Lutz Rathenow: Ohne den Saarländischen Rundfunk wäre ich wahrscheinlich kein Dissident geworden
Der 1952 in Jena geborene Schriftsteller Lutz Rathenow war ein häufiger Gast in den Literatursendungen des Saarländischen Rundfunks, zunächst von Arnfrid Astel, später von Ralph Schock. Er war der Redaktion aufgefallen wegen seiner in der BRD erschienenen regimekritischen Texte, die nicht in der DDR veröffentlich werden durften. Dort konnten Beiträge von ihm nur in Untergrund-Zeitschriften publiziert werden.
Eine Einführung von Ralph Schock und ein Text von Lutz Rathenow
Ab den frühen 80er Jahren wurden diese künstlerisch ambitionierten Publikationen in kleiner Auflage verbreitet, als Kunstbücher fielen sie nicht unter die Zensurbestimmungen der DDR. Einer dieser Texte von Rathenow, abgedruckt in der Samisdat-Zeitschrift „Ariadnefabrik“ ist ein Essay über den Roman „PLN“ des Romanisten und Widerstandskämpfers Werner Krauss (1900 – 1976). Krauss war wegen seiner Mitgliedschaft in der Roten Kapelle (Widerstands- und Spionagegruppen gegen die Nationalsozialisten) und des Abhörens ausländischer Radiosender von den Nazis verhaftet und vom Reichskriegsgericht wegen Beihilfe zum Hochverrat zum Tode verurteilt worden. Er schrieb in der Todeszelle des Zuchthauses Berlin-Plötzensee mit gefesselten Händen einen skurrilen Roman mit dem Titel „PLN – Die Passionen der halkyonischen Seele“. Rathenow verfasste seinen Essay über diesen Roman und die ungewöhnlichen Umstände seiner Entstehung mit dem Blick auf und vor der Folie der Zustände in der DDR. Seinen Essay las er im ARD-Studio in Ost-Berlin im Frühjahr 1989 ein. Gesendet wurde er am 22. 4. 1989. In diesem Frühjahr zeichneten wir im Ost-Berliner ARD-Studio weitere Texte von sog. Prenzlauer Berg-Autoren auf, also aus einem Kreis systemkritischer DDR-Schriftsteller. Nicht vergessen habe ich bis heute das mulmige Gefühl, als ich das Honorar für die Autoren, insgesamt 2000 DM, im Stiefel durch die Grenzkontrollen schmuggelte. Der Rücktransport der Sendebänder erfolgte durch bundesdeutsche Diplomatenpost. Als ich abends nach Westberlin zurückkehrte, lagen sie bereits im Hotel.
Lutz Rathenow studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Jena. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann wurde er 1976 zwangsexmatrikuliert, weil er sich mit dem DDR-kritischen Liedersänger solidarisiert hatte. Danach arbeitete er als Transporthilfsarbeiter und Beifahrer im VEB Carl Zeiss Jena. 1977 übersiedelte er nach Ostberlin, wo er bald mit der konspirativen politischen Arbeit gegen die DDR begann. Im November 1980 wurde er wegen seines im Westen erschienenen Debüts „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ verhaftet. Gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Zoll- und Devisenvergehens eingeleitet. Es folgten zahlreiche weitere Veröffentlichungen in der BRD sowie Übersetzungen ins Schwedische, Französische, Englische, Kroatische, Dänische und Niederländische. Nach der Wende war Rathenow weiterhin als Lyriker tätig, als Kinderbuchautor, Satiriker, Prosaist, Gelegenheitsdramatiker, Essayist, Rundfunkkolumnist sowie als Redakteur einer Zeitschrift. In den 90er Jahren sichtete er seine etwa 15.000 Seiten umfassende Stasi-Akte und schrieb darüber. Seit 2011 ist Rathenow Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
Die SR-Literatur-Abteilung hat über die Jahre hinweg immer wieder Texte von Lutz Rathenow gesendet. In einem Essay (Erstendung am 13. 5. 1999 auf SR 2 KulturRadio in der Reihe „Literatur im Gespräch) hat er seine lange Beziehung zum Saarländischen Rundfunk beschrieben. Sie hat in Zeiten ihren Ursprung, als er noch in der DDR lebte und er sich vor allem von der Europawelle Saar über Mauer und Stacheldraht nach Saarbrücken tragen ließ.
