Der "Menschfresser"

Der Hartmannsweilerkopf erinnert an die Schlachten des Ersten Weltkriegs

 

Am Hartmannsweilerkopf im Elsass ist die Geschichte des ersten Weltkriegs immer noch lebendig. Die Besucher können in Laufgräben und Befestigungen nachempfinden, unter welchen Umständen hier Soldaten jahrelang um den Berg gekämpft haben.

(01.08.2014) Der Bergkamm des Hartmannsweilerkopfes oder Hartmannswillerkopf oder le Vieil Armand überragt die Elsassebene. Wer diesen Berg im Süden der Vogesen in Besitz hat, kontrolliert die Pforte nach Frankreich. Und so kämpfen im Ersten Weltkrieg Deutsche und Franzosen erbittert um den Felsen: 30.000 Tote, kein Sieger. Hundert Jahre nach Kriegsbeginn wird der Hartmannsweilerkopf zum Deutsch-Französischen Gedenkplatz: Krypta und Schlachtfeld wurden restauriert, ein Deutsch-Französisches Museum soll entstehen.

Das Schlachtfeld – ein Besuch

Es wird Regen geben. Dunkle Wolken ziehen vom Vogesenkamm zum Hartmannsweilerkopf. Ich bin über den geschotterten Waldweg durch die kleine Senke gewandert und steige nun an der rechten Flanke des Berges in das Gewirr aus Laufgräben, Granatentrichtern, Bäumen und Büschen ein. Der Weg wird zum schmalen Pfad, gesäumt von hügeliger Landschaft, die links von mir ansteigt, rechts abfällt. Er schlängelt sich, durchschneidet wie ein Fremdkörper die Choreographie, die 100 Jahre zuvor hier oben entstanden ist: die runzelige, zerfurchte Haut des Berges, der zerbohrte, zerhackte Felskörper eines gestürzten Giganten. Das eintätowierte Drama sinnlosen Schlachtens auf 1.000 Metern Höhe.

Erste Regentropfen fallen, als ich den Unterstand sehe: geduckt, überwuchert, Teil der Umgebung, ein kleines Loch mit Treppenabgang – ein abri (Schutzbunker). Ich schlüpfe durch die kleine Türöffnung und stehe im Halbdunkel. Nach vorne öffnet sich eine schmale Schießscharte, nach hinten der Laufgraben. Die Steinmauern sind teils gemörtelt, teils aus grob gehauenem Granit gesetzt. Durch den Laufgraben geht es bergauf, dann folgen Abzweigungen, das Gewirr setzt sich fort.

Die Deutschen Truppen hatten sich nach der großen Schlacht 1915 auf der Nordostseite des Berges vollständig eingerichtet: Unterstände, Gräben, Bunker, unterirdische Gänge, elektrische Leitungen, Wasserrohre – und Stacheldraht, Minen, Maschinengewehre, Granatwerfer, Drahtseilbahnen. Sie wollten den Berg auf alle Fälle halten – im Rheintal standen die Truppen, bereit, Richtung Paris vorzudringen. Doch die Franzosen hatte ihre Artillerie weiter oben stehen und die Südwestseite des Berges eingenommen. Achtmal wechselte die Bergkuppe zwischen 1914 und 1918 den Besatzer – ein strategischer Punkt, der 30.000 Soldaten das Leben kostete auf beiden Seiten.

Der Wanderpfad zweigt ab: 30 Minuten bergab zum Serret-Monument. Den Berg runter: haufenweise Stacheldraht, rostig, mit gedrehten Eisenstäben, daneben Granattrichter und überwucherte Mauern der Hauptverbindungsgräben. In die Stille des Waldes prasselt der Regen, zwischen den Ameisenhaufen hindurch verläuft der Weg im Zickzack, hin und wieder rostige Wellbleche aus den ehemaligen Unterständen. Ich bleibe stehen, vor mir der Ausblick auf das Rheintal, auf Cernay, wo der deutsche Soldatenfriedhof liegt. Luftlinie vier Kilometer. Dieser Pfad führt mir zu weit den Berg hinunter, ich kehre um und klettere durch den verwunschenen Wald zurück – streckenweise erinnert er mich an die Mittelerde von Tolkien – Zeuge längst vergangener, blutiger Schlachten. 1916 stand hier kein Baum mehr.

