanstalten mit Senderstandorten nahe der Grenze zur DDR wie auch der Deutschlandfunk (34 %) und das ebenfalls gut empfangbare Radio Luxemburg mit  22 %.[15]        

Alle Westsender zusammen wurden vom überwiegenden Teil der DDR- Jugend gehört. Das Leipziger Jugendforschungsinstitut kam 1976 in einer repräsentativen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass 54 % der befragten Jugendlichen mehrmals wöchentlich "imperialistische Rundfunksender“ hören. Immerhin 21 % davon taten dies täglich. Nur 6 % der Jugendlichen wählten nie Westwellen.[16]  

Demzufolge hielt  die DDR während ihres gesamten Bestehens Westsender für eine ideologische Bedrohung. Die beiden SR-Spione übergaben deshalb ihrem Stasi-Führungsoffizier auch bei fast jedem Treff von ihnen ausgewählte Hörerbriefe. Selten waren das Originale, manchmal Kopien, häufiger wohl um aus Briefen und von Postkarten abgeschriebene Passagen. Wert legten sie dabei darauf, dass der Absender (möglichst mit Adresse) nicht fehlte. Sie wussten ja, dass es ihren Auftraggebern darauf ankam, diese Hörerpost bei Bedarf für weitere geheimdienstliche Aktivitäten zu nutzen. Beleg dafür ist die wiederholte Bitte an ihren Führungsoffizier, bei der „Weiterbearbeitung“ darauf zu achten, dass nicht bekannt wird, wer beim SR die Briefe/Postkarten erhalten hatte.[17] Sie wollten dadurch die Enttarnung ihrer abgeschöpften Kontaktperson verhindern und damit sich selbst vor dem Verlust ihrer Quelle schützen und auch vor der eigenen Enttarnung.

So wollten die Stasi-Spione sich ihre Quellen erhalten.

Die ausspionierte Hörerpost aus der DDR wertete die Stasi allein aus. Die aus anderen Ostblock-Ländern stellte sie anschließend deren befreundeten Geheimdiensten zur Verfügung.
Das Hören von Westsendern war in der DDR nicht verboten, sehr wohl aber politisch äußerst unerwünscht. Und selbst ein harmloser Musikwunsch konnte schon als Anzeichen dafür gesehen werden, dass der Absender nicht „linientreu“ sein könnte und wurde manchmal zum Anlass weiterer Beobachtung genommen. Wer sich in seiner Westpost gar abfällig über die DDR äußerte, der musste damit rechnen, dass ihm das ein Strafverfahren einbringen könnte oder im Zusammenhang mit einem anderen Gerichtsverfahren als belastend angerechnet werden würde.

Von der Stasi abgefangen: Die Postkarte eines jungen Musikfans an die Europawelle Saar. Zum Vergrößern bitte anklicken.

So ist zum Beispiel  die Postkarte des 18-jährigen Schülers Günter Zettl aus Waren an der Müritz (damals Kreisstadt im DDR-Bezirk Neubrandenburg) der erste Eintrag in seiner Stasiakte. Seine Postkarte, die er für ein Musikquiz an Europawellen-DJ Manfred Sexauer gerichtet hatte, war allerdings nicht über die beiden SR-Spione an die Stasi gelangt. Sie wurde bereits in der DDR von der Stasi-Postkontrolle abgefangen und im Original abgeheftet.

Bei der Europawelle kam die Karte erst nach nicht ganz einem halben Jahrhundert an. Günter Zettl hatte sie ein zweites Mal geschickt. Da gab es die DDR längst nicht mehr. Und dann erst hatte der Sexauer-Fan beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR (BStU)[18] um Akteneinsicht gebeten und so erfahren, dass die Stasi seine Karte (mit der richtigen Lösung) aus dem Verkehr gezogen hatte. In den Stasi-Akten zum SR finden sich weitere Beispiele für diese Praxis von „Horch und Guck“ (in der DDR-Bevölkerung populäre Bezeichnung für das Ministerium für Staatssicherheit).

Günter Zettl bekam dann den erhofften Gewinn schließlich doch noch – und sogar von Manfred Sexauer persönlich überreicht. Zettl war eigens dafür zum 50. Geburtstag der Europawelle Saar nach Saarbrücken gekommen. Durch die umfangreiche Presseberichterstattung darüber fand die Geschichte seiner Postkarte weltweit Beachtung.

