Hartmut Lange: „Der etwa vierzigjährige Mann"
Mit Büchern wie »Die Wattwanderung«, »Die Stechpalme« oder »Schnitzlers Würgeengel« erschrieb sich der inzwischen 88-jährige Berliner Schriftsteller Hartmut Lange den Ruf eines Meisters der Novelle. Nun hat Lange einen Band mit drei neuen Texten dieser Gattung vorgelegt, in denen er seine Protagonisten auf aberwitzige Zeitreisen schickt. Peter Henning hat die Sammlung „Der etwa vierzigjährige Mann“ gelesen.
Die einen sehen in ihm einen furchtlosen Geisterseher in der Tradition Guy de Maupassants; andere werden nicht müde, ihn als ins Abgründige vernarrten Vivisekteur unserer Alpträume und verdrängten Ängste zu preisen; so oder so verstand es der Berliner Schriftsteller und Dramatiker Hartmut Lange in seinen zahlreichen feingeschliffenen Novellen regelmäßig, solange mit den sich einstellenden Ahnungen des Lesers zu spielen, bis dieser das Gefühl hatte, in eine Kriminalgeschichte geraten zu sein. Das Resultat war spukhaftes Welttheater um Sein und Nichtsein auf allerengstem Raum. Dabei genügten bereits ein leises Wimmern hinter einer Tür, das nächtliche Sirren einer losen Dachrinne oder der Schatten im Hintergrund einer Fotografie, um in seinen Figuren die Motorik des Schreckens in Gang zu setzen.
In seinen neuen, unter dem Titel „Der etwa vierzigjährige Mann“ vorliegenden Novellen hat Lange sich von diesem Konzept verabschiedet - und sich aus den bislang beschriebenen realen Berliner Schauplätzen zurückgezogen, an denen seine Geschichten spielten. Stattdessen versetzt er seine Protagonisten zurück in vergangene Zeiten, um sie historische Orte besuchen zu lassen, an denen die Geschichte Ihnen noch einmal ihr grimmiges Antlitz präsentiert. Beginnend mit Titelstück der Sammlung, in welchem wir zu Beginn dem etwa 40-jährigen Mann dabei zusehen, wie er sich am Ufer der Elbe stehend Hemd und Hose vom Leib reißt, um sich stattdessen ein historisches Kleidungsstück überzuziehen: eine Tunika.
Und nun geschah etwas, das den merkwürdigen Anblick dieses Mannes, er war dabei, den Gürtel über der Tunika zu binden, übertraf. Die Bäume ringsherum verschwanden, sodass man plötzlich die Brücke sah, auf der aber keine Autos, sondern eine Carruca auftauchte und direkt in Richtung Ufer, genauer dorthin fuhr, wo der Mann mit der Tunika stand. Sekunden später saß er, und dafür gab es keine Er-klärung, auf der mit Tuch überzogenen Bank ebenjener Carruca.
So folgen wir dem etwa 40-jährigen durch unterschiedlichste Epochen und Länder, die er in der Carruca sitzend ansteuert, um große Kunstwerke an ihren Originalschauplätzen zu besichtigen. Den in der Versenkung in die berühmten Kunstwerke erhofften Trost aber findet er nicht. Denn wohin es ihn auf seiner Zeitreise auch verschlägt -allerorts erwarten ihn Gewalt und Zerstörung: in Florenz die Verbrennung des Bußpredigers und Kirchenreformators Girolamo Savonarola; in Paris die Zurschaustellung der Präzision und Wirksamkeit der Guillotine - und in Rom blutige Gladiatorenkämpfe.
Ein schreckliches Gemetzel begann. Man hörte das Gebrüll der Tiere, die keinerlei Möglichkeit hatten, sich zu retten. Der etwa vierzigjährige Mann sah, wie mehrere Stiere und ein junger Elefant abgestochen wurden… Wer verletzt wurde, musste liegen bleiben, und wer tot war, Mensch oder Tier, wurde aus der Arena gezogen.
„Aufhören!“, schrie der etwa vierzigjährige Mann, „aufhören!"
Doch natürlich schenkt den Rufen des Zeitreisenden niemand Gehör. So weht es Langes Protagonisten denn ohne Aussicht auf die erhoffte Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Frieden und Schönheit ruhelos durch die Zeiten.
Im „Die Unberührbare“ betitelten, im Berliner Grunewald um 1900 spielenden Mittelstück der Sammlung entfaltet sich ein Dramolett, das Motive von Arthur Schnitzler über das Duell, die Ehre und moralisch zweifelhafte Frauen mischt.
Ihren Abschluss finden die Wanderungen der Lange`schen Heilssucher durch die Zeiten im Dialog zweier kluger Köpfe, die in immer neuen philosophischen Abschweifungen das Für und Wider des Selbstmordes erörtern, bis der eine am Ende zufrieden erklärt:
Dies war für mich das wichtigste Gespräch meines Lebens, und ich werde daraus Konsequenzen ziehen. Sie haben mir in all meinen Fragen vollkommene Klarheit verschafft.
Doch Lange wäre nicht er selbst, krönte er seinen philosophischen Diskurs nicht mit einer seinem exquisiten Pessimismus entsprechenden Pointe. Entsprechend schließt er seine Novelle denn mit den Worten:
Vierzehn Tage später brachte mir meine Bedienstete die Zeitung. Ich las eine Notiz: Man teilte der Welt mit, dass sich Herr N. W. Ordinow, gut situierter Kornhändler aus Petersburg, bei bestem Wetter, es war, wie gesagt, Sommeranfang, im Kreise seiner Familie erschossen hat.
Leider besitzen Hartmut Langes neue Novellen nicht die von beunruhigenden Ahnungen begleitete, Gänsehaut erzeugende Verstörungskraft früherer Texte. Wie es dieser passionierte philosophische Zweifler indes noch immer vermag, die scheinbar unauflösliche Rätselhaftigkeit des Seins erzählerisch vorzuführen, das soll ihm erst mal einer nachmachen.
Hartmut Lange
„Der etwa vierzigjährige Mann“
Diogenes Verlag, Zürich 2025
128 Seiten, 24,00 Euro
ISBN: 978-3257073430
Ein Thema in "Der Nachmittag" am 27.05.2025 auf SR kultur.