Kulturanthropologin Aleida Assmann (Foto: dpa)

"Wir müssen unsere Vergangenheit mit in eine neue Zukunft nehmen"

Ein Interview mit der Erinnerungsforscherin Aleida Assmann

Christian Ignatzi, Onlinefassung: Judith Rubatscher   17.11.2020 | 16:37 Uhr

Viele Deutsche zucken bei dem Begriff "Nation" zusammen: Die einen empfinden ihn als nicht mehr zeitgemäß, andere nutzen ihn propagandistisch im Sinne von "Volksgemeinschaft". Im Zuge der ARD Themenwoche "Wie wollen wir leben?" spricht SR-Moderatur Christian Ignatzi mit der Erinnerungsforscherin Aleida Assmann. Sie hat gerade ihr neues Buch "Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen" veröffentlicht. Im Gespräch geht es um die Frage, wie wir als Gesellschaft, als Gemeinwesen und als Nation zusammenleben wollen.

SR2: Warum ist Ihnen gerade jetzt eine Bestandsaufnahme des Begriffs „Nation“ so wichtig?

Assmann: Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem wir uns in Deutschland mit der Leerstelle der Nation beschäftigen müssen. Wir haben lange ein Tabu daraus gemacht. In Frankfurt gab es 1990 eine Demo, da hieß es "Nie wieder Deutschland!" Es ist klar, dass Deutschland in gewisser Weise eine gebrochene Identität hat. Trotzdem können wir uns nicht dauerhaft als Ausnahme verstehen, denn wir leben mit anderen Nationen in der EU und die Verhältnisse haben sich verändert. Die aktuelle Notwendigkeit, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen ergibt sich aus dem Druck, unter dem sich unsere Nation gerade befindet – Es gibt Spaltungstendenzen in alle Richtungen.  Aber es gibt auch Sicherungssysteme: Wir sind Teil der Gemeinschaft EU, in der solche Prinzipien geteilt und dadurch auch versichert und geschützt sind.

SR2: Bundespräsident Steinmeier meinte in der Rede zum 8. Mai, man könne dieses Land "nur mit gebrochenem Herzen lieben". Wie wichtig ist diese Feststellung in der Diskussion um einen aufgeklärten Nationenbegriff?

Assmann: Dieser Begriff fängt damit an, dass wir dieses gebrochene Herz in diese Nation mitnehmen. Gleichzeitig haben wir in der aktuellen Situation aber auch weitere Integrationsaufgaben. Deutschland ist im Wandel zur Einwanderungsgesellschaft begriffen, wir sind dabei, ein neues „Wir“ zu entwerfen. Wir müssen unsere Vergangenheit mit in eine neue Zukunft nehmen. In dieser Zukunft gibt es starke Renationalisierungsbewegungen, der Fremde ist ein neues Feindbild in vielen Nationen Europas geworden und deshalb gibt es nun etwas zu verteidigen. Das funktioniert nur, wenn wir die Debatte neu anstoßen und diesen Begriff, der lange in der Ecke gestanden hat, wieder aufnehmen und diese Diskussion wieder ankurbeln.

SR2: Gibt es etwas, das in dieser Diskussion bis jetzt zu kurz gekommen ist?

Assmann: Intellektuelle – und dazu zähle auch ich mich – haben sich zu wenig dafür eingesetzt. Ein patriotisches Verhältnis zu diesem Land haben vor allem die Zugewanderten, die ihren "German dream" verteidigen. Das kommt uns Alt-68ern schwer über die Lippen. Wir sind darauf konditioniert, sehr subversiv zu denken und alles in Frage zu stellen. Aber spätestens jetzt müssen wir uns klarmachen, dass wir den Gemeinsinn innerhalb dieses Landes nur wieder aufbauen können, wenn wir diesen Begriff der Nation unterstützen und stärken.

SR2: Der Begriff "Nation" ist heute eher negativ besetzt. Beanspruchen die falschen Menschen den Begriff für sich?

Assmann: Der Begriff ist überhaupt nicht negativ besetzt, das ist nur der Hallraum unserer deutschen Befindlichkeit. Wir befinden uns auf einem konzeptionellen Glatteis: Jeder Deutsche, der das Wort "Nation" hört, denkt sofort an Nationalismus und dann an Nationalsozialismus. Wir können gar nicht anders, als gedanklich in dieses rechte Feld rüberzurutschen – Das ist aber falsch! Es gibt viele Nationen in Europa, die als demokratische Rechtstaaten existieren. Warum kann man das nicht einfach anerkennen? Diese Realität zu würdigen, scheint mir außerordentlich wichtig.


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmnittag" am 16.11.2020 auf SR 2 KulturRadio.

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