„Ohne den Saarländischen Rundfunk wäre ich wahrscheinlich kein Dissident geworden“
Von Lutz Rathenow
„Meine Lebensgeschichte verband sich immer wieder einmal mit dieser Stadt oder mit dem, was ich mir unter dieser Stadt vorstellte. (…) Saarbrücken wäre sehr weit weg gewesen, wenn nicht die Europawelle Saar es nah an mich herangespielt hätte. Saarbrücken besuchte täglich unsere Wohnung, es kam aus der großen hölzernen Radiotruhe im Wohnzimmer. (…) Am Morgen gab es kein Saarbrücken mit Europawelle Saar im Radio, gegen Mittag auch nicht. Die Mittelwelle schien wie leergefegt, kaum ein Sender war noch vorhanden. Als schliefen sie alle bis zum späten Nachmittag, bis sie dann erwachten und ihre Stimmen und vor allem ihre Musik im Äther wieder hörbar machten. (…) mitten in der späten Nacht, wenn die Welt sich mit ihrem Hellwerden beschäftigte, zu dieser Zeit konnte die Europaweile Saar gut empfangen werden. Aber es kam zu dieser Zeit nicht jene Beat-Musik, die ich suchte.
Der Westen hieß seit der Kindheit Radio Luxemburg und Europawelle Saar, später RIAS und Deutschlandfunk. Die DDR wollte diesen tönenden Westen nicht. Deshalb gab es die Mauer und Verbote, ich durfte das Radio bei geöffnetem Fenster nicht zu laut hören. Besonders nicht um achtzehn Uhr „Hallo Twen“, die Sendung für Teens und Twens. Und vor allem nicht die englischen Titel, die bei den einheimischen Sendern nie kamen.
Radio Luxemburg sendete auf Kurzwelle und brachte dämliche Werbung zwischen den viel zu wenigen englischen Titeln – es nervte frühzeitig. Saarbrücken diktierte mein Leben. Um achtzehn Uhr kam die wichtigste Sendung, und einmal in der Woche hieß diese Sendung „Hitparade“. Und die Stimme eines netten Menschen namens Dieter Thomas Heck war nicht nur für mich lange die Stimme aus Saarbrücken, die unser Leben in Jena aufmöbelte und auf Schwung brachte. Keine blöde Werbung, kaum idiotische deutsche Schlager.
Ich brauchte später eine Weile, um zu begreifen, dass dieser tolle Heck aus Saarbrücken mit jenem komischen Menschen identisch war, der den DDS (Deutschen Dämlichen Schlager) penetrant per Hitparade ins Fernsehen puschte.
(…) Ich mochte den Heiligabend nie, an dem durfte ich Saarbrücken nicht einschalten. Und als ich es heimlich auf dem Klo oder später in meinem Zimmer doch tat, da hatte auch dieser Sender vor der allgemeinen Weihnachtsblödigkeit kapituliert. Und ich ahnte, dass ich doch in einem einheitlichen Gefühlsdeutschland lebte, auch wenn es die Politik in zwei Staaten trennte.
Aber Weihnachten war nur einmal im Jahr, die Europawelle Saar fast täglich. Und da galten im Haus eindeutige Machtverhältnisse. Bis neunzehn Uhr diktierte mein Radiosound den Ton, ab da bestimmten das Fernsehen und die Eltern das Programm. Auch da gaben das Saarland und Saarbrücken ihren Beitrag zum Programm. Und ich begriff, dass dies ein kleiner Sender war, der seltener ins Programm kam als die großen. Doch die kleinen waren mutiger und pfiffiger. Der „Beat Club“ kam nicht umsonst aus Bremen, das war als Bundesland noch kleiner und besonders frech.
Saarbrücken und Bremen mutierten zum ungroßen, selbstbewussten, sympathischen Westen. München und Hamburg standen für das machtvolle, reiche und deutlich zu selbstsichere Wessiland. Im Rundfunk war alles anders, da überstrahlte die Europawelle Saar auf der Mittelwelle einiges, auf der es nicht pfiff und knarrte wie auf der Kurzwelle. Sondern die Sender verschwanden und kamen wieder. Auch um achtzehn Uhr zur besten Sendezeit schwollen die Titel in der Lautstärke plötzlich an. Ich war glücklich, ein Gitarrensolo von Jimi Hendrix im vollen Sound zu vernehmen und drehte das Radio auf. Die Eltern schwiegen in der Küche oder auf dem Balkon. Und die Schwester musste sich während der Hitparade vorsichtig und leise bewegen, damit kein falscher Ton aus dem Haus die richtigen aus dem Radio störte. Jimi Hendrix und die Monkeys diktierten den Ton. Es könnte sein, dass der Rest der Familie nicht nur angenehme Gedanken an Saarbrücken hatte und deshalb bis heute nie in diese Gegend in den Urlaub fährt. Lieber nach Bayern, dessen Volksmusik und Dialekt ich immer verspottete.
