Das Geschenk eines großen Meisters

Beinahe wie Gespenster schälen sich langsam Gesichter aus den blau, rot, gelb leuchtenden Farbflecken heraus, Figuren treten hervor. Man glaubt sogar, königliche Gestalten auf einem Thron sitzen oder mit Gefolge heranschreiten zu sehen. Der Fantasie sind nur wenige Grenzen gesetzt...

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Der Fantasie sind nur wenige Grenzen gesetzt.

Beinahe wie Gespenster schälen sich langsam Gesichter aus den blau, rot, gelb leuchtenden Farbflecken heraus, Figuren treten hervor. Man glaubt sogar, königliche Gestalten auf einem Thron sitzen oder mit Gefolge heranschreiten zu sehen. Der Fantasie sind nur wenige Grenzen gesetzt. Könnte jenes blau und rot strahlende Feld nicht die farbig gefasste Röntgenaufnahme zum Beispiel eines menschlichen Beckens sein und hier diese festlich gelb und rot strahlende Fläche ein Wappen? Es gibt viel zu entdecken, wenn man sich die Zeit nimmt und die neuen Kirchenfenster im Chor der Abteikirche St. Mauritius auf sich wirken lässt. Dabei handelt es sich eigentlich nur um freie Farbformen, die sich wie bei einem Kaleidoskop horizontal und vertikal spiegeln und lebendige Muster in den drei beherrschenden Farben erzeugen.

Tholeyer Abteikirche quasi direkt neben den Kölner Dom

Auf diese drei jeweils knapp zehn Meter hohen und zwei Meter breiten Chorfenster ist das Benediktinerkloster in Tholey, ach was, das ganze Saarland, mächtig stolz. Denn diese Fenster hat nicht irgendwer, sondern Gerhard Richter entworfen – der Gerhard Richter, der bestbezahlte, weltberühmte deutsche Maler, der in der Bundesrepublik inzwischen Kultstatus genießt. Der mit seinen Entwürfen die Tholeyer Abteikirche quasi direkt neben den Kölner Dom stellt, wo er auch glaskünstlerisch Zeichen setzte und die Kulturberichterstatter in begeisterte Schnappatmung versetzte.

Eine Restaurierung mit furiosem Schlussakkord

Als man vor drei Jahren die längst fällige Restaurierung von St. Mauritius in Angriff nahm, ahnte noch niemand, dass sie in einem solchen furiosen Schlussakkord gipfeln würden. Die frühgotische dreischiffige Kirche ohne Querhaus ist mit Abstand das bedeutendste gotische Bauwerk im Saarland. Im 13. Jahrhundert erbaut erlebte und überdauerte es wilde Zeiten und Kriege. Es überstand sogar die Bilderstürmerei der Französischen Revolution zwar nicht ganz unbeschadet, aber dem unaufdringlichen Charme der Kirche konnten auch sie nichts anhaben. Dennoch, die Zeit nagte bedenklich an dem Gebäude.

Als das Benediktinerkloster die Kirche von der katholischen Gemeinde in Tholey, in deren Besitz sie seit der Revolution war, vor drei Jahren sozusagen zurückerwarb, verpflichtete es sich auch, die anstehenden Sanierungsarbeiten in die Wege zu leiten. Bei dieser Gelegenheit wollte es auch die alten Kirchenfenster durch neue ersetzen. In den 1960er Jahren hatte der Mitbruder Bonifatius Köck abstrakte Entwürfe nach Bibeltexten geschaffen, die die Notbefensterung der Nachkriegsjahre ersetzten. Doch Umwelteinflüsse hatten auch sie inzwischen stark geschädigt.

Statt sie zu restaurieren, sollten jetzt figürliche, erzählerische und deshalb leichter verständlichere Fenster die christliche Botschaft verkünden. Den dafür ausgelobten Kunstwettbewerb für die insgesamt 32 Kirchenfenster gewann das machtvolle Bildprogramm von Mahbuba Maqsoodi, eine afghanische Künstlerin mit Wohnsitz in München.

„Frechheit siegt“?

