Dolores Prato: „Unten auf der Piazza ist niemand“

Dolores Prato "Unten auf der Piazza ist niemand"

Peter Henning   03.12.2024 | 18:00 Uhr

Mit jahrzehntelanger Verspätung erscheint endlich das Hauptwerk der italienischen Schriftstellerin Dolores Prato auf Deutsch. In ihrem wahrhaft ausufernden Roman „Unten auf der Piazza ist niemand“ blickt die 1983 verstorbene Schriftstellerin zurück auf ihre Kindheit in einem Bergdorf in den Marken. Eine Kindheit, die geprägt war von Entbehrungen und Fremdheitsgefühlen. Peter Henning hat den Roman gelesen.

Als der Roman 1997 endlich wieder - und nun erstmals ungekürzt in seiner ganzen sprachmächtigen Originalität vorlag, fühlte sich mancher italienische Kritiker von fern an Marcel Prousts „Recherche“ erinnert. Denn auch in Dolores Pratos Buch „Unten auf der Piazza ist niemand“ ist die Erzählerin auf der Suche nach der verlorenen Zeit ihrer Kindheit. In einer feinen Übersetzung von Anna Leube und versehen mit einem Nachwort von Esther Kinsky liegt Pratos Riesenroman nun erstmals auch auf Deutsch vor.

Zu bestaunen ist ein wahrhaft solitäres und - wie ein italienischer Kritiker schrieb - „vor dem Vergessen gerettetes Meisterwerk“, dessen Verfasserin uns darin daran teilhaben lässt, wie sie mittels Sprache eine versunkene Welt voller Schrecken zu bannen versucht, in dem sie sie mit Worten noch einmal furchtlos beschwört. 

1892 als uneheliche Tochter einer Patrizierin in Rom geboren, wuchs Dolores Prato bei Verwandten ihrer Mutter in der Kleinstadt Treia in den Marken auf, in einer ihr fremden, unwirtlichen Umgebung. Dort beginnt und endet Pratos fast 900-seitige autobiografische Beschwörung.

Ich wurde unter einem Tisch geboren. … da war nichts sonst im Raum, auch kein Gesicht… Zwar schützte mich das Tischtuch, dessen Fransen den Boden berührten, doch ich hörte es ganz deutlich: schon oft hatten sie nach mir gesucht, um mich rauszuwerfen!

Es ist ein gewaltiges, in Schmerz und Enttäuschung wurzelndes Protokoll früherlebter Ängste und des ständigen Mangels an Zuwendung und Verständnis, zu dem sich Pratos ruhelos in einer Art Bewusstseinsstrom aneinandergereihte Erinnerungsbilder und Assoziationen fügen. Dolores lebt bei ihrer Tante Paolina und ihrem schweigsamen Onkel Domenico in Treia in den Marken. Wirklich heimisch wird sie bei ihnen nicht.

Ich gehörte nicht zu Treia, Treia gehörte zu mir. Und vielleicht, weil ich in der Stille lebte, sprach alles zu mir.

Niemand spricht wirklich mit ihr – also beginnt Dolores mit den Dingen zu kommunizieren, die sie umgeben: mit dem Tisch, unter dem sie sich geborgen fühlt, mit den Lampen, die ihr Licht spenden. Und mit dem Bett, in das man sie legt. Darüber wird ihr das ungeliebte Bergdorf, von dem aus sie ihre unzähligen Sehnsuchtsbilder an eine Welt adressiert, die ihr lange unerreichbar erscheint, zu einer Art Aussichtspunkt - und zu einem Fenster in eine Welt jenseits von Treia.

Mit zehn Jahren schickt man sie in ein Internat, wo sie 1918 ihre Schulausbildung abschließt – und wenig später an verschiedenen Schulen italienisch zu unterrichten beginnt. Nach dem Krieg verfasst sie erste journalistische Texte und kleinere, durchweg autobiografische Prosastücke, die sie bei Literaturwettbewerben einreicht. Schließlich publiziert sie 1963 auf eigene Kosten ihren ersten Roman, dem bald darauf ein zweiter folgt - Vorstufen zu ihrem späteren großen Alterswerk, das unvollendet bleibt.

Am Ende ihres berührenden Romans, der nicht eben das bietet, was man einen nacherzählbaren Plot nennen könnte, resümiert die Autorin:

Und wer war ich? Ein kleines Mädchen, das ein wenig litt, ein wenig merkwürdig war, könnte man sagen. Ein Bastard durch und durch. Ich bin ein Bastard, auch in religiöser Hinsicht, gefirmt schon, doch nicht getauft. Dass ich so bin, dafür schäme ich mich nicht.

Um fast zwei Drittel gekürzt war Pratos Roman 1980 in Italien als Taschenbuch erschienen, nachdem die damalige Schriftstellerin und Lektorin des Turiner Verlages Einaudi, Natalia Ginzburg, das Manuskript nicht nur massiv gekürzt, sondern obendrein durch Umstellungen in eine halbwegs stringente Handlung überführt hatte. Dolores Prato, die 1973 - sie war damals bereits 81 Jahre alt - mit der Niederschrift ihres Lebensberichts begonnen hatte, hatte Ginzburgs radikales Vorgehen nach außen hin zähneknirschend toleriert - sich im Innern aber, wie sie später in einem Interview verriet, überfahren gefüllt. 

 „Ich begriff die Gründe nicht, die sie dazu bewogen hatten, in dem Text mal da, mal dort einzugreifen…Sie liebte dieses Buch und wollte es mit diesen Eingriffen zugänglich für den Leser machen. Sie wollte meine Schreibweise verständlicher machen, ich aber wollte meine Fehler behalten.“

Vierundvierzig Jahre nach seiner italienischen Erstveröffentlichung in stark bearbeiteter Form liegt Pratos Roman nun in seiner ursprünglichen, wildwuchernden Schönheit auf Deutsch vor: eine herausfordernde – aber unvergessliche Lektüre!

Dolores Prato
"Unten auf der Piazza ist niemand"

Hanser Verlag, 968 Seiten, 38 Euro
ISBN: 978-3-446-28123-3

Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 03.12.2024 auf SR kultur.

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