Manchmal geschah es, dass nach zwei bis drei Minuten guten Empfangs der Ton schrumpfte und an manchen Tagen für Sekunden gänzlich verschwand. Diese konnten sich schrecklich dehnen. Eric Burdon kam nicht mehr oder kaum noch. Wie gern hätte ich da Saarbrücken herbeigezaubert. Und wäre die gute Märchenfee mit ihren drei Wünschen gekommen, einer wäre schon sicher gewesen. Dieser periodische Entzug schädigte mich sicher für das gesamte Leben. Er förderte die Geltungskrankheit: sich nie und unter keinen Umständen zum Verstummen bringen zu lassen, immer da und immer präsent zu sein. Das Schwanken im Programm der Europawelle Saar inspirierte sicher jene Öffentlichkeitssucht, die mich in alle Welt Briefe schreiben und in fast aller Welt Veröffentlichungsversuche unternehmen ließ. Dort sein, wo man nicht hinkommt.
Wahrscheinlich wäre ich ohne die Europawelle Saar später kein Dissident geworden. Dafür waren also der Westen an sich und Saarbrücken im Besonderen verantwortlich. Der selbstbewusst fröhliche Ton des Moderators steckte an: die Stimme Saarbrückens als Stimme des Westens, der zuallererst einmal der Nicht-Osten war. Ich hatte ja nichts gegen die DDR. Ich hatte aber etwas gegen ein Land, das mir solche Rundfunksendungen vorenthielt. Und dann die Reiserufe. Menschen, die von Spanien oder Italien aus einmal zu Hause anklingeln sollten. Saarbrücken als Tor zur Welt, das für mich nur per Funk, als Hörer durchschreitbar war. Die von Saarbrücken aus gesendeten Platten konnte ich nicht kaufen, die Fotos von den Gruppen durfte ich nicht besitzen, an der Abstimmung über die Hitparade sollten wir uns als Thüringer Schüler nicht beteiligen. Ich schrieb mehrmals nach Saarbrücken und erhielt nie eine Antwort. Der Weg war lang und ich dachte bei den ersten Briefen noch nicht, dass es die Staatssicherheit sein könnte, die den Postaussortierer spielte. Und die Lehrer warnten uns, an den RIAS oder die Europawelle Saar zu schreiben, die diese Musik nur sendeten, um uns abzuhalten, ein guter Staatsbürger und überzeugter Sozialist zu werden. Saarbrücken klang plötzlich nach Klassenfeind, wenn auch nicht ganz so gefährlich wie der in Westberlin, der sich RIAS nannte und in den fünfziger Jahren zum Vernichten des Volkseigentums aufgerufen haben sollte. Auch der Arbeiteraufstand vom 17. Juni, uns als Konterrevolution nahegebracht, ging auf das Konto des RIAS. Meinte der Lehrer.
Ganz so schlimm konnte Saarbrücken für die DDR nie werden, allein deshalb, weil es am Tag nicht zu hören war. Seine Feindtätigkeit beschränkte sich auf den späten Nachmittag bis zum frühen Abend, sehr ungeeignet für genaue Anweisungen bei der Konterrevolution. Saarbrücken bedeutete die harmlosere Variante, sich von der DDR zu entfernen. Ich stellte mir die Stadt wieder als kleinen, liebenswürdigen Ort vor, den ich niemals sehen würde. Darüber wollte ich nicht nachdenken. Das würde zu nichts führen. Eine anheimelnde, aber nicht zu kitschige mittelgroße Stadt musste es sein, über deren Fluss zahlreiche Brücken führten und die sich Frankreich und Luxemburg nahe fühlte. (…) Saarbrücken vergoldete sich in meinem Vorstellungsvermögen. (…)
Unsere Lehrer und die Zeitung und das mir in Jena eher fremde DDR-Fernsehen meinten zwar, der Westen wolle uns erobern, zerstören oder mindestens besetzen, doch davon merkte ich bei der Europawelle Saar nichts.(…) Saarbrücken (…) schien an Jena gar nicht interessiert. Jedenfalls nicht über den gelegentlichen Gruß in den Osten hinaus. Saarbrücken wollte nichts von mir, außer Musik und gute Laune verbreiten. Das könnte natürlich die raffinierteste Form der konterrevolutionären Arbeit sein. Ablenken, um einmarschieren zu können. Und zwar gegen achtzehn Uhr, während die wirklich aktiven, hellen und widerstandsbereiten DDR-Bürger Europawelle Saar hören. Hatte einer die Rockmusik nur erfunden, um den nächsten Krieg überraschender zu gestalten? Solche Gedanken blanker Ideologie wirbelten auch durch meinen Kopf – in den letzten Monaten damals, in denen ich täglich diesen Sender gehört hatte. Bedrängt aber von anderen Erwägungen, die harmloser und dadurch noch beunruhigender waren: die interessieren sich ja gar nicht wirklich für dich. Die denken da in Saarbrücken an sich und Europa und den Nachbarn und an die Bundesrepublik, die sie Deutschland und wir BRD nennen. (…) Die im West-Saarbrücken brauchen den Osten nicht – diese Überlegung drohte zur Gewissheit zu werden und kratzte am eigenen Selbstwertgefühl. Lieber ein Feind sein, statt sich selbst für „unwichtig“ halten zu müssen.