Wollte nun die Familie Meiser, Inhaberin des gleichnamigen mittelständischen Unternehmens in Schmelz-Limbach und seit Jahr und Tag großzügige Unterstützerin der Tholeyer Abtei, als Abschluss der angelaufenen Restaurierungsarbeiten einen Knaller setzen? Oder brachte sie Bernhard Leonardy, der Leiter der Musikfestspiele Saar auf die Idee? Letzterer verfügt über beste Kontakte zum berühmten Gerhard Richter. Was wäre, fragte man sich in kleiner Runde, wenn man ihn wegen der drei Chorfenster anfragen würde? Gedacht, und nach dem Motto „Frechheit siegt“, getan. Und womit niemand wirklich gerechnet hatte – Gerhard Richter sagte zu.

Das Buch "Patterns"

Richter ließ sich Fotos der Kirche und die Maße der Fenster schicken und machte sich an die Arbeit. Als Grundlage nahm er sein Buch Patterns, zu deutsch „Muster“, für das er eines seiner großformatigen expressiven abstrakten Bilder digital in immer kleinere Einheiten zerlegte und diese in sich spiegelte, wiederholte und aneinanderreihte, bis ein ganzes Buch entstand. Manche sagen, die einzelnen Seiten sähen wie Geschenkpapiermuster aus.

Tour de Kultur 2021: Die Abteikirche Tholey beamt sich in die Weltkunst

Aus diesem Buch wählte er 15 Motive für die doppelflügeligen Chorfenster aus, die horizontal in jeweils sieben sogenannte Felder gegliedert sind, mit schlanken Spitzbögen abschließen und von einem kreisrunden sogenannten Dreipass bekrönt werden. Er verdoppelte ein Motiv für eine Felder-Ebene, das nächste für die darüber liegende, spiegelte es horizontal für die dritte Ebene und sofort, bis sich das ganze Fenster aufbaut und wie ein wildes, dennoch regelmäßiges Teppichmuster aussieht.

Die beiden Chorfenster links und rechts werden dabei von den Grundfarben Rot und Blau dominiert. Im mittleren gesellt sich Gelb als gleich gewichtete Farbe dazu. Die Mönche und ihre Freunde waren von diesen Entwürfen entzückt. Wie sehr mussten sie erst aus dem Häuschen gewesen sein, als sie erfuhren, dass Gerhard Richter ihnen diese Entwürfe kostenlos zur Verfügung stellte. Warum? Vielleicht hatte er einfach Spaß daran, das Prinzip aus seinem Buch Patterns für die Tholeyer Chorfenster wiederaufzunehmen und weiterzudenken. Später würde er noch verkünden, die Tholeyer Chorfenster seien sein letztes großes Werk und würden sein Werkverzeichnis abschließen.

Eine Herausforderung für die Glasmaler

So groß die Freude über die Entwürfe war, die eigentliche Herausforderung begann erst jetzt. Verlangte doch schon die Herstellung der anspruchsvollen Maqsoodi-Fenster für die Glasmaler und Glasmalerinnen aus Saarbrücken-St. Arnual und aus München allerhöchste Handwerkskunst. Mehr noch war sie bei den Entwürfen Gerhard Richters gefordert.

Die Münchener Glasmaler und Glasmalerinnen, die die Richter-Fenster herstellten, mussten jene Fensterfelder, die das gleiche Motiv trugen, auch identisch herstellen. Und dies bei Verfahren, bei denen sich Zufälligkeiten nie ganz ausschließen lassen. Die Münchener lösten die Probleme mit Einsatz digitaler Technik, mit Ätz- und Siebdrucktechniken und mit Klebeverfahren. Von Hand wurde auch gemalt. Wie genau sie das alles bewerkstelligten – Betriebsgeheimnis. Zum Schluss klebten sie drei unterschiedlich behandelte Glasebenen hintereinander und fertig war das Motiv eines Fensterfelds.