Infanterie und Jäger, Kavallerie, Feld- und Fußartillerie, Pioniere, Nachrichtentruppen, Kraftfahrtruppen, Sanitätskorps, Flugwaffe, Armierungstruppen – die deutschen Truppenteile halten den Berg bis Ende des Krieges 1918. Täglich wird gekämpft – Sommer und Winter, im Regen, im Schnee, in der Hitze. Die Franzosen hatten Gebirgsjäger eingesetzt, Huskies zur Versorgung über die Route des Crêtes. Gewonnen hat niemand.

Immer mehr Laufgräben und Befestigungen weisen mir den Weg zum zentralen Verteidigungsfeld der deutschen Seite. Die unterirdischen Gänge und Räume werden größer, tiefer, dunkler. Eine Taschenlampe, vielleicht ein Helm würden helfen. So bleibt mir nur eine vage Ahnung von den Tiefen der dunklen Löcher in Unterständen, die „Bremer Ratskeller“ oder „Wartburg“ getauft wurden. Kleine rote Zeichen weisen mir den Weg zur Felskante, auf der das weiße Eisenkreuz der freiwilligen Zeitsoldaten aus Elsass-Lothringen steht (Croix des engagés volontaires d’Alsace-Lorraine). Schon 1919 haben sie es auf dem nördlichsten Felspunkt aufgestellt. Die gesamte Felskuppe ist unterhöhlt, befestigt, zerfurcht. Ich gehe ein Stück weiter bergab, immer Richtung Monument du 15/2. Die überlebensgroßen französischen Kämpfer kleben in Kampfhaltung unterhalb der Felsspitze und weisen den Weg zu den deutschen Stellungen. Es sind die Jäger „mit dem roten Rock“ – von den Deutschen „Rote Teufel“ getauft – sie waren zähe, erfahrene Gebirgsjäger aus den Alpen. Auch sie haben ihren Teil zu den Beinamen des Berges beigetragen Menschenfresser und Grab der Jäger.

Ich wähle den Abstieg zum deutschen Jägerdenkmal. Ein schmaler Pfad oberhalb eines Geröllfeldes, gut 300 Meter bergab zu einer kleinen Felskante. Hier sind Gedenkplatten für gefallene Regimenter angebracht: Lauenburg, Aachen, Potsdam, Baden, Württemberg. Auch hier ist die Aussicht hervorragend: Wattwiller, Hermanswiller, Guebwiller. Aus dem Tal schallen Kirchenglocken herauf, der Regen ist weniger geworden. Es hat etwas von Feuerpause, diese Mittagspause 2014. Zurück klettere ich am Zündmaterialraum vorbei – eine riesige Bunkeranlage unterhalb der Geröllhalden – rostige Drehscheiben für Maschinengewehrstände oder Minenwerfer liegen vor den Eingängen, dahinter grob zu Gängen und Hallen ausgehöhlter Fels. Bergauf vorbei an 100 Jahre alten Tornistern im Wald, verbogenen Eisenbahnschienen, die zur Befestigung dienten (und auf denen noch immer BVG Bochum 1884 zu lesen ist) geht es an den Fuß des Felssporns: verfallene Kasernengebäude, Höhlen. In einer stehen die rostigen Reste eines Kompressors, gleich daneben das 100 Jahre alte Zahnrad, das ein Lastenseil den Berg hinauf gezogen hat. Die Unterstände verfallen immer stärker, Freiwillige versuchen, dem Einhalt zu gebieten.