Es gelang mir nicht, Saarbrücken als Feind anzusehen. Obwohl ich mir die Stadt zunehmend als Burg vorzustellen begann. Eine Art Festung, um die sich Industrie versammelt hatte. Der Fluss würde schmutzig sein und die Brücken hochgeklappt, damit nicht jeder jederzeit darüber eilen konnte.
In der Industrie kriselte es, hörte ich in den Nachrichten, und Saarbrücken gehörte offenbar nicht zu den reichen Gegenden der Bundesrepublik. Andere mussten hineinzahlen. Als diese Informationen mein Bewusstsein erreichten, rückte der Ort wieder ein Stück näher. Eine Brücke der Armut schwang sich über Bayern hinweg. Thüringen und Saarbrücken, das war vergleichbarer als Thüringen und München. Immerhin lebte ich in Jena, Carl Zeiss Jena, und lernte schon während der Schulzeit den Betrieb von innen kennen. Eine Mischung aus Industriemuseum und High-Tech, das wir damals anders nannten. So stellte ich mir Saarbrücken auch vor. Zeiss Jena gehörte zum Modernsten, was die DDR zu bieten hatte. Vielleicht würde das, hoffte ich, mit den problematischeren Zonen der Bundesrepublik vergleichbar sein.
Zu der Zeit war Saarbrücken schon in mein Kofferradio geschlüpft. Es hatte sich verkleinert und war dafür mobiler geworden. Es war überall in Thüringen. Das Gerät: klein und rechteckig und in einer Hülle aus vorgetäuschtem Leder. Mit Löchern, damit die Töne nicht hängen bleiben. Deshalb bin ich vierzehn Jahre geworden, weil es dann ein Fest gab, das Geldgeschenke brachte. Die reichten für mein erstes, damals noch sehr teures Radio. Es kostete mehr als die Jahresmiete meiner ersten eigenen Wohnung im Berlin der siebziger Jahre – in Ostberlin. Doch wir sind beim „Kofferheule“ genannten Behälter, der sich nie leerte. Die Batterien mussten häufig ausgewechselt werden und ich trug Saarbrücken mit mir herum. Es tönte durch die Straßen und auf den Plätzen, auf denen ich mich mit anderen Kofferradioträgern traf, um herum zu gammeln. Denn die Gammler mit den langen Haaren waren der neuste Feind der DDR. Und wir wollten schon ein bisschen sein wie sie, ohne zu sehr Feind zu werden, weil das dann doch viel Ärger brachte. Ein bisschen „Feind“ zu sein, galt als chic und die Europawelle Saar gehörte dazu. Ich trug sie über die Schulter gehängt, vorsichtig und lässig. Ich trug sie wie ein Baby im Arm hin und her und suchte schon in der Wohnung die besten Empfangsmöglichkeiten. Meine Schwester bewunderte mich und durfte mein Radio anfassen und mich einen Berg hoch und wieder herunter begleiten. Ich schritt die Stadt ab und erarbeitete eine Karte im Kopf, wo welche Sender gut oder gar nicht zu empfangen waren. (…)
Wer sang „Kill your mother, kill your father, kill, kill, kill.” Schrieb man „kill“ nun mit einem oder mit zwei ‚l‘? Es gab Gründe, englisch zu lernen. Und die Texte zu verstehen. Jedenfalls erstreckte sich Saarbrücken über das ganze Stadtgebiet in Jena, anders als bei den UKW-Sendern. Nur auf dem Berg gestaltete sich der Empfang noch besser. Zweimal stieg ich mit einem Freund hinauf, um zwei Titel aufnehmen zu können. Per Mikrofon vom batteriebetriebenen Radio zu einem batteriebetriebenen Tonband. Wer uns beobachtet hätte, wäre den Verdacht nicht losgeworden, hier zeichneten Agenten ihre Anweisungen auf. Oder Angehörige einer (in der DDR natürlich verbotenen) Sekte betrieben okkulte Anbetungsspiele. Zum Glück wanderten die Jenaer in der Woche nicht so zahlreich auf ihre Berge, und die beiden Titel kamen fast hörbar auf das Band. Auf dem Berg rückte Saarbrücken näher. (…)
