Mela Hartwig: "Der verlorene Traum"
Seit 2001 gibt der Grazer Droschl Verlag Mela Hartwigs Werk heraus. „Der verlorene Traum“ lautet der Titel eines bislang unveröffentlichten Romans aus den Kriegsjahren 1943/44. Katrin Hillgruber hat ihn gelesen.
Die Frauenfiguren der Schriftstellerin Mela Hartwig sind allesamt phantasiebegabt und bis zur Selbstzerstörung begeisterungsfähig. Das gilt auch für ihren Roman „Der verlorene Traum“, den sie mitten im Zweiten Weltkrieg verfasste. Der Droschl-Verlag hat ihn mit einem apart-diffusen Cover in Pink, Orange und Violett versehen. Das Buch atmet noch ganz den unruhigen Geist der 1920er Jahre. Es werden weder Ort noch Zeit genannt, doch spielt die Handlung eindeutig im Frieden und in gutbürgerlichen Kreisen samt Haushälterin.
Die Protagonistin Barbara übt als medizinische Laborantin einen modernen Beruf aus. Sie ist aber völlig von ihrem kühlen und rationalen Ehemann abhängig, der in der Bakteriologischen Abteilung ihr Vorgesetzter ist. Eines Abends besuchen die beiden eine Vorstellung von Goethes Theaterstück „Torquato Tasso“. Als sich der Vorhang hebt, bemerkt Barbara einen jungen Mann, der zu spät kommt. Als sich ihre Blicke kreuzen, ist es um sie geschehen.
Barbara verlor so völlig die Fassung, dass sie einen Augenblick lang aufspringen und davonstürzen wollte. Vor diesen Augen, fühlte sie, gab es nur eine Rettung: die Flucht. Es waren sehr helle Augen, vielleicht grau, vielleicht grün, unergründlich helle Augen, von denen eine tödliche Kälte ausging, oder vielleicht nur ein tödlicher Hochmut, oder vielleicht nur tödliche Gleichgültigkeit. […] Aber […] als sie aufsprang und davonstürzen wollte, erinnerte sie sich daran, dass ihr Mann neben ihr saß, und sie gab sich den Anschein, sich zurechtzurücken.
Mela Hartwig hat sich intensiv mit den Theorien von Sigmund Freud befasst. Sie zeichnet Barbara als klassische Neurotikerin, die unter der krankhaften Verarbeitung seelischer Erlebnisse leidet. Sie steigert sich in die Vorstellung hinein, mit dem attraktiven Fremden eine Affäre zu beginnen. Mehr und mehr vernachlässigt sie ihren Mann und ihre Arbeit im Labor, die Präzision erfordert.
Über eine Freundin gelingt es Barbara, mit ihrem Schwarm in Kontakt zu treten. Es handelt sich um einen offenbar recht oberflächlichen Sänger, der nicht nur ihre Aufmerksamkeit genießt.
Wie unzuverlässig sind die Augen der Frauen, wenn ihr Herz sie berät. Parteiisch entziehen sie jedem die Nachsicht, die er benötigt, um sie dem einen zu schenken, den ihr Herz ausgezeichnet hat. […] Sie erblinden für Fehler und werden hellsichtig für Vorzüge, als könnte man Licht ertragen, das kein Schatten dämpft, als könnte man einem Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, den man nicht als ein Ganzes sieht.
Auch in „Der verlorene Traum“ karikiert Mela Hartwig im Sprachduktus der Neuen Sachlichkeit die weibliche Hingabebereitschaft. Fiebrige Stimmungswechsel machen diese Prosa bei aller Nüchternheit so fesselnd. Die Wirklichkeit schlägt tragikomische Haken, die langen, vorwärtsdrängenden Satzperioden atmen noch den Geist des Expressionismus und sind ein großes Lesevergnügen.
Allerdings bewirkt das Bemühen der Autorin, die Handlung möglichst überzeitlich und gleichnishaft zu gestalten, eine gewisse Blutleere. 266 Typoskriptseiten wurden im Nachlass der 1967 in London gestorbenen Mela Hartwig gefunden, heißt es in einer Notiz. Blatt 70 fehlt, der Beginn des neunten Kapitels mit dem Titel „Barbaras Eitelkeit wird verletzt“. Vermutlich ging es auf der fehlenden Seite um eine sexuelle Phantasie der Heldin. So sehr das kontinuierliche Bemühen des Droschl Verlags zu loben ist, mit Mela Hartwig eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen der Moderne wiederzuentdecken: Warum dieses Buch ohne Vor- oder Nachwort auskommen musste, bleibt rätselhaft. Doch die Lektüre lohnt sich wie immer bei Mela Hartwig, deren Stil Sogwirkung hat:
Flüchtiger als der Wind ist die Zeit, du kannst sie nicht aufhalten, keiner kann es. Sie vertickt in den Uhren, jedes Rad, das sich dreht, wirbelt sie weiter, die Mühle, die Korn mahlt, zermahlt sie, jede Turbine treibt sie vorwärts, wie sie den Riemen vorwärtstreibt. […] Flüchtiger als der Wind ist die Zeit, du kannst sie nicht aufhalten, keiner kann es.
Mela Hartwig
"Der verlorene Traum"
Droschl Verlag
224 Seiten, 25 Euro
ISBN: 9783990591826
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 24.06.2025 auf SR kultur.