Mehr dazu im Fundstück:
Einmal Stasi und zurück – SR-Hörerpost auf Abwegen
Am 2. Januar 1964 ging die „Europawelle Saar“ zum ersten Mal auf Sendung – und veränderte die deutsche Radiolandschaft. Und teils von weither schickten die Hörer „ihrer Europawelle“ reichlich Post.

Dass die Stasi gleich diesen ersten Versuch eines „Westkontakts“ des Oberschülers unterbunden hatte, half der DDR allerdings nichts. Zettl wurde dennoch nach und nach zu einem systemkritischen jungen Mann, der den Mut aufbrachte, das auch zu leben. Die vielen Blätter seiner Stasiakte, die noch auf die Postkarte folgten, zeigen es deutlich. 

Ein Auszug aus Günter Zettls Stasiakten. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Obwohl die Freiheit des Postverkehrs auch in der DDR-Verfassung garantiert war, wurden sowohl der innere wie der grenzüberschreitende Postverkehr kontrolliert. Dafür war die Abteilung M (auch Linie M genannt) des Ministeriums für Staatssicherheit zuständig. Sie hatte landesweit ca. 2000 Mitarbeiter. In bestimmten Fällen holten als Postangestellte getarnte Stasi-Mitarbeiter eingeworfene Post direkt aus Briefkästen in der Nähe des Wohnortes des Absenders. Für die „normale“ Postkontrolle gab es bei den zentralen Postämtern in jedem der 15 DDR-Bezirke die „Abteilung 12“. Dort arbeiteten streng geheim und  getrennt von den übrigen Postangestellten ausschließlich Stasi-Mitarbeiter. Zur Tarnung trugen sie ebenfalls Postuniformen.

Postkontrolle der Stasi  (Foto: BStU, MfS, Abt. M, Fo, Nr. 31, Bild 2)
Sammlung von Briefen die bei der Postkontrolle in der "Abteilung 12" durch Stasi-Mitarbeiter geöffnet wurden.

Eine MfS-Mitarbeiterin bügelt Öffnungsspuren weg. (Foto: BStU, MfS, Abt. M, Fo, Nr. 31, Bild 5 )
Eine MfS-Mitarbeiterin bügelt Öffnungsspuren wieder verschlossener Briefe weg.

Sie kontrollierten anhand von Listen der für die Stasi verdächtigen Empfänger oder Absender sowie mit einer Stichprobenmethode die gesamte Post. Zehn Prozent aller Briefe sollen mit Wasserdampf  von speziellen Maschinen geöffnet worden sein – täglich rund 90 000 Sendungen.[19] Wenn es nach der Kontrolle für sie nicht Endstation Stasi hieß, wurden sie sorgfältig wieder zugeklebt und weiterbefördert.

Durch die Auswertung der Post bekam die Stasi erstens ein politisches Stimmungsbild der Bevölkerung, zweitens Material für die „Personenkontrolle“ (also Überwachung) ihrer eigenen Bürger und der für sie interessanten Personen im Ausland – wozu für die DDR auch die Bundesrepublik zählte. Und drittens war die Postkontrolle eine ergiebige Einnahmequelle. Von 1984 bis 1989 entnahm die Stasi aus grenzüberschreitendem Postverkehr Geld und andere Valuta im Wert von 32 Millionen Mark.[20]

Es gab außerdem noch eine weitere Möglichkeit, wie Hörerbriefschreiber in die Fänge der Stasi gelangen konnten: die Rundfunküberwachung. Die Stasi war technisch bestens ausgestattet, um bei Interesse jede Sendung mitzuhören und/oder automatisch aufzuzeichnen. Die Westsender gaben bei Grußsendungen allerdings nie die Absenderadressen bekannt, in aller Regel auch nur den Vornamen oder ein vom Absender vorgeschlagenes Stichwort. Selbst für die Stasi dürfte es zumindest mit größerem Aufwand verbunden gewesen sein, dennoch die Absender zu ermitteln. Den nahmen ihr bei der SR-Hörerpost an „Urlaub mit Musik“ „Hans“ und „Hanna“ ab.

