Stimmen SR 2, Michael Thieser (Foto: Pasquale D'Angiolillo)

Wahlkampf ohne „Hui“ und „Pfui“

Michael Thieser

  24.09.2021 | 06:30 Uhr

Während das Ausland den Wahlkampf vor der anstehenden Bundestagswahl teilweise als langweilig empfindet, erleben die meisten Deutschen ihn als spannend. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat erleben einen unerwarteten Höhenflug. Die drohenden Verluste für die CDU könnten sich auch auf das Saarland auswirken - eine Analyse.

Die altehrwürdige „New York Times“ analysierte vor kurzem die politische Lage in Deutschland und kam zu dem Schluss: „Die Deutschen lieben es langweilig“.

In dem Artikel der Autorin Katrin Bennhold wird darüber hinaus der frühere US-Botschafter John Kornblum mit den Worten zitiert, gemessen an Olaf Scholz sei es aufregender, dem Wasser beim Kochen zuzusehen, als eine Kundgebung des SPD-Kanzlerkandidaten zu besuchen.

Zeichen stehen auf Veränderung

Die Wahrnehmung der meisten Bundesbürgerinnen und -bürger ist jedoch eine ganz andere. Selten war eine Wahlauseinandersetzung so spannend wie dieses Mal und gottlob ist dem Land eine Schlammschlacht wie zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen in den USA erspart geblieben!

Die Deutschen haben am Sonntag die Wahl und sie werden letztlich darüber entscheiden, ob es an der Spitze der Regierung zu einem Wechsel kommt. Die Zeichen stehen – angesichts der großen Herausforderungen – auf Veränderung. Die meisten Menschen wissen und spüren dies, nur im Wahlkampf war dies kaum ein Thema.

Wenig Inhalt im Wahlkampf

Statt um Inhalte ging es um Plagiate und die korrekte Zitierweise in einem Sachbuch, unvollständige Lebensläufe, ein unangebrachtes Lächeln im Katastrophengebiet oder um die Durchsuchung einer Finanzbehörde, die bis vor Kurzem den meisten Bürgerinnen und Bürgern noch völlig unbekannt war. Die Konsequenz wird sein, dass es am Sonntagabend zwar Gewinner und Verlierer geben wird, aber keine klare Richtungsentscheidung.

Wahlkämpfe sind eigentlich dazu da, sich im Wettstreit über den künftigen Kurs der Politik zu verständigen. Dass dies in den letzten Wochen jedoch nur sehr eingeschränkt oder gar nicht der Fall war, ist nicht gut für eine Demokratie und spricht mehr für die Angst der Parteien vor den Wählerinnen und Wählern als für die Zuversicht und die Überzeugungskraft der jeweils eigenen Positionen und Argumente.

Unerwartete Wiedergeburt der SPD

Die TV-Trielle mit Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock, entfachten jedenfalls nirgendwo eine wirkliche Euphorie, außer dass die Sozialdemokraten sich die Augen reiben und noch immer nicht fassen können, dass das Rennen um die Nachfolge von Angela Merkel so eng geworden ist, wie es vor Monaten kaum jemand für möglich hielt.

CDU und CSU droht die größte Niederlage in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die SPD hat das schon mehrfach hinter sich und Olaf Scholz beschert ihr nun eine unerwartete Wiedergeburt.

Das Kalkül geht wie folgt: Überquert die SPD am Sonntag als erste die Ziellinie und legen die Grünen deutlich zu, dann liegt es ausschließlich an der FDP, ob ein solches Wählervotum in einer Hängepartie oder aber einer raschen Regierungsbildung endet.

Minimalkonsens als Richtschnur?

Die Signale der letzten Tage waren eindeutig, die SPD wird keine rot-grün-rote Koalition gegen den Willen ihres potenziellen Kanzlers durchsetzen, was einigermaßen absurd wäre; und die „Rote-Socken-Kampagne“ der Union war von Beginn an mehr ein Hilferuf in eigener Sache als ein Schreckgespenst, das die Wählerschaft in Aufruhr versetzt.

Das eigentliche Problem ist ein anderes: Regierungsbildung in Deutschland könnte in Zukunft nur noch in Form von Dreierbündnissen möglich sein und dazu führen, dass der Minimalkonsens zur Richtschnur wird und angesichts von Klimawandel und digitaler Transformation dringend notwendige Entscheidungen erneut vertagt oder verhindert werden.

Sollten wiederum, trotz aller anderslautenden Umfragen, CDU und CSU die Nase vorne haben, liegt der Ball im Spielfeld der Grünen und man muss damit rechnen, dass es eine lange Sondierungsphase geben wird, bis klar ist, ob es gelingt, im zweiten Versuch ein Jamaika-Bündnis aus Union, Grünen und FDP zustande zu bringen.  

Auswirkungen auch auf das Saarland

Insgesamt war es ein Wahlkampf ohne „hui“ und „pfui“, der seinen Reiz und seine Spannung vor allem daraus bezog, dass mit Angela Merkel die beliebteste Politikerin des Landes nicht mehr antritt.

Die Verschiebung der Machtverhältnisse am Sonntagabend wird im Übrigen auch im Saarland nicht ohne Folgen bleiben. Dass die CDU erneut alle Direktmandate gewinnt, gilt als äußerst unwahrscheinlich.

Der Landesvorsitzende, Ministerpräsident Tobias Hans, dürfte dies mit großer Sorge beobachten, denn nach der Wahl ist vor der Wahl. Im März wird im Saarland ein neuer Landtag gewählt und für Tobias Hans geht es dann um alles oder nichts.

Als Hoffnungsträger der Nach-Merkel-CDU und gern gesehener Gast in den bundesdeutschen Talkshows hat er nach wie vor ein Handicap: Er hat noch nie aus eigener Kraft eine Wahl gewonnen.

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