Salzburger Festspiele: Der kaukasische Kreidekreis nach Brecht

„Der Kaukasische Kreidekreis“ bei den Salzburger Festspielen

Sven Ricklefs / Onlinefassung: Axel Wagner   13.08.2023 | 22:23 Uhr

Die Frage, was mehr wert ist – mütterliche Liebe oder leibliche Elternschaft, kennt man aus Bertolt Brechts „Der Kaukasische Kreidekreis“, doch eigentlich dreht sich das Stück auch – wie sollte es bei diesem Autor anders sein – um Revolution, Bürgerkrieg und Veränderung. Bei den Salzburger Festspielen nun hat Helgard Haug von dem Künstlerkollektiv Rimini-Protokoll die Zerreißprobe eines Kindes zwischen zwei Müttern in den Mittelpunkt ihrer sehr freien Fassung des Brechtklassikers gestellt.

Dabei arbeitet sie mit Mitgliedern der Schweizer Theatergruppe Hora, die aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit kognitiver Beeinträchtigung besteht. Am Samstagabend war Premiere in Salzburg.

Reiche Gouverneurin gegen arme Magd

Eine Bühne wie die Spielfläche eines Gesellschaftsspiels: weiß umrandete Carrés in schiefertafelgrün, die nur manchmal von solchen in quietschrosa unterbrochen werden. Und hier haben Helgard Haug und die Spielerinnen und Spieler vom Theater Hora ihre Versuchsanordnung angerichtet.

Acht mal wiederholen sie die zentrale Zerreißprobe aus Brechts Stück, in der zwei Mütter an einem Kind im Kreidekreis zerren, um es auf ihre Seite zu ziehen. Da ist die reiche Gouverneurin, die ihr leibliches Kind in den Revolutionswirren schmählich zurückgelassen hat. Und da ist Grusche, die Magd, die das Baby zu sich genommen und es aufgezogen hat.

Kind hat eigene Stimme

Doch auch wenn das Kind erst einmal gar nicht sagt, stellen Helgard Haug und das Hora-Ensemble bald schon die Frage: Wie würde das Kind entscheiden? Welche Mutter würde es sich aussuchen? Es sind Fragen wie diese, die diesen kaukasischen Kreidekreis weit über seine revolutionär didaktische Brecht-Vorlage hinauswachsen lassen.

Während der Dichter zwei Mütter um ein Kind streiten und einen Richter über dieses Kind entscheiden ließ, gibt diese Version dem Kind eine eigene Stimme – und damit zugleich Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft oft selbst wie Kinder behandelt und bevormundet werden.

Schauspieler bleiben bei sich

Schon immer arbeitete Helgard Haug von Rimini Protokoll mit sogenannten Experten des Alltags und stellte damit Menschen mit ihren eigenen Lebenserfahrungen und zugleich Amateure in den Mittelpunkt ihres Theaters. Nun arbeitet sie zwar mit ausgebildeten Schauspielerinnen und Schauspielern, die aber aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigung trotzdem immer auch sehr stark bei sich selbst bleiben.

Und die stellen sich im Verlauf der wiederholten Kreidekreis-Proben Fragen wie: Was hat Dich an der Rolle interessiert? Würdest Du selbst gern Kinder haben? Oder auch: Was wäre in der Geschichte passiert, wenn das Kind nicht so gefallen hätte?

Solche Fragen berühren nicht nur im Zeitalter von Pränataldiagnostik, sondern auch und gerade in diesen Tagen, in denen geistige Brandstifter wie der rechtsradikale Thüringer AfD-Chef Björn Höcke über Inklusion an Schulen als „Ideologieprojekt“ schwadronieren.

Bücher für das Publikum

Während das Geschehen auf der Bühne mit Zeichnungen auf dem Bühnenboden und auf Videoscreens untermalt wird, gibt die Bühnenmusik der Komponistin Barbara Morgenstern den Sound dazu, den die koreanische Musikerin Min Heiko an Marimbaphon und Schlagzeug live performt.

Zugleich lässt Helgard Haug ihren kaukasischen Kreidekreis für eine Zeit lang auch über die vierte Wand der Bühne hinauswachsen, indem ihre Performer Bücher im Publikum verteilen, die in Form von Fotos und Texten viel über ihre persönlichen und oft auch erschütternden Geschichtenerzählen.

Hörspielfassung in der ARD Audiothek

Inklusives Theater also. Das ist noch einmal ein starker und herausfordernder Akzent, den die scheidende Schauspielchefin Bettina Hering mit diesem kaukasischen Kreidekreis dem Salzburger Festspielpublikum zumutet. Er ist gelungen.

Die Aufführungen in Salzburg sind bereits fast alle ausverkauft. Wer nicht die Möglichkeit hat in Salzburg dabei zu sein, kann die Hörspielfassung in der ARD Audiothek hören.

Über dieses Thema hat auch SR 2 Canapé vom 13.08.2023 berichtet.

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