Auf ihr Konto geht wahrscheinlich der Leidensweg eines Hörers aus Neustrelitz im DDR-Bezirk Neubrandenburg. Um ganz sicher zu sein, müsste man wissen, wann der Arzt seinen zum Teil DDR-kritischen Hörerbrief an den SR geschrieben hatte. Über den Fall berichtete rund ein Jahr vor dem Mauerfall die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Rahmen einer Buchbesprechung (FAZ vom 20.6.1988). [21]

Buchcover: Anita Röntgen – Was soll mir eure Freiheit. Unbefugte Reportagen aus der DDR (Foto: Elster-Verlag, Bild verfremdet)
Cover des Buches von Anita Röntgen, erschienen im Elster Verlag.

Das besprochene Buch „Was soll mir eure Freiheit. Unbefugte Reportagen aus der DDR“ war 1987 erschienen. Da waren die beiden SR-Spione schon nicht mehr in Stasi-Diensten.
Die Autorin des Buches ist die Journalistin Anita Röntgen, die als Ehefrau des ARD-Korrespondenten Robert Röntgen fünf Jahre mit ihm in Ostberlin lebte und dort ebenfalls journalistisch tätig war. Ihr Bericht über diesen Fall einer perfiden Stasi-Erpressung des Arztes als Folge des Hörerbriefes ist mehrere Seiten lang. Er wäre ein eigenes Fundstück wert.[22]  

Aufgrund dieses Buches, des FAZ-Artikels darüber und der Umstände der letztlich erfolgreichen Ausreise des Arztes aus der DDR, ist davon auszugehen, dass der bundesdeutsche Verfassungsschutz über den Fall informiert war. Ob er daraufhin den SR warnte oder selbst Nachforschungen beim SR anstellte, ist dem Verfasser nicht bekannt. Er machte später den Arzt in der Bundesrepublik ausfindig. Ein Kontakt mit ihm kam allerdings nicht zustande.

Dem späteren SR-Intendanten Fritz Raff war sehr bewusst, welche Folgen die Ausspähung der Hörerpost durch „Hans“ und „Hanna“ gehabt haben könnte. Er entschuldigte sich öffentlich[23], als deren Spionage-Tätigkeit im Rahmen eines Forschungsauftrages der ARD[24] entdeckt und auf einer Pressekonferenz öffentlich gemacht worden war.

Fritz Raff (Foto: Oettinger, Reiner F.)
Ein betroffener SR-Intendant: Fritz Raff entschuldigt sich öffentlich wegen der Stasi-Ausspähung von SR-Hörerpost.[25]

Die intensive Ausforschung des Führungsbereichs der Hörfunk-Programmdirektion war der dritte Themenbereich der Spionagetätigkeit der IM beim SR. Dafür hat vor allem „Hans“ die zweite Kontaktperson abgeschöpft.
Das umfasste (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Protokolle des SR (etwa von Direktoren- und Programmsitzungen) sowie von einigen ARD-Sitzungen. Auch ein Stellen- und ein Zimmerbelegungsplan gehörten zum ausgeforschten Material ebenso wie einen Etatplan der Programmdirektion Hörfunk und Informationen, die zwischen den SR-Direktoren oder zwischen Intendanz und der Programmdirektion ausgetauscht wurden. Neben den reinen Sach-Informationen lieferte „Hans“ der Stasi häufig auch Fotos sowie gelegentlich interne Lageeinschätzungen.

Türschild der Europawelle Saar (Foto: Stasi-Akten, Standbild SR, aktueller bericht vom 19.07.2004)
Ein Stasi-Foto von der Tür zu Zimmer 307 im SR-Hörfunk. Über dem Türschild ein Aufkleber der „Europawelle Saar“.

Was ihre beiden IM insgesamt beschafften, war für die Stasi offenbar so interessant, dass sie „Hans“ empfahl, sich beim SR um die Aufnahme einer regelmäßigen Tätigkeit („evtl. auch als freischaffender Mitarbeiter“) zu bemühen. Dadurch könne er dann auch als IM noch ergiebiger arbeiten. Zusätzlich hätte das für die Stasi den Vorteil gehabt, dass „Hans“ wegen eines dadurch höheren eigenen Einkommens auf weniger Gehalt von ihr angewiesen gewesen wäre.[26] Erfolgreich war „Hans“ mit seinen dahingehenden Bemühungen nicht. Ihm fehlten „Nachweise über berufsfachliche oder auch journalistische Tätigkeit“. So kam es beim „Treff“ mit seinem Führungsoffizier am 12. November 1969 zur Sprache.[27]

