„Lea oder eine Theorie der komplexen Systeme“ beim Festival Primeurs
Beim Theaterfestival für französischsprachige Gegenwartsdramatik werden Stücke zum ersten Mal vor Publikum auf der Bühne erprobt. Das Acht-Stunden-Stück des luxemburgischen Autors Ian de Toffoli war in einer Werkstattinszenierung zu sehen.
Wie oft haben wir diese Floskel inzwischen schon gehört: „Wir leben halt in so komplexen Zeiten!“ Wahlweise wird sie bemüht, um die eigene Unlust, sich mit den Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen, zu verschleiern. Mal kommt darin tatsächlich die schiere Überforderung zum Ausdruck.
Globaler Raubtierkapitalismus
Denn es stimmt: Die Probleme unserer Zeit sind nicht einfach zu lösen, etwa der Klimawandel. Einen ebenfalls komplexen Theaterabend zur drohenden Klimakatastrophe gab es am 22. November mit „Lea oder eine Theorie der komplexen Systeme“ des Luxemburger Autors Ian De Toffoli .
Gewalt ist keine Lösung! Bei einem fiktiven Terror-Anschlag einer Klimaaktivistin auf eine Briefkastenfirma im Großherzogtum stirbt tragischerweise die Rezeptionistin. Eine Figur, die so gar nicht als Repräsentantin des globalen Raubtierkapitalismus taugt. Doch genau der wird in diesem groß angelegten Epos ins Visier genommen. Auf der Ebene global verflochtener Konzerne und der des Privaten.
Radikale Klima-Aktivisten
Im Mittelpunkt steht Lea, die nach dem Studium eine erfolglose Odyssee als Praktikantin im Kultursektor absolviert, wieder bei den Eltern einziehen muss und sich als angehende engagierte Journalistin zunehmend auf die Seite der radikalen Klima-Aktivisten schlägt.
Dieser Radikalisierung von Lea wird ein historisch-dokumentarischer Erzählstrang gegenübergestellt: Es geht um den Aufstieg eines Familienunternehmens in den USA Ende des 19. Jahrhunderts zum heute weltumspannenden Konzern „Koch Industries“ - einem real existierenden globalen Mischkonzern der Erdöl-, Erdgas und Chemiebranche.
Die Kräfte, die die Welt lenken
Die Koch-Dynastie verkörpert nach Lesart von Theaterautor Ian De Toffoli ohne Zwischentöne den ausbeuterischen Kapitalismus in Reinkultur. Die Rollen von David und Goliath von Gut und Böse sind klar verteilt, so dass die Moral von der Geschicht’ offensichtlich ist, räumt auch der Autor ein. Meint aber: „Ich glaube, wenn der Stoff entfaltet ist, geht es nicht nur um „böse" und „gut“, sondern um die Kräfte, die die Welt lenken.“
Das nach antikem Vorbild in freien Versen verfasste Werk würde in der ungekürzten Fassung acht Stunden auf die Bühne bringen. Der studierte Altphilologe De Toffoli hat einen gewaltigen hybriden Text-Korpus aus antikem Epos und modernem Doku-Theater geschaffen.
Das Publikum fand's bereichernd
Dokumentarische Passagen und Dialoge wechseln einander ab, fügen sich zu einer Art theatralem Vortragsabend, dem Gregor Trakis, Raimund Widra, Gaby Pochert und Verena Maria Bauer mit Witz und Verve Leben einhauchen.
Bleibt die Frage, ob unser Blick auf die komplexe Gegenwart durch ebenso komplexe Kulturprodukte und das Bemühen um Vollständigkeit tatsächlich geschärft wird. Für diese Primeurs-Besucher war das Stück und die anschließende Diskussion in jedem Fall bereichernd.
„Super beindruckend, das Thema ist ja auch sehr aktuell. - Ich fand zusätzlich zum Stück auch jetzt die Aussprache zum Schluss interessant, das hat einiges nochmal eröffnet. - Dadurch, dass es so viele Facetten hat und so gesprungen ist, musste man ja dabei sein. - Also hier diese Sachen, die sind einzigartig!“
Ein Thema in der Sendung "Langer Samstag" am 23.11.24 auf SR kultur. Das Foto ganz oben zeigt eine Szene aus dem Stück. (Foto: SST / Astrid Karger)