Tomas Espedal: "Lust"

Tomas Espedal: "Lust"

Holger Heimann   24.06.2025 | 18:00 Uhr

In seinem neuen Buch „Lust“ erzählt der 1961 in Bergen geborene Tomas Espedal von prägenden persönlichen Erfahrungen und Beziehungen. Holger Heimann hat das Buch gelesen und den Autor getroffen.

„Ich lese keine Bücher, ich werde sie schreiben.“ Das ist die übermütige Entgegnung eines Teenagers, der Tomas heißt und dem heranwachsenden Tomas Espedal zum Verwechseln ähnelt, auf die gönnerhafte Frage danach, ob er denn Hamsun gelesen habe. Die schlagfertige Replik verleitet ihn dazu, noch eins draufzusetzen: Er habe schon einen Gedichtband und den Entwurf für einen Roman verfasst. Für den Jungen aus einfachen Verhältnissen geht es darum, sich zu behaupten gegen die Welt der Saturierten, die alles schon haben. Was er will, das weiß er früh schon sehr genau.

Er hatte Lust zu leben. Lust, anders zu leben, als von ihm erwartet wurde, er hatte Lust frei zu sein. War das möglich? Nein, das wusste er nicht, aber wenn er schon an etwas gebunden sein musste, dann an etwas, das er selbst als sinnvoll empfand. Er wollte gern arbeiten, er wollte mit derselben Intensität und Selbstentäußerung arbeiten wie die anderen Arbeiter, die Fabrikarbeiter, die Industriearbeiter, die Werftarbeiter, er aber wollte mit Literatur arbeiten.

Einen „Erinnerungsroman“ nennt Tomas Espedal das Buch, in dem er davon erzählt, wie ein junger Mann zum Schriftsteller wird. Dass dieser keine Bücher liest, ist gelogen. In „Lust“ wird eine ganze Reihe von prägenden Lektüren aufgezählt: Thomas Mann, Proust, Rimbaud, Baudelaire. Das Ich, von dem hier die Rede ist und das sich manchmal zur dritten Person erweitert, ist eine aus Erinnerungssplittern zusammengesetzte Erfindung. „Man erdichtet in hohem Maß seine Erinnerung“, heißt es an einer Stelle.

Der Wunsch, anders zu leben, richtet sich gegen alle Erwartungen – gegen die Schule, die dominante Mutter, die etablierte Gesellschaft. In Robert, einem schwulen, hochbegabten Jungen aus gutem Hause, findet der Unangepasste einen Gleichgesinnten. Beide fühlen sich nicht zugehörig zu ihren Familien und suchen Abstand. Doch während Robert nach unten strebt und von der Kunst zerstört wird, strebt Tomas nach oben.

" Deine Familie ist eine sehr starke Kraft, nicht nur von außen, sondern auch von innen. Du solltest etwas sein. Du solltest Arzt oder Anwalt werden, oder was auch immer sie von mir wollten. Das sind sehr starke Kräfte. Und um mit diesen Kräften zu brechen, muss man an etwas Starkes glauben. Es muss nicht unbedingt die Wahrheit sein. Aber ich habe an ein erfülltes Leben geglaubt, in dem es viel zu rauchen und zu trinken gibt, in dem es viele Mädchen gibt, in dem es viele Reisen gibt und in dem das Leben ein Abenteuer ist."

„Lust“ erzählt genau davon – betörend und intensiv. Vieles kennen Espedal-Leser aus vorherigen Büchern. Der Autor hält es mit einem Satz von Marguerite Duras: „Man muss sehr gut sein, wenn man die gleiche Geschichte immer wieder neu erzählen will, ohne zu langweilen.“ Und Espedal ist gut. Während frühere Bücher eher durch ein fragmentarisches, brüchiges, minimalistisches Erzählen geprägt waren, ist der neue Roman ein fließender, poetischer Erinnerungsstrom.

In einem Studentenzimmer in Kopenhagen schreibt der Erzähler an seinem ersten Roman. Dreimal schickt der Verlag das Manuskript zurück, dreimal schreibt es der angehende Autor neu. Nicht das abenteuerliche, ausschweifende Leben führt zur Kunst, sondern radikale Selbstdisziplinierung.

" Ich habe diese Art von Leben selbst gelebt, aber das Buch handelt auch davon, wie ich die Kunstmythen in Arbeit verwandelt habe. Heute mag ich nicht einmal mehr das Wort Kunst. Ich betrachte mich überhaupt nicht mehr als Künstler. Ich arbeite. – Es ist ein Buch darüber, ein Arbeiter zu sein. Ich habe es geschafft, das Schreiben in einen Beruf und in eine Arbeit zu verwandeln, und darauf bin ich wirklich stolz."

Der Titel des Buches könnte passender kaum sein. Lust meint die Gier nach einem wilden und poetischen Leben. Es ist aber vor allem die Lust am Schreiben, daran, ein Schriftsteller zu sein. Diese Lust teilt sich mit, sie hat sich regelrecht eingeprägt in diese Erinnerungen. Tomas Espedal hat ein hinreißendes, rauschhaftes Buch geschrieben.


Tomas Espedal
"Lust"
Aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
Matthes & Seitz Berlin Verlag

320 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-7518-1015-9


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 23.06.2025 auf SR kultur.

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