Michael Becker-Mrotzek (Foto: Anette Edges)

Flüchtlingsintegration: "Zwei bis drei Stunden Deutschunterricht pro Tag nötig"

Das Interview führte Sandra Schick   18.12.2023 | 06:45 Uhr

Wie integriert man Flüchtlingskinder und -jugendliche am besten in die deutschen Schulen? Der Sprachforscher Michael Becker-Mrotzek befürwortet das saarländische Konzept, Kinder sofort in Regelklassen zu schicken - allerdings müssten die Schüler deutlich mehr und viel länger Deutsch-Unterricht erhalten als es hier der Fall ist.

Michael Becker-Mrotzek ist seit 1999 Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Universität Köln. Gleichzeitig ist er Mitglied der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. In der Funktion beschäftigt er sich auch mit der Weiterentwicklung der deutschen Schulen und der Frage wie diese mit ankommenden Flüchtlingskindern umgehen.

SR.de: Für ankommende Flüchtlingskinder und -Jugendliche gilt in Deutschland die Schulpflicht. Aber wie das umgesetzt wird, regeln die einzelnen Bundesländer unterschiedlich. Welche Modelle gibt es da?

Michael Becker-Mrotzek: Es gibt Bundesländer, in denen gehen die Kinder zunächst in Vorbereitungsklassen, zum Teil heißen sie Willkommensklassen oder internationale Klassen. In diesen Klassen werden ausschließlich neu zugewanderte Kinder und Jugendliche unterrichtet, die keine oder nur geringe Deutschkenntnisse haben. Dieses Modell gibt es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen.

Das andere Modell sieht vor, dass die Kinder direkt in die bestehenden Regelklassen an den Schulen integriert werden. Aus diesen Klassen werden sie dann stundenweise herausgenommen, um in einem separaten Sprachförderunterricht Deutsch zu lernen.

SR.de: Dieses zweite Modell wird ja bei uns im Saarland angewandt. Die Kinder und Jugendlichen werden direkt in die normalen Schulen in die Regelklassen geschickt. Ist das ein bewährtes Konzept?

Michael Becker-Mrotzek: Beide Modelle haben Vor- und Nachteile. Zu den Regelklassen gibt es eine recht aktuelle Studie vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Die konnte zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die in solchen Regelklassen unterrichtet werden, über bessere Sprachkenntnisse verfügen, weil sie in diesen Klassen die Möglichkeit haben, mit den deutschen Mitschülern schon Deutsch zu sprechen.

In den Vorbereitungsklassen sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, die die Sprache erst lernen. Das heißt, sie haben nicht die Möglichkeit auf dem Schulhof oder im Sportunterricht schon auf Deutsch zu kommunizieren. Der Input, das was sie an Deutsch hören und sprechen, ist im Alltag weniger.

SR.de: Also spricht Vieles für die direkte Integration die Regelklassen. Gibt es Bedingungen unter denen sie nicht funktioniert?

Michael Becker-Mrotzek: Die große Herausforderung bei der Integration in Regelklassen besteht darin, dass die Lehrkräfte auch in der Lage sein müssen, mit der größer werdenden sprachlichen Heterogenität umzugehen. Es setzt zudem voraus, dass es an der Schule Lehrkräfte gibt, die diesen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache auch qualifiziert erteilen können. Die Lehrkräfte, die das können, sind nicht so zahlreich.

Daher kann es sein, dass in bestimmten Regionen der Unterricht qualitativ hochwertiger ist, wenn man Vorbereitungsklassen hat. Während es etwa in großstädtischen Gebieten Schulen geben kann, an denen das Modell mit den Regelklassen gut funktioniert, weil sie die entsprechenden Lehrkräfte haben.

SR.de: Die Schüler, die normale Schulklassen besuchen, bekommen ja dann separat Unterricht in "Deutsch als Zweitsprache". Bei uns im Saarland gibt es keine einheitliche Regel wieviele Stunden ein Kind, das absoluter Sprachanfänger ist, pro Woche unterrichtet werden soll. Gibt es dazu Empfehlungen?

Michael Becker-Mrotzek: Wir haben uns mit der Frage der Empfehlungen im Jahr 2015 hier am Mercator-Institut auseinandergesetzt. Wichtig ist, dass die Schulen einen gewissen Spielraum haben. Weil die Gruppe der ankommenden Schüler ja genauso heterogen ist wie die Gruppe der Schüler, die schon hier sind. Es gibt Schüler, die haben in ihrer Heimat schon eine Fremdsprache gelernt. Sie haben schon Erfahrungen darin, wie man Sprachen lernt. Die kommen sicher mit weniger Unterricht aus.