Als ständiger freier Mitarbeiter hatte „Hans“ beim SR keine Chancen. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Für eine seiner Haupt-Kontaktpersonen im SR war „Hans“ aber dennoch  und nach und nach zu einem engen und vertrauten freien Mitarbeiter geworden, wie diese später im SR-Fernsehen sagte.[28] Für die andere dies mindestens auch.
Anfangs waren es nur Hilfstätigkeiten, die „Hans“ und auch „Hanna“ gelegentlich erledigten, später wurde es Wichtigeres wie u. a.: grafische und konzeptionelle Arbeiten für programmbegleitende Publikationen und die Anzeigen-Akquisition für eine der Broschüren zum Schlagerpreis „Goldene Europa“, wie sich die zweite Kontaktperson erinnert. Solche Aufträge wickelte „Hans“ zusammen mit „Hanna“ über ihre inzwischen gegründete Werbefirma „KHOR“ ab.[29]

Schreiben der Werbefirma von „Hans“ und „Hanna“ aus deren Stasi-Akte. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Schließlich bekam „Hans“ im August 1972 durch Vermittlung seiner Kontaktperson sogar einen Gesprächstermin bei Intendant Dr. Franz Mai, um seine Ideen für PR-Maßnahmen des Saarländischen Rundfunks vorzutragen.[30] Mai bat ihn danach, ein Exposé für ein PR-Konzept des SR auszuarbeiten. Ehe er sich an die Arbeit machte, fragte „Hans“ höflich bei seinem Stasi-Führungsoffizier nach, ob er das auch dürfe: „Wir schlagen vor uns zu gestatten das Exposeé herzustellen und einzureichen.“[31] Die Stasi erlaubte es.
Im Januar 1973 lieferte die Firma „KHOR“ darüber hinaus ein 40 Seiten umfassendes Programm-Konzept für eine Reform der gesamten Europawelle ab. Mit beiden Vorhaben scheiterte er.

Als untauglich gescheitert: Entwurf  für ein „Vorsprungsprogramm der Europawelle Saar 73“ (Titelseite). Zum Vergrößern bitte anklicken.

Das „Vorsprungsprogramm der Europawelle Saar 73“[32] wurde nicht einmal in den SR-internen Diskussionsprozess zur Vorbereitung der Programmreform eingeführt.
Das PR-Konzept scheiterte vor allem am Leiter der SR-Pressestelle.

Auch dessen damaligen Stellvertreter Rolf-Dieter Ganz, hatte „Hans“ nicht von sich überzeugen können. Er ist einer der wenigen, die sich 2023 noch an die beiden Stasi-Spione beim SR erinnern können. In seine Lebenserinnerungen[33] hat er dazu eine Passage aufgenommen:
„Ich lernte den Ehemann des spionierenden Duos erst ab 1971 kennen – ist eigentlich schon zu viel gesagt. Seit diesem Jahr betrieb das Ehepaar in Saarbrücken eine Werbeagentur... Ich erinnere mich, dass der Ehemann plötzlich via Programmdirektion Hörfunk in die Vorbereitungen der Verleihung der Goldenen Europa, zu deren Orga-Team ich von Anfang an gehörte, eingebunden werden sollte.
Das mag jetzt selbstherrlich klingen, aber ich lehnte den Mann von Anfang an ab. Auch als eine mir vertraute Kollegin und ein ebensolcher Kollege für die Berücksichtigung der Ideen des Mannes warben, blieb ich bei meiner Ablehnung. Der ungebetene Ratgeber war mir schlicht unsympathisch. Ich wollte mir von einem Fremden, der die örtlichen Verhältnisse nicht kannte, zudem nicht sagen lassen, wie ich meine Arbeit zu machen habe. Mein Bauchgefühl war wohl ausschlaggebend, dass ich in der Folge auch sonst mit dem Mann nichts zu tun haben wollte und dann auch nichts zu tun hatte.“

Rolf-Dieter Ganz (Foto: Oettinger, Reiner F. )
Rolf-Dieter Ganz, 1972 stv. Leiter der SR-Pressestelle, ab 1991 Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Dieses „Bauchgefühl“ besagte bei den beiden abgeschöpften Kontaktpersonen offensichtlich ganz anderes. Auf die Frage, warum sich zwischen ihnen und dem IM-Pärchen ein so großes Vertrauensverhältnis entwickelt habe und sie beide dadurch Opfer der Ausforschungen durch die DDR-Spione geworden seien, gibt es von einer der Kontaktpersonen nur diese Antwort: “Das wüsste ich auch gern.“ Eine „Vierer-Beziehung“ sei das jedenfalls nicht gewesen. Nur einmal habe man zu viert einige Stunden Freizeit miteinander verbracht. Diesen Eindruck gewinnt man auch beim Lesen des Stasi-Materials.

