L´Auberge au Bœuf (Foto: Stéphanie & Yannik Germain)

Heideröslein à la carte

Zu Gast in der kulinarisch bedeutendsten Goethe-Gedenkstätte im elsässischen Sessenheim

 

(11.08.2013) Ein Dorf, eine Kirche, ein Pfarrhaus in einer eher unscheinbaren Ecke des nördlichen Elsass. Östlich von Haguenau, wo die Vogesen zur Rheinebene hin auslaufen, wo die typischen Fachwerkhäuschen weniger puppig und blumig rausgeputzt sind als an der Weinstraße weiter im Süden. Ein Dorf, das dennoch Weltruhm erlangt hat, zumindest unter Literaten. Und das kam so:

„Wir ritten einen anmutigen Fußpfad über Wiesen, gelangten bald nach Sesenheim, ließen unsere Pferde im Wirtshause und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe“.

Die Liebe verband Goethe mit Sessenheim (Foto: Stéphanie & Yannik Germain)
Die Liebe verband Goethe mit Sessenheim

So schildert Johann Wolfgang von Goethe in Dichtung und Wahrheit seinen ersten Besuch im Dörfchen Sessenheim, im goldenen Oktober des Jahres 1770. Er war gerade mal 21 Jahre alt und unternehmungslustiger Jura-Student in Straßburg. Sein Kommilitone Friedrich Leopold Weyland hatte ihn beschwatzt, mit ihm zusammen seine Verwandten, die Pfarrersfamilie Brion in Sessenheim zu besuchen. Zumal es da auch „eine verständige Frau und ein paar liebenswürdige Töchter“ gebe! Und eine dieser Töchter, Friederike, die hatte es dem jungen Studiosus auf den ersten Blick angetan:

„In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf (…).  Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.“

Das also war der Auftakt zur ersten großen Liebesgeschichte des jungen Dichters, der freilich, wie man weiß, noch viele weitere folgen sollten.

Goethe-Sammlung (Foto: Stéphanie & Yannik Germain)
Goethe-Sammlung

Das Pfarrhaus von damals gibt es nicht mehr, nur eine alte Scheune ist stehen geblieben. Die Kirche (mit der Kanzel, auf der Pfarrer Brion predigte) steht auch noch, ist aber beträchtlich umgebaut und erweitert worden. Und das einladende Gasthaus direkt gegenüber der Kirche existierte damals noch gar nicht. Schade, man hätte sich gut vorstellen können, dass Goethe, der ja kein Kostverächter war, gerne mal mit seiner Friederike da eingekehrt wäre. Doch obwohl er nie da war, gehört er trotzdem irgendwie mit zur Familie Germain. Die betreibt seit 150 Jahren das Gasthaus Zum Ochsen – heute die Auberge au Bœuf. Und ein Vorfahre der Germains, der Goethe-Fan Wilhelm Gillig, begann schon um 1890 damit, Goethes Werke, Briefe, Zeichnungen, Handschriften und Devotionalien zu sammeln und in der damals noch einfachen Dorfwirtschaft auszustellen. Darunter auch ein Faksimile der Zeichnung, die der verliebte Jungdichter selbst vom damaligen Pfarrhaus gemacht hat. Im Großen und Ganzen nichts Sensationelles oder Einmaliges, aber alles zeugt von einer großen Zuneigung und Verehrung der Wirtsleute für den jungen Dichter, der damals der Pfarrerstochter vis à vis den Kopf verdreht und das Dörfchen Sessenheim in die Weltliteratur eingeführt hat. Denn hier widmete Goethe seiner Friederike eine Reihe von schwärmerischen Liedern und Gedichten. Das bekannteste dieser berühmten Sessenheimer Lieder ist zweifellos das Heidenröslein:

„Sah ein Knab ein Röslein steh’n, Röslein auf der Heiden
War so jung und morgenschön, lief er schnell, es nah zu seh’n.
Sah’s mit vielen Freuden. Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.“

Man kann wohl behaupten: eines der meist gesungenen und zitierten Lieder der Welt! In der Vertonung von Franz Schubert war es lange der Hit eines jeden deutschsprachigen Männergesangvereins. Aber auch Popstars wie Achim Reichel und Helen Schneider, ja sogar die Rockband Rammstein und die Japanerin Shiina Ringo machten sich in modernen Versionen einen eigenen Reim auf den alten Goethe-Song.

