Annie Ernaux: "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus"

Annie Ernaux: "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus"

Judith Heitkamp   15.04.2025 | 11:33 Uhr

Die Werke der französischen Autorin Annie Ernaux erscheinen nach und nach auf deutsch, teils mit großem zeitlichen Abstand zum Entstehen. So auch "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" aus dem Jahr 1997. Judith Heitkamp hat das Buch gelesen.

Seltsam, dass der Titel dieses andere Ich verwendet. Eigentlich ist Annie Ernaux ganz nah am Ich ihrer Texte, zwangsläufig, als Ethnologin ihrer selbst, wie sie sich beschreibt. Und sie erzählt auch dieses Buch als Ich-Erzählerin Annie Ernaux. „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ aber ist ein Satz der demenzkranken Mutter.

Heute habe ich mir zum ersten mal ihr Leben außerhalb meiner Besuche klar vorgestellt, die Mahlzeiten im Speisesaal, das Warten. Tonnenweise Schuldgefühle für die Zukunft. Doch wenn sie weiter bei mir gewohnt hätte, wäre mein Leben vorbei gewesen. Sie oder ich. Mit fällt der letzte Satz ein, den sie geschrieben hat: „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus"

Tonnenweise Schuldgefühle - der Sprung vom Mutter-Ich zum eigenen zeigt die Nähe an, die Verstrickung, die Hilflosigkeit, die in diesen letzten Jahren entsteht, als die Mutter in stationärer Langzeitpflege in der Dermenz versinkt, unrettbar. „Zwischen uns gab es keine Distanz“, heißt es an einer Stelle. „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ ist das Tagebuch des Verfalls, lauter kurze Notizen, unmittelbar nach jedem Besuch festgehalten, in der Erschütterung und Fassungslosigkeit, in der sie sich damals befunden habe, erklärt Annie Ernaux in einem kleinen Prolog. Aufschreiben als existenzielles Bedürfnis.

Wieder festgeschnallt. Schafft es nicht, den Kuchen zu essen, ein Stück Aprikosentorte, ihre Hand findet den Mund nicht, ihre Zunge streckt sich dem unerreichbaren Leckerbissen entgegen. Sie begann, die Kuchenschachtel zu zerreißen, wollte sie essen.
Sie zerriss alles Mögliche, ihr Handtuch, ein Unterkleid, sie wollte die Dinge verdrehen, unempfindlich gegen jeden Schmerz. Ihr Kinn sinkt herab, ihr Mundsteht offen. Noch nie war mein schlechtes Gewissen so groß, als wäre ich an ihrem Zustand schuld.

Uringeruch überall, verklebte Fußböden, Nachthemden statt Alltagskleidung. Der fortschreitende Verlust von Fähigkeiten wie greifen, laufen, verstehen, erkennen. Ernaux beschreibt ihren Ekel vor der zum Kleinkind gewordenen Alten, aber auch die grenzenlose Bedürftigkeit, die Zärtlichkeit, die sich bei beiden, manchmal überraschend, plötzlich Bahn bricht. Diese Notizen wird sie Jahre lang nicht hervorholen, statt dessen sich im ersten Projekt nach dem Tod der Mutter, 1986, dem Gesamtbild dieser Biographie widmen. „Eine Frau“ erzählt von einer dicken lauten Person aus der Arbeiterschicht, für die ein Laden mit Kneipe sozialen Aufstieg markiert und deren Tochter eine berühmte Intellektuelle wird, damit aber auch ein Stück eine Fremde. Ein Buch wie ein Denkmal.  Wie das Buch „Der Platz“, das dem Vater gilt. Jahre später entschließt Ernaux sich, auch die Notizen aus der Demenzzeit zu veröffentlichen. Sie sind in Frankreich 1997 erschienen und jetzt in der wie immer hervorragenden Übersetzung von Sonja Finck  auf deutsch. Ein Buch, das  einem Zweifel entwachsen zu sein scheint, zumindest einem größer gewordenen Unwillen, Zitat, „ein einziges Bild stehen zu lassen“. 

Mittlerweile bin ich der Meinung, dass die Einheit, die Kohärenz, auf die jedes Werk hinausläuft so oft wie möglich herausgefordert werden sollte.

Schuldgefühle. Schuldgefühle, Schuldgefühle. Ein Ostinato in den kurzen Absätzen, aus denen dieser Text besteht. Die Erleichterung, nach einem Besuch gehen zu können. Auf keinen Fall dürfe man diesen Bericht als Anklage gegen die Pflegestation lesen, stellt Ernaux dem Buch voran – wie auffällig der Gegensatz zu den nahen Kollegen im Genre ‚Autofiktionales Mutterbuch‘! Der Soziologe Didier Eribon schreibt – Jahrzehnte später - nichts von Schuldgefühlen in „Eine Arbeiterin“, sondern holt aus zur kulturgeschichtlichen Rahmung des Alters und zum politischen Angriff auf die Pflegeverwaltung in Frankreich. Edouard Louis, in „Monique bricht aus“, kann seiner noch sehr weit von Pflege entfernten Mutter die Klassenwelt erklären und Monique sogar erfolgreich retten. Annie Ernaux aber wählt ein Thema, bei dem sich keine Erfolge mehr erwarten lassen, kein politischer Schwung geholt werden kann. Sehr intim, sehr still.

Als ich mich verabschiede, sieht sie mich verloren an, panisch. „Du gehst?“

Eine Tochter zu sein, die die bedürftige Mutter enttäuscht, dem Verfall zuzusehen, der nur schlimmer werden wird, Hilflosigkeit, Verzweiflung und diese kindlichen Wünsche, dass die richtige Mama von früher wieder da sein soll: Die Veröffentlichung markiert Annie Ernauxs Entschluss, sich all dem zumindest zu stellen. Und damals, vor fast 30 Jahren, ohne dass Demenz schon ein Literaturthema gewesen wäre … das Mutterbild soll vollständiger werden. In radikaler Ehrlichkeit, die von keiner poetologischen oder soziologischen Analyse gemildert wird. Statt dessen: hingeworfene Augenblicke, ständige Verbindung zum „zu spät“, „zu wenig“. Schmerzhaft zu lesen. Schmerzhaft zu leben.

Alle ihre Sätze aufschreiben, jetzt, wo sie fast nichts mehr sagt
Beim Schreiben darauf achten, mich nicht meinen Gefühlen hinzugeben.

Annie Ernaux
"Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus"
Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck
Surhkamp Verlag
106 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-518-22564-6


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 14.04.2025 auf SR kultur.

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