Anfangs entwickelte wohl jeder IM die Beziehungen zu seiner (Haupt-)Kontaktperson. Später scheint „Hanna“ in den Hintergrund getreten und „Hans“ der entscheidende Gesprächspartner beider SR-ler geworden zu sein. Dabei hat er wohl beide Kontaktpersonen unabhängig voneinander und auf unterschiedlichen Beziehungsebenen „gepflegt“ und abgeschöpft.

Seine zweite Kontaktperson erinnert sich so: Über die DDR habe man kaum je gesprochen, viel aber über internationale Politik. Dass der SR häufig ein Gesprächsthema gewesen sein muss, ist den Stasi-Akten zu entnehmen. Bestimmt waren dafür öfter die Hilfstätigkeiten der IM der Anlass. Manchmal auch redeten sich offenbar die beiden SR-ler, die im Sender als eher verschwiegen galten, bei den außenstehenden IM beruflichen Frust von der Seele und ließen etwa bei Wohnungsbesuchen oder einem „Feierabendschluck“ Dampf ab. Gelegentlich holten sie auch Rat in sehr persönlichen wie auch dienstlichen Angelegenheiten ein – oder bekamen ihn ungefragt.

Für dieses Vertrauensverhältnis zwei Beispiele: Die erste Kontaktperson hatte (wohl zum Schutz des Absenders) zwei Briefe eines Hörers aus Rumänien verbrannt. In einem davon bot er in zwei inliegenden Briefen seine Mitarbeit bei den bundesdeutschen Geheimdiensten MAD (Militärischer Abschirmdienst) und BND (Bundesnachrichtendienst) an.[34]

Bewerbung für Geheimdienstmitarbeit per Hörerbrief. Zum Vergrößern bitte anklicken.

 

Der zuständiger Vorgesetzter der Kontaktperson beim SR erfuhr nichts davon, wohl aber „Hans“. Der fragte in Ostberlin seinen Führungsoffizier. Prompt kam dann der Rat von der Stasi: Die Kontaktperson müsse hinsichtlich des Umgangs mit Briefen, „die uns gegenüber feindlichen Inhalt haben“ dahingehend beraten werden, „zur  Vermeidung von Unannehmlichkeiten solche Briefe an den zuständigen Vorgesetzten weiterzugeben.“[35]  

Stasi-Rat an SR-ler: Dienstweg einhalten! Zum Vergrößern bitte anklicken.

Die andere Kontaktperson holte 1986 aus Gefälligkeit für „Hans“ einmal kurzzeitig eine Broschüre  des Deutschlandfunks aus dem internen Postumlauf zwischen SR-Intendanz und Direktoren. Es handelte sich um eine Dokumentation der ČSSR-Berichterstattung des Kölner Senders. Darin war nichts zu lesen, was nicht jeder schon vorher im Radio hätte hören können. Die Broschüre hatte der Deutschlandfunk nur in begrenzter Zahl kostenlos z. B. an Rundfunkanstalten und Universitäten verschickt.

„Hans“ hatte über Funk den dringenden Auftrag erhalten, sie für die Stasi zu besorgen. Zuerst versuchte er es im Buchhandel und dann direkt beim Deutschlandfunk. Dafür fuhr er, als Journalist getarnt, extra nach Köln. Beide Versuche waren erfolglos. Dann erzählte er seiner Quelle beim SR, dass er „das Material zur Unterstützung für eine zusammenfassende Arbeit für einen Freund in Hamburg brauchen könnte“. Als er die Broschüre auf diese Weise schließlich in die Hände bekam, flog er damit sofort nach Berlin, um sie bei der Stasi fotokopieren zu lassen.[36]

Der IM hatte in diesem Fall seine Kontaktperson also belogen. Da es  offenbar zu den Pflichten eines Spions gehörte, die Umstände der Materialbeschaffung dem Führungsoffizier detailliert mitzuteilen, geht aus den Akten auch hervor, welche Methoden das Spionagepärchen ansonsten eingesetzt hatte. Die Palette reichte von der schlichten Bitte, etwas für einen erteilten Auftrag oder interessehalber (zuhause) lesen zu dürfen über heimliches Lesen, Kopieren oder Abschreiben bis hin zum Stehlen.

