Mehr Chancen – Ausbildung für autistische Jugendliche

Jugenddorf bereitet autistische Jugendliche auf das Berufsleben vor

Barbara Lindahl / Onlinefassung: Kasia Hummel   02.03.2024 | 21:01 Uhr

Mittendrin statt nur dabei: Das ist das Motto des Christlichen Jugenddorfes (CJD) in Homburg bei der Ausbildung autistischer Menschen. Sie sollen so im Arbeitsleben und in der Gesellschaft erfolgreich integriert werden. Ein Vorhaben, das jetzt zertifiziert und ausgezeichnet wurde.

Er hat hier seinen Platz gefunden: Im Christlichen Jugenddorf (CJD) in Homburg steckt Timon Klink gerade mitten im zweiten Ausbildungsjahr zum Betriebselektroniker. Arbeits- und Lernbedingungen sind speziell auf seine Bedürfnisse als Autist ausgerichtet.

Es gibt eine ruhige Atmosphäre ohne laute Musik und auch sein Arbeitsplatz ist besonders organisiert. „Wir haben von Anfang an strukturierte Pläne, wie wir unseren Arbeitsplatz halten sollen, damit das leichter fällt und man alles ordentlich macht“, erklärt der Auszubildende. 

Ausbildungseinrichtung für Jugendliche mit speziellem Förderbedarf

Das CJD ist eine Ausbildungseinrichtung für Jugendliche mit speziellem Förderbedarf, zurzeit für insgesamt 380. Davon sind 55 Autisten. Der Fachbereich Elektronik ist für sie besonders geeignet.

„Gerade im Bereich Elektro ist alles strukturiert, genormt und digital. Da gibt es schwarz, weiß und keine Grauzone“, so Jörg Beicht, Ausbilder im Bereich Elektro. Für Menschen aus dem Autismusspektrum sei das sehr gut geeignet.

Autismus gerechtes Berufsbildungswerk

Im Sommer 2023 wurde das CJD mit dem Zertifikat „Autismusgerechtes Berufsbildungswerk“ ausgezeichnet. Dafür mussten 65 Prüfkriterien erfüllt werden, um spezielle Lern- und Ausbildungsbedingungen zu schaffen. Denn das Gehirn autistischer Menschen arbeitet anders. 

„Bei Autisten fällt die Filterfunktion quasi weg und alle Reize erreichen das Gehirn, sodass Autisten ständig einer Flut von Reizen ausgesetzt sind“, erklärt die Leiterin des Fachteams Autismus, Dr. Bärbel Rodemer. Das führe dazu, dass sie leicht in eine Reizüberflutungssituation hineingeraten und die verursache bei ihnen Stress.

Hinweisschilder sollen mehr Klarheit schaffen und Stress minimieren. Wie im Ausbildungsbereich für die Bürofachkräfte. Einkauf, Verkauf oder Marketing gehören hier zu den Themengebieten. Trennwände schaffen eigene Arbeitsbereiche, alle Schränke sind beschriftet und auch die Organisation der Aufgaben wurde angepasst.

Individuelle Absprachen sollen Arbeit erleichtern

„Bei uns in der Abteilung besprechen wir zum Beispiel, wer am besten was macht. Wir versuchen, auf uns Acht zu geben", so der Auszubildende im Büromanagement, Marco Schwarz. Es gebe Leute, die kommen zum Beispiel besser mit Telefondienst klar und andere, die machen den Postdienst.

„Es ist vor allem wichtig, dass alles klar visuell erkennbar ist“, erklärt Patrik Kohlhoff, Ausbilder im Einkauf, Verkauf und Marketing. Die Arbeitszeit der Azubis ist unterdessen flexibel. „Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo man merkt, dass die Aufmerksamkeit wegdriftet und auch eine Ruhezeit gebraucht wird.“

Dafür gebe es einen Ruheraum, in den die Mitarbeiter dann auch unkompliziert hingehen können, um die Arbeit zu unterbrechen – auch während der Ausbildung, erklärt Kohlhoff. In einem so genannten Autismuskoffer finden sie dort Kopfhörer zum Musikhören, Entspannungsbälle oder Schreib- und Malutensilien.

So viel Selbständigkeit wie möglich

Weiterer Baustein des Projektes ist das Internat des CJD. Dort wohnt Marco Schwarz. Alles im Wohnbereich und in der Gemeinschaftsküche ist strukturiert und beschriftet. Mit dem Ziel: so viel Selbständigkeit wie möglich für die autistischen Jugendlichen.

Jana Klein ist seit 2023 Teamleiterin im Wohnbereich. Auch Sonderwünsche versucht sie zu erfüllen. „Die Einzelzimmer sind von der Ausstattung eigentlich gleich.“ Alle Zimmer sowie die Zugänge zu den Bädern seien alle absperrbar.

„Man kann aber natürlich auch Anpassungen treffen, wenn jemand sehr lichtempfindlich ist.“ Es sei möglich extra Rollos anzubringen, um die Räume abdunkeln zu können oder „Bitte nicht stören“-Schilder zu benutzen, damit nicht den ganzen Tag geklopft wird.

Bereits 250 autistische Menschen ausgebildet

In den vergangenen zehn Jahren hat das CJD 250 autistische Menschen ausgebildet und viele in die Arbeitswelt integriert. Auch dank Bewerbungstraining und Weiterbegleitung im ersten Jahr nach einer abgeschlossenen Ausbildung.  

Sich auf den Lorbeeren auszuruhen, ist für die Leiterin des Fachteams Autismus aber keine Option. „Wir wollen natürlich die Qualität erhalten und müssen in drei Jahren zu einem Reaudit antreten“, erklärt Rodemer. Dementsprechend müsse die Qualität weiter verbessert werden. „Es gibt keinen Stillstand, es geht immer weiter vorwärts.

Ansporn und Verantwortung gleichermaßen

Das ist auch das Credo von Lukas Schuff. Er hat im CJD seine Ausbildung als Bürokaufmann absolviert, als Jahrgangsbester im Saarland. Seit 2019 ist er nun in der Haustechnik angestellt. „Ich hab hier meine geregelte Routine, die ich brauche“, erklärt Schuff. Sich immer wieder auf neue Sitationen einzustellen, falle ihm hingegen schwer.

Seine Erfolgsgeschichte soll andere autistische Jugendliche motivieren. Die Zertifizierung als „Autismusgerechtes Berufsbildungswerk“ ist nun Ansporn und Verantwortung gleichermaßen.

Über dieses Thema wurde auch in der Sendung "Wir im Saarland - Das Magazin" am 29.02.2024 berichtet.


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