Giulia Baldelli: "Das Schweigen meiner Freundin"
Giulia Baldellis Roman "Das Schweigen meiner Freundin" erzählt von Liebe jenseits aller Grenzen und wurde in Italien als literarische Überraschung gefeiert. Das dialogreiche Debüt aus Bologna braucht keinen Vergleich mit Elena Ferrante, meint Katrin Hillgruber.
Dass man in der Liebe loslassen muss, um glücklich zu werden, ist eine oft wiederholte Binsenweisheit. Die Dreiecksgeschichte, die Giulia Baldelli in ihrem Roman „Das Schweigen meiner Freundin“ erzählt, führt die Wahrheit dieser Erkenntnis jedoch ebenso spannend wie variantenreich vor.
Eine Freundschaft über Jahrzehnte
1991 verbringt die zehnjährige Giulia ihre großen Ferien wie immer im Hinterland der Marken, in einer Kleinstadt am Fluss. Dort begegnet sie der siebenjährigen Cristi: blond, rätselhaft und voller Energie. Cristi findet bei ihrer flatterhaften Mutter keinen Halt und soll nun bei ihrer Großmutter Ida leben.
Giulia ist vom ersten Augenblick an von Cristi fasziniert und fühlt sich ab diesem Zeitpunkt für sie verantwortlich. Und Giulia ist es auch, aus deren Perspektive Giulia Baldelli die Geschichte dieser Freundschaft in sechs großen Kapiteln und über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt.
Als ich um die vierzig war, habe ich begriffen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es fühlte sich wie ein Hintergrundgeräusch an, das mich ständig vom Hier und Jetzt ablenkte. Es handelte sich um einen unerhörten Teil von mir, der nach Ausdruck suchte. Es war im Juni, die Sonne knallte auf den Küchentisch meines Lieblingshauses, und ich fing an zu schreiben. Da hat eine Geschichte Form angenommen, in der ich als erste Cristi vor mir sah, das blonde, etwas resigniert wirkende Mädchen, zart, aber auch gefährlich. Und ich habe sie gleich durch die Augen eines anderen Mädchens gesehen, dunkelhaarig, viel beherrschter und rationaler. Und das ist Giulia.
Zwischen Vertrautheit und Eifersucht
Doch bald schon stört ein dritter die enge Freundschaft: Mattia, der die Außenseiterin Cristi instinktiv versteht – und die rationale Giulia eifersüchtig macht. Dieses Trio wird sich nie mehr auflösen, selbst wenn Giulia lange Zeit nichts mehr von Cristi hört. Doch eines Tages trifft sie in Bologna, wo sie Jura studiert, die Kindheitsfreundin wieder. Die Handlungsorte ihres Romans haben für Giulia Baldelli eine besondere Bedeutung:
Die erste Landschaft im Roman wird von einem Fluss durchquert, der eine sehr wichtige Rolle spielt, er ist fast schon eine Romanfigur. Dieser kleine ländliche Ort ist die Heimat meiner Familie väterlicherseits. Und dann ist da der andere Schauplatz: Bologna, wo ich die Universität besucht habe und seitdem lebe. Das Bologna dieses Romans ist die Stadt, die dich aufnimmt und versteht und dir Freiheit gewährt. In Bologna nimmt die Liebe zwischen Giulia und Cristi Gestalt an, in einer Körperlichkeit, die es mich drängte zu beschreiben. Bologna ist auch eine politische Stadt, Schauplatz der antikapitalistischen Demonstrationen Anfang der 2000er Jahre. Sie nehmen im Roman aber eher eine individuelle als eine kollektive Richtung – mehr möchte ich im Interesse der Leser und Leserinnen aber nicht spoilern.
Gelungene Übersetzung mit kleinen Abstrichen
„Der Sommer, der bleibt“ heißt das Buch im Original, was viel besser passt als „Das Schweigen meiner Freundin“. Elisa Harnischmacher hat den dialogreichen Pageturner geschickt übersetzt, wenn sie auch gelegentlich auf unpassende Redewendungen wie „vom Leder ziehen“ zurückgreift, wenn es um eine Unterhaltung unter Kindern geht.
Immer wieder muss Giulia der labilen Cristi zu Hilfe eilen, auch als sie längst als Anwältin in einer angesehenen Kanzlei arbeitet. Cristi ist im wahrsten Sinn eine Femme fatale, ein Irrlicht, das alles durcheinanderbringt.
Bei Cristi handelt es sich um eine ungezähmte Figur, die sich am ehesten selbst erfunden hat. Literarische Vorbilder für sie hatte ich eigentlich nicht, aber sie setzt sich aus Stückchen und Fragmenten von Frauen zusammen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, die ich möglicherweise bewundert oder beneidet habe. Und von diesen Stückchen gehört das eine oder andere auch zu mir.
Liebe jenseits der Konventionen
Giulia Baldelli wurde 1979 in Fano an der Adria geboren. Heute lebt sie als Dozentin für pharmazeutische Chemie mit ihrer Familie in Bologna. Ihr später, atmosphärisch reicher und durchaus melodramatischer Debütroman aus der Mitte Italiens feiert nicht zuletzt die Liebe jenseits aller Konventionen. Seiner Faszination kann man sich nicht entziehen.
Der SR kultur-Buchtipp:
Giulia Baldellis: "Das Schweigen meiner Freundin"
Aus dem Italienischen von Elisa Harnischmacher
DuMont Buchverlag
496 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-8321-6800-1
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 01.10.2024 auf SR kultur.