Julie von Kessel: "Die andern sind das weite Meer"
Nach ihren Romanen „Altenstein“ und „Als der Himmel fiel“ hat die in Berlin lebende Journalistin und Schriftstellerin Julie von Kessel nun den ambitionierten Familienroman „Die anderen sind das weite Meer“ vorgelegt. Darin nimmt sie das Konstrukt Familie ebenso facettenreich wie kritisch unter die Lupe. Peter Henning hat den Roman gelesen.
Wirklich miteinander sprechen die Cramers schon lange nicht mehr. Die Gründe dafür liegen in einer Vergangenheit, über die lieber geschwiegen wird. Ihr Kontakt beschränkt sich längst auf gelegentliche Telefonate.
Krankheit, Trauma und Distanz
Tom leitet in Berlin eine psychiatrische Klinik, die sich auf alternative Behandlungsmethoden spezialisiert hat - und liebt Männer. Seine Schwester Luka arbeitet als Kriegsberichterstatterin für einen Privatsender; zu ihrem Elternhaus in Bonn hat sie nur noch sporadisch Kontakt. Dort führt ihr Vater Hans, der bis zu seiner Pensionierung im Diplomatischen Dienst tätig war, seit dem Tod seiner Frau Marie das Leben eines zurückgezogenen, sich mit den Anfängen einer Demenzerkrankung herumschlagenden Beobachters. Und dass ihre Schwester Elena genau wie einst ihre Mutter an Brustkrebs erkrankt ist, ist lange deren bestgehütetes Geheimnis. Selbst ihren Ärzten verschweigt sie ihre genetische Vorbelastung.
Ihre Mutter war an Brustkrebs gestorben. Ein einfacher Satz, doch sie hatte ihn in Anwesenheit der Ärzte nicht über die Lippen gebracht. Sie wusste selbst nicht genau, warum. Sie fürchtete sich wohl einfach davor, dass sich die Gesichter noch mehr verdunkeln würden. Familiäre Vorbelastung, das ändert alles. Wer brauchte so etwas?
Das einzige, was die Geschwister noch zu verbinden scheint, ist die Sorge um ihren Vater Hans, der sie mit immer neuen, seiner fortschreitenden Erkrankung geschuldeten Kapriolen, in Atem hält.
Dramatische Wendungen
Und dann nimmt der Roman Fahrt auf: einer von Toms Patienten nimmt sich das Leben, was ihn in tiefe Schuldgefühle stürzt; Luka setzt im Zuge ihrer Berichterstattung aus der Ukraine einen verhängnisvollen Instagram-Post ab, der drei ukrainische Soldaten das Leben kostet - und Elena zerschlägt das brüchig gewordene Konstrukt ihrer Ehe mit dem Musiker Juan. Und dann ist zu allem Überfluss Hans plötzlich spurlos verschwunden.
Tom nahm den Anruf an. Es war still in der Leitung. „Luka?“ fragte er. „Papa ist weg!“ sagte sie. Tom und Elena sahen sich mit großen Augen an. „Wie lange schon?“ fragte er. „Wissen wir nicht genau!“ sagte Luca. Loretta hat ihn noch am Vormittag gesehen. Da war er wohl verwirrt und irgendwie aufgelöst.
Gemeinsam machen die Geschwister sich auf die Suche nach ihrem Vater – und finden in ihrer Sorge schließlich auf schöne Weise zueinander.
Befreiung durch Offenheit
Julie von Kessels neuer, nunmehr dritter Roman liefert ein feingeknüpftes Patchwork der Niederlagen und Neurosen. Multi-perspektivisch entrollt sie die Geschichte von drei Geschwistern, die erst in dem Moment wieder zu sich zu kommen scheinen, als ihre in Schieflage geratenen Lebensentwürfe sich nicht länger voreinander verbergen lassen. Allen voran Tom empfindet das als Befreiung.
Einen Augenblick saß er da, überwältigt von der Intensität seiner Gefühle, von seiner klaren, ungestörten Liebe zu dieser Welt, und dann tat er etwas sehr Untypisches, er machte gar nichts, sondern versuchte, einfach seine Empfindungen sacken zu lassen.
Unerschrockenes Familienporträt
Mit ihrem neuen Roman „Die anderen sind das weite Meer“ hat von Kessel ein Stück Literatur vorgelegt, das durch die Unerschrockenheit besticht, mit der es das Konstrukt Familie in all seinen dys-funktionalen Dimensionen beleuchtet. Gelegentlich fühlt man sich bei der Lektüre an Jonathan Franzens Welterfolg „Die Korrekturen“ von 2002 erinnert, der zweifellos seine Spuren in von Kessels Buch hinterlassen hat.
Ihre beherzten Versuche, mit literarischen Mitteln Zugriff auf etwas so schwer Fassbares wie in sich widerstreitende Gefühle und Gedanken zu bekommen, verleihen ihrem Buch seinen besonderen Wert.
Julie von Kessel
"Die andern sind das weite Meer"
Eisele Verlag, 334 Seiten, 23 Euro
ISBN: 978-3-96161-197-3
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 23.10.2024 auf SR kultur.