Tezer Özlü: „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes"

Tezer Özlü: „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes"

Moritz Klein   18.12.2024 | 18:00 Uhr

Die türkische Schriftstellerin und Übersetzerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Autorinnen der türkischen Gegenwartsliteratur. Ihren zweiten Roman hat sie im Jahr 1982 aber auf Deutsch verfasst. Das Manuskript wurde mit einem Literaturpreis ausgezeichnet, dann aber nie verlegt. Die deutsche Erstfassung ist nun im Suhrkamp Verlag erstmals als gedrucktes Buch erschienen – eine literarische Wiederentdeckung, der, fast 40 Jahre nach Özlüs Tod, einige Aufmerksamkeit zuteilwurde. Moritz Klein hat den Roman gelesen.

Die Reise, die in diesem Buch erzählt wird, ist eine literarische Wallfahrt zu den Städten und Gräbern dreier Schriftsteller, die der Ich-Erzählerin besonders wichtig sind: Franz Kafka, Italo Svevo und – allen voran – Cesare Pavese. Letzterer ist für sie der große Wahlverwandte unter den toten Dichtern. Özlüs Text ist mit Zitaten von Pavese gespickt und setzt sich zu diesen in Beziehung. Die erste Reisestation ist Kafkas Prag, dann geht es über Wien und mehrere Stationen in Jugoslawien weiter nach Triest, die Stadt Italo Svevos. Das eigentliche Ziel ist aber Turin, genauer: das Zimmer 305 des Hotel Roma, wo Cesare Pavese 32 Jahre zuvor, am 27. August 1950, Selbstmord beging. Die Reise dorthin wird für die Erzählerin zur Suche nach dem eigenen Ich, als Versuch der Selbstverortung in der Literatur als frei gewählte Heimat jenseits aller gesellschaftlichen Bestimmungen:

Ich werde aufgeben. Alle Lieder. Alle Körper. Alle Städte. Alle Länder. Alle Formulare. Alle Lautsprecher. Alle Alleen, wo Feiertage mit Soldatenzügen gefeiert werden. Ich werde aufgeben. Ich werde zu Asche. Zu Rauch. In Stücke zerspringen. Aus mir wird eine Schlange kriechen. Als Kopfweh. Als Schmerz. Als Verrat. Als Untreue. Als Einsamkeit. Als Sehnsucht. Als Langeweile.

Özlü schreibt in einem hohen Ton, der sich wie hier passagenweise zu einem lyrischen Duktus steigert. Überhaupt ist der Text von einer besonderen  Machart, die einige Fragen aufwirft. Gewöhnungsbedürftig ist das über weite Strecken konstant durchgezogenes Pathos, ein fast ununterbrochen hohes Intensitätsniveau. Herausfordernd, oft schlichtweg verwirrend, ist eine Unbestimmtheit grammatikalischer Bezüge und eine exzessive Sprunghaftigkeit des Erzählens. Das betrifft den chronologischen und geografischen Verlauf der Reise, vor allem aber die Personalpronomen: Neben dem in diesem Text sehr zentralen Ich gibt es auch ein Du, das abwechselnd Selbstansprache der Erzählerin ist oder Ansprache eines anonymen männlichen Geliebten. Ein unbestimmtes „Er“ bezieht sich, manchmal innerhalb eines einzigen Satzes, auf verschiedene Personen, lebendige und tote, persönliche und literarische Wegbegleiter. Diese gleitenden grammatischen Bezüge kann man als formale Entsprechung eines Programms begreifen, das die Erzählerin in einer der zahlreichen Reflexionspassagen ausführt:

Ich weiß, dass die Liebe, die einem zustößt, sich wiederholt, wenn auch im anderen Körper, in anderer Haut, in anderen Augen und in anderem Denken, die Liebe, die man gleich aufnehmen muss, um sie nicht vorbeigehen zu lassen, bevor man sie empfangen hat. Die Kluft zwischen einem einzigen und jedem beliebigen Körper ist nicht so tief, als dass man sie nicht bewältigen kann. Es braucht nur Selbstbeherrschung, woraus man die Willensfreiheit entwickeln muss.

Durchaus programmatisch also reihen sich sexuelle Zufallsbegegnungen entlang der Reiseroute, die als serielle Variationen inszeniert werden: Stets sind es sehr junge Männer, halb so alt wie die Erzählerin, die in ihrem vierzigsten Lebensjahr ist. Auch das erzähltechnische Springen zwischen Zeitebenen und das Verschwimmen von Orten entspricht dem Charakter der Reise, die in wenigen Tagen durch sechs Länder führt. Die Erzählerin ist geplagt von Schlafproblemen, Zahnschmerzen, Kopf- und Halsweh, bis ins Tranceartige übermüdet, und zugleich getrieben von einer hochgespannten Widersprüchlichkeit zwischen Todessehnsucht und Lebensgier. Die Grundmotive der Getriebenheit, Intensitätssuche und Entgrenzung sind  poetisches Programm. Im Hintergrund stehen feministische Themen wie die Emanzipation von Rollenzuschreibungen und normierten Beziehungsmodellen; das politische Zeitgeschehen in der Türkei und der Komplex der Emigration; traumatische Erfahrungen mit den Institutionen der Psychiatrie und Medizin; der Verlust zweier nahestehender Menschen. All das bleibt aber im spärlich beleuchteten Hintergrund, wird nur gestreift, denn die Befreiung soll, mit einer Unbedingtheit sondergleichen, als poetische Selbsterschaffung in und durch Literatur erreicht werden. Doch sowohl der spezifische, exzessiv selbstreferenzielle Modus von Individualismus wie auch die Vorstellung von Literatur, die Özlü in diesem Buch durchexerziert, sind ziemlich fragwürdig. Es ist unklar, ob und inwieweit der literarische Leidensglamour mit Zigaretten, Schnaps und Schmerztabletten im großen Stil als Klischee selbstironisch reflektiert wird. An den schlechteren Stellen produziert Özlüs literarische Methode Schwülstigkeit. Es gelingen ihr aber auch lyrische Sprachbilder, die aus dem rastlosen Fluss der Bilder und Gedanken eine Gegenwart entstehen lassen, die etwas anderes zu bieten hat als den mystischen Selbstmord als letzten poetischen Befreiungsakt.

Tezer Özlü
"Suche nach den Spuren eines Selbstmordes"

Suhrkamp Verlag, 208 Seiten, 23 Euro
ISBN: 978-3-518-22558-5

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 18.12.2024 auf SR kultur.

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