Der angebliche „Freundschaftsdienst“ war ein Stasi-Eilauftrag. Zum Vergrößern bitte anklicken.

All diese Aktivitäten setzten ein enges, wohl fast freundschaftliches und jedenfalls vertrauensvolles Verhältnis mit den abgeschöpften SR-lern voraus. Wie es vor allem „Hans“ und „Hanna“ gelang, dies als Mittel zum Zweck erfolgreich aufzubauen, kann man nur vermuten. „Hans“ sei sehr intelligent gewesen, erzählt die zweite Kontaktperson. SR-Kollege Rolf-Dieter Ganz bescheinigt „Hans“ ein sehr überzeugendes Auftreten. (Aus der zeitlichen Distanz und mit dem Wissen von heute beurteilt, kam es teilweise wohl dem eines Hochstaplers gleich.)

Sehr gut möglich erscheint, dass „Hans“ in seiner Spionage-Ausbildung in der DDR und bei Jugendleiter-Lehrgängen für FDJ-Führer gelernt hatte, selbstsicher und einnehmend aufzutreten, Gesprächspartner zum Reden zu bringen und damit Quellen für eine ertragreiche Ausforschung zu erschließen. „Operative Psychologie“ stand jedenfalls auf dem Stasi-Lehrplan. Da hatte „Hans“ ganz offensichtlich gut zugehört.

Wenn Teil der Ausbildung allerdings auch war, dass ein Spion bei seiner Arbeit immer ein kaltes Profi-Herz zu bewahren und seine Gefühle im Zaum zu halten habe, dann hatte „Hans“ das – wie sich bald zeigen sollte – weniger gut verinnerlicht.

IM „Hans“. (Foto: SR, aktueller bericht vom 19.07.2004. )
IM „Hans“ beeindruckte durch sehr selbstbewusstes Auftreten.

 

Die beiden gescheiterten Versuche von „Hans“, sich bei der Führungsetage des Saarländischen Rundfunks anzudienen, waren offenbar zugleich der Höhepunkt und der Anfang vom Ende seiner und „Hannas“ Spionagetätigkeit beim SR. Dafür gab es mehrere Gründe:
Dass „Hans“ mit seinen großen Plänen keinen Erfolg hatte, dürfte seine hohe Wertschätzung bei seinen Kontaktpersonen beschädigt haben.
Außerdem veränderte sich deren Zuständigkeitsbereich. Die Jugendfunksendung „Mr. Unbekannt lässt raten“ wurde im Frühjahr 1973 eingestellt, ein Jahr später „Urlaub mit Musik“. Damit fielen sie als Spionage-Quellen aus.
Nachdem in der Tschechoslowakei auf den „Prager Frühling“ wieder eine sozialistische Eiszeit gefolgt war, gab es dieses wichtige Spionage-Thema samt dem besonderen Stasi-Interesse an der SR-Hörerpost nicht mehr. 
„Hans“ und „Hanna“ war es zudem nicht gelungen, außerhalb des Zuständigkeitsbereichs ihrer beiden Kontaktpersonen als ständiger freier Mitarbeiter Fuß zu fassen. Von dem allein, was beide beim SR verdienten, konnten sie nicht leben.

„Unser Verhältnis kühlte dann schnell ab“, erinnerte sich heute ihre zweite Kontaktperson. Einen besonderen Grund dafür habe es nicht gegeben.
Die letzten dem Verfasser vorliegenden Stasi-Protokolle stammen vom Oktober 1974. Gut zwei Jahre später erfuhr die Stasi von entscheidenden Veränderungen im „Privatleben“ von „Hans“ und „Hanna“: Am 22. Mai 1977 teilte „Hanna“ ihrem Führungsoffizier erstmals mit,  dass „die Eheverhältnisse nicht mehr in Ordnung sind.“[37] „Hans“ habe deswegen Angst und erscheine (wohl) darum nicht zum Treff.
Ein Vierteljahr später erschien „Hans“ dann Ende August 1977 doch und erklärte ebenfalls, „dass seine Eheverhältnisse gestört“ seien. Dabei spiele aber „keine andere Frau eine Rolle“.