Ich war ständig mit den Knöpfen meines Kofferradios beschäftigt und schmuggelte es in die Schule, um am Nachmittag eine Hitparade zu hören. Ich schrieb alle mit und einige aus der Klasse schrieben ab. Europawelle Saar verfügte bis zum Abbruch meiner Notizen über einen festen Platz im Hitparadenheft. (…)
Jena blieb das Senderparadies und brachte den Tönekoffer zum Dröhnen. Er hätte energischer vibrieren dürfen. Um die Spannungen zu übertönen, die mich bewegten. Entscheidungen standen an. Ich musste überlegen, ob ich auf den Sommerurlaub mit den Eltern verzichtete. Denn Saarbrücken konnte ich nicht an die Ostseeküste mitnehmen. Meine Eltern wollten jedes Jahr ans Meer fahren. Weil sie am Rande eines Gebirges lebten, hielten sie Berge für nichts Urlaubswürdiges. An der Ostsee war Radioempfangswüste, besonders an der östlichen Ostsee. Auf Langwelle kam noch der Deutschlandfunk, der brachte aber zu wenig Rockmusik, um es einen ganzen Tag auszuhalten, oder gar vierzehn Tage. Die letzten Urlaube mit den Eltern waren in dieser Beziehung Folter. Wie gierig schaltete ich nach der Rückkehr Saarbrücken ein. Und saugte die Töne auf. Sie spülten den Alltag aus dem Kopf. Saarbrücken vibrierte durch das Hirn – eine billige Droge. Eine ungefährliche? Die Schule setzte einen jeden Tag neu auf Entzug.
Es dauerte noch ein paar Jahre, bis ich selbst Texte an den Rundfunk in Saarbrücken schickte. Es begann mit dem Aufnehmen einer Besprechung zu dem Roman „PLN“ des Romanisten Werner Krauss. Ich hatte in der nicht genehmigten Ostberliner Samizdat-Zeitschrift „Ariadnefabrik“ Gedanken zu diesem Buch veröffentlicht, die dem Saarbrücker Redakteur offenbar gefielen. Er schrieb den Herausgeber Reiner Schedlinski und mich an. Ich las den Text ein (im Ostberliner ARD-Studio, die DDR hatte doch glatt vergessen, in ihrem Genehmigungsdschungel an literarische Einlesungen zu denken). Ich ließ das Honorar zum Westverlag transferieren, um mir mehr von meinen im Westen verlegten Büchern kaufen und in die DDR schmuggeln zu können. Zum Beispiel von den Mitarbeitern dieses ARD-Studios. Rainer Schedlinski mochte meine Texte nicht, auch nicht jenen in der „Ariadnefabrik“. Da er aber mit der Staatssicherheit zusammenarbeitete, verpflichteten ihn die Genossen, den Kontakt zu Rathenow zu halten und ab und zu etwas in seiner Zeitschrift zu bringen. Desto eher würde ich ihm interessante Dinge sagen, die Schedlinski dann übermitteln sollte. Gerade diese Veröffentlichung, die also eher eine taktische gewesen war, entdeckte der Redakteur in Saarbrücken. Und eine Gelegenheitszusammenarbeit begann, die mein Bild von Saarbrücken wieder erweiterte. (…) Ich verwies schon auf den Gedanken, ohne die Europawelle Saar nie Dissident geworden zu sein. Ohne den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit seinen experimentier- und honorierfreudigen Literaturredaktionen hätte ich sicher keiner bleiben können.“
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Eva Röder (Gestaltung/Layout), Sven Müller und Roland Schmitt (Fotos/Recherche)