Der Regen hat mittlerweile die Laufgräben und Wanderpfade mit schlammigen Pfützen gefüllt, rutschig geht es weiter auf dem rund viereinhalb Kilometer langen Rundweg, der von der deutschen Verteidigungslinie auf das Mahnmalplateau führt – zum Kreuz des europäischen Friedens (Croix de la Paix en Europe). Hier liegen die vordersten Gräben beider Kriegsparteien keine 25 Meter auseinander, einzelne Horchposten sogar nur 15 Meter voneinander entfernt. Das Husten des Gegenübers, der Geruch des Feindes – all dies haben die Soldaten in den Gräben wahrgenommen. Manchmal gab es Überfälle des Gegners, um Waffen, Munition, Essen oder Treibstoff zu stehlen. Manchmal gab es Scharmützel durch die Stoßtruppen – immer gab es auf beiden Seiten Soldaten, deren Füße erfroren sind, die verletzt, verstümmelt, getötet wurden – vier Jahre lang. Auch daran erinnern die Linien und Unterstände, die das Plateau im Staatswald geformt haben.

Nécropole – und Monument National

Nach drei Stunden und gut fünf Kilometern Rundweg kehre ich durchnässt und schmutzig zurück, durch die Senke unterhalb des Schlachtfeldes geht es entlang der über 1.200 Steinkreuze des französischen Soldatenfriedhofs (Nécropole Nationale) zum Nationaldenkmal bergauf (Monument National).

Als ich mich abschließend noch mit Gilbert Wagner vom Komitee des nationalen Denkmals am Hartmannsweilerkopf unterhalte, erzählt er mir von den Plänen für ein neues Museum (Historial), das vor der Gedenkstätte entstehen wird. Die Grundsteine dazu kommen von den Präsidenten Gauck und Hollande. Das finde er sehr gut, sagt Gilbert Wagner. Er ist seit 25 Jahren Freiwilliger Helfer an der Gedenkstätte und auf dem Schlachtfeld. Das hat, wie der Mittsechziger aus dem Elsass beiläufig erwähnt, familiäre Gründe. Sein Großvater und sein Schwiegergroßvater haben beide hier oben gekämpft – gegeneinander, beide haben überlebt. Der Großvater seiner Frau war Deutscher und ging einmal die Woche vom Schlachtfeld hinunter nach Guebwiller, um als Zahlmeister den Sold der Soldaten abzuholen. Im Ort hat er ein elsässisches Mädchen kennengelernt und geheiratet. Mit dieser Geschichte im Kopf fahre ich die zehn Kilometer hinunter in die Rheinebene und bin mir bewusst, dass es Schlachtfelder gibt, die auch nach 100 Jahren noch immer entdeckt werden sollten. Der Hartmannsweilerkopf, le Vieil Armand gehört dazu.

Jochen Marmit


Kontakt

Comité du Monument National de l’Hartmannswillerkopf
Maison du Tourisme1, rue Camille Schlumberger
F-68008 Colmar
Tel.: (00333) 89 20 10 51
E-Mail: adt@tourisme68.com

Office du Tourisme de Cernay
1, rue Latouche
F-68700 Cernay
Tel.: (00333) 89 75 50 35
www.cernay.net

Gedenkstätte/Krypta
Route des Crêtes
F-68700 Wattwiller
Tel.: (00333) 89 20 45 82

Öffnungszeiten

Der Rundweg ist von April bis November geöffnet.
Gedenkstätte/Krypta: Di. – So.: 10.00 – 17.00 Uhr (Mittagspause!)

Tipp

Festes Schuhwerk, Regenschirm, Taschen­lampe nicht vergessen! Vorsicht: Die Bunker sind fast alle geöffnet und auf eigene Gefahr begehbar; rostige Eisenteile im Boden und in der Decke sind möglich! Bitte bleiben Sie auf den ausgeschilderten Wegen, Geröll und Krater sowie Tunnel machen das Querfeldeinlaufen zu einem lebensgefährlichen Unterfangen!

Anfahrt

Von Saarbrücken über A 4 und A 35 an Straßburg und Colmar vorbei bis Mulhouse, dort auf A 36 Richtung Belfort, Abfahrt Cernay auf N 66, weiter auf D 83, Abfahrt Uffholz Richtung Grand Ballon und Vieil Armand/ Hartmannsweilerkopf (ausgeschildert) – das ist die schnellste Route, circa 270 Kilometer. Alternative: bis hinter Colmar auf A 35, dann Abfahrt 29 Richtung D 8-Rouffach, dort die D 83 bis Cernay/Uffholz (250 Kilometer, schöne Route).



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