Das allerdings wusste sein Führungsoffizier besser. Er machte ihm „entsprechende Vorhaltungen“ und stellte „die Frage der Ehrlichkeit“. Als Ergebnis wurde er „beauftragt seine Eheverhältnisse in Ordnung zu bringen.“ Das war allerdings vergebene Liebesmüh. Zum nächsten vereinbarten Treff im Dezember 1977 erschien „Hans“ wiederum nicht. Auch mit seiner Frau sprach er sich nicht aus.

Im Mai 1978 machte die Stasi dann kurzen Prozess. Als Romeo-Spion wollte sie „Hans“ offenbar keine Lizenz erteilen. Sie legte die Akte „Hans“ wegen des Abbruchs der Verbindung ab – aufgrund seiner „spezifischen operativen Aktivitäten“ als „gesperrt“. „Hannas“ Akte war bereits Ende April geschlossen worden. „Auf Grund von Ehestreitigkeiten und aus gesundheitlichen Gründen“ könne „die Verbindung nicht weiter aufrechtgehalten werden“.[38]

Bereits in den letzten Jahren zuvor war die Funkverbindung nur noch einseitig statt bis dahin zweiseitig geführt worden. Es gab wohl nicht mehr viel zu funken.
Die Stasi weinte ihrem anfänglich so erfolgreichen und mit mehreren Orden geehrten Spionagepärchen in Saarbrücker keine Träne des Bedauerns nach. Auch von Dankbarkeit findet sich kein Wort. Wohl aber  ein Vorwurf: „Hans“ habe zwar alle Aufgaben „gelöst“. Zu bemerken sei jedoch, „daß der finanzielle Aufwand  stets sehr hoch war.“

„Hans“ blieb auch als Ex-Spion in Saarbrücken und versuchte sein finanzielles Glück mäßig erfolgreich weiterhin in der Werbebranche. „Hanna“ kehrte in ihre alte Heimat Hamburg zurück. Beide starben vor dem Mauerfall 1989. Zu ihren Lebzeiten wurden sie nicht mehr enttarnt.

Die zweite Kontaktperson betont, dass ihm bei keiner der beiden IM je der Gedanke gekommen sei, dass mit ihnen irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Auch nicht, nachdem ihm das Gerücht im SR zu Ohren gekommen war, dass „Hans“ etwas mit dem Verfassungsschutz (!) oder der Stasi zu tun haben könnte. Aufgefallen sei ihm nur einmal, dass ein großer Zimmerbelegungsplan plötzlich von seiner Büro-Wand verschwunden war. Weil die Raumverteilung im SR ohnehin schon abgeschlossen war, sei er dem nicht nachgegangen.
Wohl Anfang der achtziger Jahre habe in der Saarbrücker Zeitung eine Todesanzeige gestanden in der unter dem Klarnamen von „Hans“ nur „Deine Freunde“ zu lesen war. Im Nachhinein frage er sich heute, ob das wohl Ex-Stasifreunde gewesen seien. Die hatten „Hans“ da aber schon Jahren zuvor die „Freudschaft“ aufgekündigt. Und zu teuer war er ihnen ja schon zu Lebzeiten gewesen.  

Dies ist der dritte von vier geplanten Beiträgen zur Reihe „Wie die DDR-Staatssicherheit den SR ausforschte“. 
Informationen zu den Aktivitäten der weiteren drei inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter beim Saarländischen Rundfunk in Teil 4.

* Der Autor war Chefredakteur Hörfunk des Saarländischen Rundfunks. Er hat seit 1960 während seiner Tätigkeit beim SR alle Personen, deren Tätigkeit für die Stasi inzwischen bekannt ist, mindestens kennengelernt. In den Stasiakten wird er mehrfach erwähnt.

Für die Recherche nutzte der Verfasser – soweit es ihm zur Verfügung stand – Originalmaterial des Stasi-Unterlagen-Archivs im Bundesarchiv (bis Juni 2021 BStU). Außerdem wertete er SR-Archivmaterial (soweit zugänglich), Sekundärliteratur und seine Erinnerungen sowie die weiterer Zeitzeugen aus.

* *Es kam dem Verfasser darauf an, Auswirkungen und Methoden des Kalten Krieges darzustellen, die (auch) den SR betroffen haben. Nach mehr als einem halben Jahrhundert wurde auf die Nennung von Klarnamen verzichtet, obwohl sie zum überwiegenden Teil bereits vom SR, in der gedruckten Presse und in der Fachliteratur veröffentlicht wurden.