Das "Heidenröslein" entstand in Sessenheim (Foto: Stéphanie & Yannik Germain)
Das "Heidenröslein" entstand in Sessenheim

Doch zurück in die kleine Goethe-Stube in Sessenheim: Das Erbe des „Ochsen“-Wirts und Goethe-Fans Gillig wird von seinen Nachfahren gepflegt und von Generation zu Generation weiter gegeben. Heute ist der „Ochsen“ ein Gourmet-Lokal, die Gäste kommen von weit her, auch von jenseits des Rheins aus dem Badischen. Dennoch hat es sein kleines Goethe-Stübchen zur Gartenseite im Hinterhaus behalten, heute betreut von der Seniorchefin Christiane Germain. „So langsam müssen jetzt aber mal die Jungen ran“, sagt sie. Die Jungen, das sind Sohn Yannick und Schwiegertochter Claudine. Er ist Chef de Cuisine, sie die Chefin im Service. Da ist genug zu tun, trotzdem kümmern sie sich auch um „ihren“ Goethe, vor allem Claudine, die sich gerne von ihrer ehemaligen Deutsch-Lehrerin in Sachen Goethe „briefen“ lässt. Die heißt Elisabeth Vinée und ihr ist es in erster Linie zu verdanken, dass der deutsche Dichter, der im Unterricht in Frankreich heute kaum noch eine Rolle spielt, zumindest in Sessenheim lebendig geblieben ist. Sie kümmert sich um die kleine Goethe-Gedenkstätte im Ort, macht Führungen über den Sentier Goethe-Frédérique Brion, der auch die Goethe-Stube im Gasthaus streift. Mit Partnern aus dem Badischen wirbt sie dafür, dass im Elsass die deutsche Sprache und auf der anderen Seite des Rheins das Französische wieder mehr gepflegt wird. Und daran, dass die Grundschule von Sessenheim jetzt nach Frédérique Brion benannt wurde, ist sie auch nicht ganz unschuldig.

Briefe, Zeichnungen, Handschriften und mehr gibt´s im Museum (Foto: Stéphanie & Yannik Germain)
Briefe, Zeichnungen, Handschriften und mehr gibt´s im Museum

Natürlich steht sie auch den Wirtsleuten Germain mit Rat und Tat zur Seite. Denn manchmal, so erzählt Claudine, da kommen Gäste extra wegen Goethe, die wollen auch nicht in der sehr stilvollen, gemütlichen „Winstub“ des Restaurants oder auf der schönen Sommerterrasse, sondern ausdrücklich im kleinen Goethe-Stübchen dinieren. Da kann es durchaus passieren, dass einer zu vorgerückter Stunde plötzlich einen alten Band aus der Vitrine holt und zum Digestif ein paar passsende Goethe-Verse rezitiert:

„Kein Genuss ist vorübergehend, denn der Eindruck, den er hinterlässt, ist bleibend.“

Seit 150 Jahren betreibt die Familie Germain das Gasthaus (Foto: Stéphanie & Yannik Germain)
Seit 150 Jahren betreibt die Familie Germain das Gasthaus

Übrigens: die Love-Story zwischen Goethe und Friederike hat kein Happy-End. Der Herr Studiosus lässt sein Heideröslein nach einem Jahr wieder sitzen, verduftet ziemlich sang- und klanglos und wendet sich neuen literarisch-erotischen Abenteuern zu. Friederike hat die Nase danach voll von den Männern, zieht zu ihrer Schwester Sofie, lebt am Ende in Meissenheim auf der anderen Rheinseite, wo sie auch begraben ist. Am 3. April 2013 war ihr 200. Todestag. Grund genug, noch mal auf ihren und Goethes Spuren in und um Sessenheim zu wandeln. Und am Ende natürlich in die Goethe-Stube der Familie Germain reinzuschnuppern und sich danach von Yannick mit einem herrlichen Menü verwöhnen zu lassen. Gott sei Dank gibt’s aber kein Filet a la Heideröslein, sondern, wie sich’s gehört, Noix de Coquilles St. Jacques oder Carré de jeune chevreuil de la forêt de Haguenau! Und spätestens nach dem Dessert dämmert jedem Gast: die Auberge au Bœuf in Sessenheim ist vielleicht nicht die bedeutendste, aber mit Sicherheit die kulinarisch interessanteste Goethe-Gedenkstätte der Welt!

Wolfgang Felk


Kontakt


Goethe-Stube im Restaurant „L’ Auberge au Bœuf“
Familie Germain
1, rue de l’Eglise
F-67770 Sessenheim

Tel: (00333) 88 86 97 14

Internet: www.auberge-au-boeuf.fr


Öffnungszeiten


(Wie Restaurant) täglich außer Mo,Di ab 11.00 Uhr. Am Wochenende ist die Stube eventuell für Restaurant-Gäste reserviert.


Führungen


Auf deutsch, auch über den "Sentier Goethe-Frédérique Brion":
Elisabeth Vinée

Tel: (00333) 88 86 98 16

E-Mail: elisabethvinee@wanadoo.fr


Anfahrt


Mit PKW: die schönste Route führt über Saargemünd-Bitsch-Niederbronn-les-Bains-Haguenau-Soufflenheim nach Sessenheim (Fahrzeit etwa 1,5 – 2 Stunden). Das Restaurant „Au Bœuf“ liegt in der Ortsmitte direkt neben der Kirche.

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