Brunners Welt: "Selbstverständlichkeiten"

  11.10.2013 | 07:50 Uhr

Sendung: Samstag 12.10.2013 8:40 Uhr

Brunners Welt

Nr. 438: "Selbstverständlichkeiten"

(12.10.2013) Nicht dass Sie denken, ich liefe ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herum. Selbstverständlich nicht. Wäre auch nicht unbedingt hilfreich – es liest sich in dieser Haltung so schlecht. Und ein gelegentlicher Blick in dieses Grundsatzwerk unseres Staates kann ja durchaus erhellend sein.


In der SR-Mediathek können Sie die Glosse auch online hören:


In Artikel 16a beispielsweise steht „Politisch Verfolgte genießen Asyl“. Früher war das Satz 2 des Artikels 16. Und nach diesem Satz Punkt und Schluss. Seit 1993 aber folgen weitere vier lange Paragrafen, in denen umständlich klar gemacht wird, in welchen Fällen das mit dem Asyl eben doch nicht so klappt. Das ganze nannte sich mal „Asylkompromiss“ und sorgt seit nunmehr 20 Jahren dafür, dass die Quote der positiv beschiedenen Asylanträge bei unter 2 % liegt. Der Rest erleidet die, wie es im Gesetz heißt: „Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen“.

Selbstverständlich bedeutet das viel Aufwand und manchmal schlechte Presse. Viel besser wär's doch, die Flüchtlinge kämen erst gar nicht nach Deutschland. Denn so oft auch die Kanzlerin aller Deutschen in den letzten Monaten beteuert hat: „Deutschland geht es gut“ - sobald es um die Aufnahme von mehr Flüchtlingen geht, heißt es „Das Boot ist voll“. Womit wir direkt vor Lampedusa wären. Dort sind die Boote auch voll.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten kamen 25000 Flüchtlinge bei dem Versuch ums Leben, über den Atlantik oder das Mittelmeer Europa zu erreichen. Diesmal waren es 300 Menschen auf einmal, die unmittelbar vor der Küste Italiens ertranken. Seitdem schwappen die trüben Wellen öffentlicher Betroffenheit aus allen Kanälen über uns herein. Selbstverständlich bleibt es nicht bei Reden – ganz konkrete Maßnahmen werden ergriffen. 30 Millionen Euro läßt die EU springen – zum Ausbau des Flüchtlingslagers auf Lampedusa.

Italiens Staatspräsident verleiht allen ertrunkenen Flüchtlingen die italienische Staatsbürgerschaft und spendiert ihnen ein Staatsbegräbnis. Selbstverständlich laufen unterdessen die Ermittlungsverfahren gegen die 155 Überlebenden wegen illegaler Einreise. Nur ein toter Flüchtling ist eben ein guter Staatsbürger. Ganze 340 Millionen Euro tut das Europaparlament raus für Eurosur, das neue „european border surveillance system“, das helfen soll, die Grenzen Europas noch besser zu überwachen. Wohlgemerkt: Dabei geht es nur um den Ausbau von Kommunikationsstrukturen unter den Behörden. Zuschauen können wir den Schiffbrüchigen beim Ertrinken schon lange, in Farbe und HD. Die Behörden wissen bloß bislang nicht schnell genug, wen sie anrufen müssen, um Hilfe zu organisieren. Italienischen Fischerbooten, die helfen wollen, droht ein Verfahren wegen Beihilfe zur illegalen Einreise.

Immerhin haben sich  die EU-Innenminister am Dienstag in Luxemburg auch über Asylpolitik unterhalten. Von Deutschlands Innenminister Friedrich erfahren wir dazu, die bestehenden Regeln zur Aufnahme von Flüchtlingen blieben "selbstverständlich" unverändert. Stattdessen fordert Hau-Ruck-Friedrich in gewohnter Hemdsärmeligkeit von der EU „mehr Härte“ gegen die Armutseinwanderung.

Meine Nachbarin Barscheck sagt, sie könnte gar nicht so schnell kotzen, wie ihr von diesem Geschwätz schlecht wird. Aber so drastische Worte nehmen wir  hier nicht in den Mund. Selbstverständlich nicht.



Brunners Welt

Jeden Freitagnachmittag in "SR 2 - Der Nachmittag" und als Wiederholung jeden Samstagmorgen gegen 8.40 Uhr in "SR 2 - Der Morgen"!

Brunner hält für SR 2 die Augen offen. Und wenn er was nicht mitkriegen sollte, dann wird ihn Frau Barscheck, seine Nachbarin, schon mit der Nase drauf stoßen. Dann kann er sich nämlich seine Gedanken darüber machen, was wichtig ist und wo die Trends der Zeit zu spüren sind.

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