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz; Illustration: Burkhard Döring, Magdalena Hell, Axel Buchholz; Layout und Gestaltung: Magdalena Hell; Standbilder: Sven Müller (Fernseh-Archiv); Redaktionelle Mitarbeit/Ko-Recherche: Magdalena Hell und Dieter Brennecke.

Für Unterstützung bei Recherche und Illustration dankt der Arbeitskreis SR-Geschichte Dagmar Hovestädt (Abteilungsleiterin Vermittlung und Forschung im Bundesarchiv), Dr. Jochen Staadt (Projektleiter beim Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin) und John Steer (Vorstandsmitglied der ASTAK e.V. beim Stasimuseum Berlin).

[1] Stefan Karner, Der "Prager Frühling" Moskaus Entscheid zur Invasion, in Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31238/der-prager-fruehling-moskaus-entscheid-zur-invasion/ ,abgerufen am 17.03. 2023

[2] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 309.

[3] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 310.

[4] Stefan Karner, Der "Prager Frühling" Moskaus Entscheid zur Invasion, in Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/,abgerufen am 17.03. 2023

[5] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 309.

[6]  BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 5 bis 10.

[7] S. Fundstück „Wie die DDR-Staatssicherheit den SR ausforschte. Teil1: Die beiden Spitzenspione und ihre Methoden“.

[8] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 265ff,  „Die Haltung des Saarländischen Rundfunks und einiger seiner Mitarbeiter zu den Ereignissen in der CSSR am 21.8.1968“ vom 19.8.1968, S. 10 bis 16

[9] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 276.

[10] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 274.

[11] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 278.

[12] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 4, S. 206.

[13] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 4, S. 206.

[14] „Rias“, „Hundert,6“ und „Radio 100“ – Instrumente der ideologischen Diversion gegen die DDR, Informationsmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit, Ministerium für Staatssicherheit, Presseabteilung, 3/1989, S. 27f. ; BArch, MfS, 91/571/7, Bibliothek

[15] Informationsmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit, Ministerium für Staatssicherheit, Pressabteilung, 3/1989, S. 27f. BArch, MfS, 91/571/7, Bibliothek

[16] Jochen Staadt, Tobias Voigt, Stefan Wolle, Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in Ost und West, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, S. 29

[17] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 5, S. 92.

[18] Seit dem 17. Juni 2021 werden die Ehemaligen Stasi-Akten vom Bundesarchiv verwaltet. 

[19] Vgl. Lutz Wohlrab in der Zeitschrift „HORCH UND GUCK“, Heft 38 (2/2002)

[20] MfS-Lexikon, Stichwort Postkontrolle, Stasiunterlagen Archiv, zitiert nach www.stasi-unterlagen-archiv.de/mfs-lexikon/detail/postkontrolle/, abgerufen am 15.02.2023

[21] Karl Wilhelm Fricke, „Das aktuelle Buch. Alltag in der DDR“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.6.1988.

[22] Anita Röntgen, „Was soll mir eure Freiheit. Unbefugte Reportagen aus der DDR“, Elster Verlag, Bühl-Moos, 1987, S. 133-136

[23] Fritz Raff war von 1996 bis 2011Intendant des Saarländischen Rundfunks.

[24] „Die rundfunkbezogenen Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR in der DDR sowie in der Bundesrepublik Deutschland“. Die Studie des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin wurde auszugsweise auf der Pressekonferenz der ARD am 19. Juli 2004 vorgelegt.  

[25] Ausschnitt aus der SR 2-Sendung „Medienwelt “vom 24.07.2004, Autor: Martin Grasmück.

[26] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 4, S. 177.

[27]  BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 4, S. 230.

[28] SR, aktueller bericht vom 19.07.2004

[29]  BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 5, S. 306.

[30] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 5, S. 161.

[31] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 5, S. 162.

[32] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 6, S. 155-196.

[33] Rolf-Dieter Ganz, Grenz-Erfahrungen, Erfahrungen mit Grenzen und Grenzern, Privatdruck nur für die Familie, Saarbrücken-Bischmisheim 2021

[34] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 5, S. 79.

[35] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 5, S. 86.

[36] BArch, MfS, AIM 9590/78, Bd. 3, S. 331 f.

[37]  BArch, MfS, AIM, 8997/79, S. 370. (Stasi-Abschlussbericht „Hans“)

[38] BArch, MfS, AIM 8997/79, Bd. 1, S.134.  (Stasi-Abschlussbericht „Hanna“)

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