Zweit Welten aus Licht

Wenn man heute die fast fertig restaurierte Kirche betritt, wird man von einer intimen Gotik empfangen. Es ist keine Überwältigungsarchitektur wie zum Beispiel die Metzer Kathedrale, in der man sich verlieren kann, im Gegenteil. Das gereinigte Gemäuer strahlt warm ab. Besonders an sonnigen Vormittagen schwebt ein ganz weiches Licht in der Kirche. In den Seitenschiffen erzählen die feurigen Fenster von Mahbuba Maqsoodi von Heiligen, Ordensgründern und von der Passion Christi. In den Obergaden-Lichtern des Mittelschiffes der Kirche deuten sie Bibelgeschichten aus. Und wer hinter die Orgelempore tritt entdeckt ihren monumentalen Satanssturz, in dem Mahbuba Maqsoodi über das Böse in der Welt sinniert. Er liegt den drei Chorfenstern von Gerhard Richter direkt gegenüber.

Die Richter-Fenster scheinen ein ganzes Universum von den aufwühlenden Maqsoodi-Entwürfen entfernt zu sein und in sich selbst zu ruhen. Ein wenig erinnern sie an frühgotische Kirchenverglasungen, die aus regelmäßigen, kleinteiligen Ornamenten gefügt waren und damit die göttliche Harmonie symbolisierten. Wenn man sich auf eine der Kirchenbänke setzt und sie auf sich wirken lässt, wenn aus den Farbflächen Gesichter, Gestalten, vielleicht Wappen oder gar Röntgenbilder hervortreten und wieder verschwinden, wenn jeder Lichtwechsel die Farben verändert und signalisiert, nichts ist so wie es scheint – vielleicht beginnt man dann über sich und das Leben nachzusinnen. Und dafür braucht man noch nicht einmal Christ zu sein.

Auf einen Blick

Benediktinerabtei St. Mauritius
Im Kloster 11
66636 Tholey
Tel.: (06853) 91 04 23
E-Mail: info@abtei-tholey.de
www.abtei-tholey.de

Öffnungszeiten
Werktags außer Di. 9.30 - 12.00 Uhr und 14.00 - 17.00 Uhr
So. und Feiertage 11.15 - 12.00 Uhr und 14.30 - 17.00 Uhr

Sobald es die Pandemie wieder zulässt, werden Führungen in der Kirche angeboten
Mo., Mi., Fr., Sa. 9.30 - 11.45 Uhr und 14.00 - 17.00 Uhr (Do. -16.45 Uhr)
So. und Feiertage 14.00 - 17.00 Uhr

Eintritt
Der Eintritt ist frei

Anfahrt
Von Saarbrücken aus A1 Richtung Trier, dann Abfahrt 140 in Richtung Tholey/St. Wendel/Schmelz/Lebach nehmen, rechts ab auf die B269 –Metzer Straße in Richtung Schmelz/Lebach biegen und folgen, in Tholey rechts auf die Sporstraße abbiegen. Dort finden sich auch Parkplätze.

Tipps
Eine Führung lohnt sich. Hinter der Orgelempore kann man Reste und Musterbeispiele früherer Farbfassungen der heute steinsichtigen Kirche besichtigen.

Am Ende des Klostergartens befindet sich das Besucherzentrum der Abteikirche, das derzeit wegen Corona noch geschlossen ist. Ebenso darf auch der Klostergarten noch nicht besucht werden.

Wer ein Wochenende zum Besuch der Kirche und zum Wandern rund um den Schaumberg nutzen will, kann auch, sobald es die Pandemie wieder zulässt, im Gästehaus Lioba des Klosters direkt neben der Kirche übernachten.

Gästehaus St. Lioba
Benediktinerabtei Tholey e. V.

Im Kloster 3
66636 Tholey
Tel.: (06853) 91 04 23
Fax: (06853) 91 04 47
E-Mail: gaestehaus@abtei-tholey.de

Preise
Einzelzimmer: 75,- € (ab drei Übernachtungen 70,- €)
Doppelzimmer: 100,- € (ab drei Übernachtungen 90,-€)
Doppelzimmer mit Balkon: 110,- € (ab drei Übernachtungen 100,- €)
Frühstück: 15,- €

Die Tour de Kultur 2021

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