Wenn sie aber einen Jugendlichen haben, der drei Jahre auf der Flucht war und vorher auch keinen Unterricht hatte, der vielleicht auch nur rudimentär über Kenntnisse im Schriftsystem verfügt, etwa im Kyrillischen oder Arabischen. Dann braucht dieser Schüler deutlich mehr Unterricht.

Die Schulen brauchen hier also gewisse Freiräume, innerhalb deren sie sich entscheiden können, welcher Schüler wieviel Unterricht bekommt.

Eine Faustregel ist aber, dass gerade im ersten Jahr etwa die Hälfte des erteilten Unterrichts Deutsch-Förderung sein sollte. Also bei 28 Wochenstunden sollten 14 Stunden Sprachförderung sein.

Bei fünf Tagen in der Woche also zwei bis drei Stunden DAZ-Unterricht pro Tag.

SR.de: Diese Stundenzahl von 14 Stunden bzw. der Hälfte des erteilten Unterrichts erreichen wir im Saarland in der Regel nicht. An den meisten Schulen werden ankommende Flüchtlinge deutlich weniger als zehn Stunden pro Woche in DAZ unterrichtet. Meist besuchen sie zudem Regelklassen, in denen ein Großteil der Kinder zugewandert sind, oft wenige oder schlechte Sprachkenntnisse hat. Was folgt daraus? Kann so Integration überhaupt gelingen?

Michael Becker-Mrotzek: Je mehr sprachlichen Input die Schüler bekommen und je mehr Gelegenheit sie selber zum Sprechen und Schreiben haben, desto besser gelingt der Spracherwerb. Bei zu wenig Stunden dauert es länger.

Darüber hinaus wissen wir, dass nach der ersten intensiven Phase von ein oder zwei Jahren die Förderung die nächsten drei bis fünf Jahre systematisch in einem geringerem Umfang weitergehen muss. Sonst können wir sogar Rückschritte beobachten.

SR.de: Das Alter spielt sicher auch eine wichtige Rolle, oder? Wie sieht es denn mit Jugendlichen aus, die vom Alter her kurz vor ihrem Schulabschluss stehen? Was braucht es, damit sie den Anschluss schaffen und nicht ohne Abschluss von der Schule gehen?

Michael Becker-Mrotzek: In der Tat braucht es bei älteren Jugendlichen andere Maßnahmen. Im Berufsschulalter kann das Erlernen der Sprache mit praktischen Tätigkeiten gekoppelt werden. Beispielsweise in einer Ausbildung. Wichtig ist aber, zunächst den Stand zu erheben. Die meisten kommen ja nicht mit Nichts.

Die Eingangsberatung, die in den Bundesländern unterschiedlich organisiert wird, ist da sehr wichtig. Sie erhebt, was die Schüler schon mitbringen. Das ist der individuelle Ausgangspunkt.

SR.de: Wie kann den so eine Eingangsberatung aussehen? Wie machen das andere Bundesländer?

Michael Becker-Mrotzek: Es gibt Länder wie NRW, die haben kommunale Integrationszentren. Die führen Gespräche, erheben den Sprachstand, schauen sich die Schulbiografie oder Berufsbiografie an. Und sprechen dann Empfehlungen aus, wo dieses Kind oder der Jugendliche zur Schule gehen soll, damit da auch ein Plan dahinter steckt.

Das wird für alle ankommenden Kinder und Jugendliche in NRW gemacht. Es gibt auch Leitfäden für diese Erstinterviews, da sitzt eine ganz andere Expertise dahinter, als wenn das jede Schule und jede Lehrkraft für sich selbst macht.

SR.de: Was müsste denn aus ihrer Sicht noch passieren, damit Flüchtlingskinder und -Jugendliche besser in den Schulen integriert werden?

Michael Becker-Mrotzek: Wir haben eigentlich seit die ersten Gastarbeiter in den 60er ankamen immer wieder Zuwanderung gehabt. Es gab große Flüchtlingskrisen als Folge von Kriegen, und was man immer über diese lange Zeit beobachten kann: Das System war immer überrascht, dass dann auch plötzlich Kinder und Jugendliche hier ankommen, die kein Deutsch können.

Man hat jedes Mal wieder von Neuem angefangen. Das was man schon einmal aufgebaut hatte an Strukturen, wurde zurückgefahren, sobald die Zuwanderungszahlen wieder etwas zurückgingen. Dann stiegen die Zuwanderungszahlen wieder, und man hat wieder von Neuem angefangen alles aufzubauen.

Eine der wichtigsten Aufgaben besteht sicher darin, ein dauerhaftes System aufzubauen. Das ist sicherlich eine der zentralen Aufgaben.

SR.de: Also längerfristige Konzepte statt immer nur Reagieren auf eine aktuelle Flüchtlingsbewegung?

Michael Becker-Mrotzek: Ja genau.

SR.de: Vielen Dank für das Gespräch Herr Becker-Mrotzek.


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