Van Eyck_gl-wims (Foto: SR)

Der Van Eyck-Code

Ein Beitrag von SR-Reporter David Differdange

Onlinefassung: Rick Reitler   25.01.2022 | 08:00 Uhr

Der Informatiker Gilles Simon aus Nancy hat kürzlich eine Entdeckung gemacht, die als kleine Revolution in der Kunstwelt gilt: Er konnte mithilfe von Computersimulationen und einem ausgeklügelten Algorithmus nachweisen, dass der flämischen Maler Jan Van Eyck im 15. Jahrhundert eine "Perspektiv-Maschine" genutzt haben muss. SR-Reporter David Differdange kennt die Details.

Es ist die Geschichte einer perspektivischen Detektivarbeit: Gilles Simon, Informatiker an der Université de Lorraine in Nancy, forscht eigentlich in den Bereichen Augmented Realitiy und digitale Bilderkennung. Eher zufällig begann er irgendwann, sich mit dem Werk des flämischen Künstlers Jan van Eyck (1390 - 1441) zu beschäftigen.

Fluchtpunkte

Bei der Inaugenscheinnahme des berühmten Genter Altars aus der Werkstatt von Jan van Eyck war Simon von der Nutzung der Perspektive ziemlich überrascht: Vor allem die des Brunnens, der als dreidimensionales Sechseck dargestellt ist, galt bis dahin als veraltet. Ähnliches galt bislang für die "Arnolfini-Hochzeit", einem der bekanntesten Gemälde Jan van Eycks. Es zeigt ein reiches Paar, der Mann hat die Hand zum Schwur erhoben, die Frau trägt ein grünes Kleid und ist mit einem gewölbten Bauch dargestellt. Bisher war über die Perspektive und mögliche Fluchtpunkte im Gemälde gestritten worden.

"Perspektivmaschine"

Gilles Simon aber konnte nun mithilfe eigener Codes und Algorithmen Licht ins Dunkle bringen. Er errechnete mithilfe einer Computersimulation die wahrscheinlichsten Geraden in der Arnolfini-Hochzeit und erhielt mehrere Fluchtpunkte. Diese Punkte sind auf ganz besondere Weise angeordnet, nämlich beinahe perfekt vertikal, und dabei gleich weit voneinander entfernt. Dies deutet nach Ansicht von Simons darauf hin, dass Jan van Eyck eine Art "Perspektivmaschine" verwendete. Einen Stab mit vier Dioptern: Löcher, durch die der Künstler seine Modelle anvisierte.

Davon ausgehend, sagt Gilles Simon, muss van Eyck eine Vorzeichnung angefertigt haben. Das heißt, er malte direkt auf eine Scheibe und umriss das, was er dahinter sah. Pro Diopter fertigte er einen Streifen, einen Teil des Bildes an. Am Ende drehte er die Scheibe um und übertrug die Vorzeichnung auf eine Leinwand. Diese Entdeckung stellt die bisher mehrheitlich vertretene Meinung über van Eycks räumliche Darstellungskunst völlig in Frage. Standen van Eyck und andere flämische Künstler doch im Austausch mit Norditalien, wo zu der Zeit die geometrisch konstruierte Perspektive erfunden wurde?

Kunsthistoriker interessiert

Insgesamt sechs Gemälde hat Gilles Simon bisher analysiert - und in allen fand er Hinweise auf die Verwendung einer Perspektivmaschine. Damit weckte der Informatiker auch das Interesse des Kunsthistorikers Ludovic Balavoine aus Bordeaux, der kürzlich eine neue Biografie über Jan van Eyck veröffentlicht hatte. Gemeinsam wollen Simon und Balavoine nun weitere Gemälde van Eycks untersuchen – und klären, welche Kontakte es zwischen Norditalien und Mitteleuropa gab. Dabei könnten sie ein Stück Kunstgeschichte neu schreiben.

Hintergrund

Den Malern der flämischen Schule aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde bislang wenig Verständnis für Perspektive nachgesagt. Die räumlich korrekte Darstellung wurde ab 1400 maßgeblich vielmehr von italienischen Künstlern geprägt. So gilt der Florentiner Bildhauer und Architekt Filippo Brunelleschi als Entdecker der geometrisch konstruierbaren Perspektive: Mit ihm verbindet man die Begriffe Fluchtpunkt und Zentralperspektive.


Der SR 2-FernsehTipp:


Ein Thema in der Sendung "Der Nachmittag" am 24.01.2022 auf SR 2 KulturRadio und in "Wir im Saarland - Grenzenlos" am 24.01.2022 im SR Fernsehen.

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