Bernardine Evaristo: „Blondes Herz“
Spätestens seit ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ ist Bernardine Evaristo international bekannt. Eines ihrer früheren Werke, „Blonde Roots“, ist nun auch in deutscher Übersetzung erschienen: „Blondes Herz“. Sally-Charell Delin hat das Buch gelesen:
Doris Scagglethorpe kann ihr Glück kaum fassen. Fast ihr halbes Leben ist es her, dass sie verschleppt und als Sklavin verkauft worden ist. Aber nun eröffnet sich die Chance auf ein neues Leben, denn Doris erhält die Möglichkeit zur Flucht:
Nach so vielen Jahren auf der Warteliste hielt ich das in der Hand, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Und trotzdem kam es plötzlich viel zu schnell. Ich saß da wie erstarrt. Meine Gedanken rasten vor tausend Wenns und Abers. Wenn ich versuchte, mein Leben seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben – nämlich mir selbst -, musste ich es auch aufs Spiel setzen.
Die britische Autorin Bernardine Evaristo erzählt hier nicht einfach nur die Fluchtgeschichte einer Sklavin. Stattdessen dreht sie in ihrem Roman „Blondes Herz“ die Geschichte der Sklaverei einmal komplett auf den Kopf. Denn Doris Scagglethorpe ist „waiß“. Mit gerade einmal 11 Jahren wurde sie beim Versteck-Spielen mit ihren Geschwistern entführt und als Sklavin nach Großambossanien, eine kleine, reiche Insel vor „Aphrika“, verkauft:
Hier in Großambossanien unterteilten sie uns in „Stämme“, dabei waren wir viele verschiedene Nationen mit jeweils eigener Sprache und überlieferten Sitten und Gebräuchen, wie beispielsweise in den Borderlands, wo alle Männer karierte Röcke und darunter keine Unterwäsche trugen.
Solche Umkehrungen lassen einen beim Lesen immer wieder Schmunzeln. Etwa, wenn Rosenkohl, Weißbrot und Kohlköpfe zu außergewöhnlichen „europanischen“ Lebensmitteln werden, die nur in bestimmten Provinzen zu bekommen sind.
Doch Schotten, Iren und auch Deutsche - sie alle sind hier letztlich nur „Europaner“ und gelten dementsprechend als minderwertig. Besonders deutlich wird das im zweiten Teil des Buches, in dem der „Master“ von Doris in Briefen von ihrer Flucht berichtet und Rassentheorien verbreitet:
Darüber hinaus sind die Europiden nicht in der Lage, im Kopf über das hinauszurechnen, was sie als ihr „Einmaleins“ bezeichnen. Der Umstand, dass das europide Gehirn so verkümmert ist, muss naturgemäß zu einer Art emotionalen Abstumpfung führen.
Trotz aller Parallelen zur Geschichte der Sklaverei ist „Blondes Herz“ viel mehr als nur die Umkehr historischer Ereignisse und imperialistischer Perspektiven. Es ist eine komplett veränderte Welt. Deutlich macht die Autorin das auch an leicht veränderten Schreibweisen oder einer abgewandelten Weltkarte: So liegt „Aphrika“ etwa dort, wo in unserer Welt Europa zu finden ist.
Und auch zeitlich lässt sich die Geschichte nicht klar verorten - Doris’ Flucht führt etwa über ein verlassenes U-Bahn-Netzwerk unter der Stadt „Londolo“:
Hier und da war der Boden eingebrochen, und ich brauchte eine halbe Ewigkeit, um mich vorsichtig die Rolltreppe hinunterzuhangeln, krallte mich in das gummierte Geländer, bekam den breiigen Dreck unter die Fingernägel. Wann würde ich mich wohl das nächste Mal waschen können?“
Bernardine Evaristo hat sich zu Beginn ihres Schreibens vor 30 Jahren vor allem Gedichten und Versromanen zugewandt. Dieser Hintergrund als Lyrikerin ist auch in „Blondes Herz“ deutlich spürbar, die poetische Sprache scheint hier immer wieder durch.
Gleichzeitig stockt einem an vielen Stellen der Atem ob des Erzählten. Etwa, wenn in fein verwobenen Rückblenden auch von Doris’ Verschleppung als Kind erzählt wird: Von Sklavenmärkten, schweren Eisenketten und der Schiffsüberfahrt über die brutale Middle Passage:
Fast jede Nacht öffnete sich quietschend die Holzluke. Frauen wurden von den Brettern gezogen. Anfangs gab es oft noch ein Handgemenge, aber je länger die Überfahrt dauerte, desto weniger hatten noch die Kraft, sich zu wehren. Wenn sich die Luke wieder schloss, hörte ich das Grollen der hilflosen Männer, die die ihren nicht beschützen konnten. Die meisten Frauen kehrten nach ein paar Stunden zurück, manche nach ein paar Tagen: schluchzend, blutend, zornig, stumm. Andere sahen wir niemals wieder.
Viele der Sklavinnen und Sklaven überleben die Überfahrt nicht – im Roman so wie auch im echten Leben. An jene Sklavenschiffe, die zwischen 1444 und 1888 zehn bis zwölf Millionen Menschen vom afrikanischen Kontinent nach Amerika verschleppten, erinnert Evaristo auch in einer Widmung, die dem Roman vorangestellt ist. In „Blondes Herz“ verwandelt sie historische Fakten in eine verblüffende fiktionale Erzählung. Sie zeigt, wie willkürlich Machtverhältnisse sein können und macht Erfahrungen spürbar, die bis heute nachwirken.
Bernardine Evaristo
"Blondes Herz"
aus dem Englischen übersetzt von Tanja Handels
Tropen Verlag
288 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-608-50275-6
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 19.05.2025 auf SR kultur.