"Wir dürfen eigentlich keine neuen Flächen mehr versiegeln"
Ein Interview mit Prof. Dr. Stefan Rettich, Städtebau-Experte, zur ARD Themenwoche 2021: "Stadt. Land. Wandel. Wo ist die Zukunft zu Hause?"
Der Kasseler Städtebau-Experte Prof. Dr. Stefan Rettich hat angesichts des immer knapper werdenden Grund und Bodens gefordert, die Städte und Gemeinden "nach innen zu entwickeln" und keine neuen Flächen mehr zu versiegeln. Ein Interview zur ARD Themenwoche "Stadt. Land. Wandel".
Im Saarland, dem kleinsten Flächenland Deutschlands, ist die Eigenheim-Dichte bekanntlich die höchste in ganz Deutschland. Doch Immobilien, Grund und Boden sind auch hier in den vergangenen Jahren immer teurer geworden.
Nachfrage gestiegen
Für den Städtebauexperten Prof. Stefan Rettich kein Wunder: Als grundsätzlich nicht vermehrbares Gut sei Grundfläche in "Wachstumphasen von Städten die ideale Ware". Die Weltfinanzmarktkrise des Jahres 2008 und die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) habe bei anderen Anlagemöglichkeiten wie Aktien oder Staatsanleihen zu mehr Einbußen bzw. geringeren Renditen geführt, erklärte Rettich im Gespräch mit SR-Moderator Jochen Marmit. Umgekehrt hätten Kleinsparer, Pensionsfonds und Versicherungen vermehrt Böden zur Anlage ihrer Gelder nachgefragt.
Keine Kapitalerstragsteuer bei Wertzuwachs
Wenn dann eine Kommune etwa Ackerland zu Wohnungsbauland deklariere, steige automatisch der Wert des Bodens - erst recht, wenn die öffentliche Hand Infrastruktur wie Kindergärten oder Straßen darauf errichte. Die daraus resultierenden Wertzuwächse unterlägen allerdings nicht der Kapitalerstragsteuer, gab Rettich zu bedenken: "Man muss eben diese leistungslosen Gewinne nicht abführen".
Geschacher innerhalb der öffentlichen Hand
Das Gemeinwohl stehe daher "extrem unter Druck", doch letztlich profitierten auch Bund, Länder und Kommunen "indirekt" von dem Nachfragemarkt, denn sie seien "große Immobilienbesitzer", stellte Rettich klar. Und schon durch die Umstrukturierung der Bundeswehr und durch den Abzug ausländischer Militärkräfte seien dem Bund "massive Flächen" zugefallen. Vor ein paar Jahren habe dieser Wert immerhin bei 35.000 Hektar gelegen, sagte Rettich. Zwischen dem Bund bzw. den Ländern und den Kommunen, die Boden gerne zu Bauland machen wollten, sei es deshalb seit Jahren zu einem "Geschacher" über die Quadratmeterpreise gekommen.
Kommunale Bodenfonds?
Viele Experten forderten deshalb "komunale Bodenfonds", in die die brachliegenden Flächen zweckgebunden "eingelegt" werden könnten, damit "die Kommunen darauf Wohnungen errichten", "klimaadaptive Maßnahmen durchführen" oder "soziale Infrastruktur" schaffen könnten. Die dadurch entstehenden "Nutzungskonkurrenzen" aber heizten "den Preis nochmal zusätzlich an", erklärte Rettich.
Flächenversiegelung "klimaschädlich"
Je weniger eigene Fläche Deutschland noch für landwirtschaftliche Zwecke wie Tierzucht bereit halte, desto mehr Boden müsse man im Übrigen im Ausland beanspruchen: "Wir treiben damit sozusagen die Rodung des Amazonas beispielsweise an". Von daher fordere er, die Städte und Gemeinden "nach innen zu entwickeln" und keine neuen Flächen mehr zu versiegeln - auch, "weil das extrem klimaschädlich" sei, so Rettich.
Der BuchTipp
Stefan Rettich / Sabine Tastel (Hg.)
Die Bodenfrage. Klima, Ökonomie, Gemeinwohl
Jovis Verlag 2021
144 Seiten. 16.00 Euro
ISBN 978-3-86859-669-4
Dossier:
Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 09.11.2021 auf SR 2 KulturRadio. Das Bild ganz oben zeigt einen Traktor bei der Feldarbeit (Archivfoto: SR Fernsehen).