Eine Bushaltestelle auf dem Land (Foto: Imago Images/serienlicht)

„Ländliche Regionen nicht zu früh aufgeben“

Das Gespräch führte Sandra Schick   14.11.2020 | 09:00 Uhr

Viele ländliche Regionen verzeichnen seit Jahren anhaltenden Bevölkerungsschwund, weil es die jungen Generationen in die Städte zieht. Durch Corona ist nun plötzlich von einer neuen Sehnsucht aufs Landleben die Rede. Aber kann die Pandemie wirklich die Trendwende bringen? Dazu müssen die Voraussetzungen auf dem Land stimmen, erklärt Stadt-Land-Forscherin Dr. Ariane Sept im Interview.

SR.de: Über lange Zeiträume verließen Menschen die ländlichen Regionen, um in den Städten zu arbeiten, Stichwort Landflucht. Ist das immer noch so?

Dr. Ariane Sept (Foto: Felix Müller/IRS)
Dr. Ariane Sept forscht am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung zu den Wechselbeziehungen von Städten und Regionen und der Digitalisierung im Ländlichen Raum.

Ariane Sept: Ja und Nein. Es gibt nach wie vor natürlich genug Menschen, die die ländlichen Räume verlassen. Aber wenn ich mir die Wanderungsbewegungen um die großen Städte wie Berlin, Hamburg, München, Frankfurt anschaue, dann sehen wir seit ungefähr 2010 eine kleine Tendenz, dass Menschen verstärkt in den suburbanen Raum, also in die nähere Umgebung der großen Städte ziehen. Darüber hinaus sehen wir auch Wanderungsbewegungen, die über die unmittelbare Umgebung hinausgehen. In Berlin zum Beispiel ganz konkret seit dem Jahr 2014.

Das sind allerdings statistisch relativ kleine Zahlen. Es wäre falsch, von einem riesengroßen neuen Trend auszugehen, weil wir ja nach wie vor Zuzug in die großen Städte haben.

SR.de: Es gibt also nach wie vor Menschen, die in die Städte ziehen. Aber wie ist es denn umgekehrt: Man hat in Medienberichten in der Coronazeit gehört, dass Menschen verstärkt die großen Städte, wie etwa New York oder Paris, in Scharen verlassen, um aufs Land zu gehen. Ist das ein neuer Trend?

Sept: Nicht ganz neu. Diese Tendenzen sehen wir schon seit ein paar Jahren auch ganz zaghaft in der Statistik. Aber in Deutschland haben wir viel weniger Zweitwohnsitze, als das in Frankreich, Italien den USA üblich ist. Das heißt, es konnten hier auch weniger Menschen wegen Corona auf ihren Zweitwohnsitz fliehen, wie wir das aus anderen Ländern gehört haben.  

Was wir aber durchaus gesehen haben, ist, dass Menschen, die schon länger darüber nachgedacht haben, aufs Land zu ziehen, sich überlegt haben: „Vielleicht ist das ja jetzt der richtige Moment.“ Das ist so eine kleine Tendenz, die wir beobachten. Auch da gibt es zwei Seiten: Einerseits die Attraktivität der ländlichen Räume, andererseits eine zunehmende Unattraktivität der Großstädte, was im Wesentlichen mit schwer bezahlbarem Wohnraum zu tun hat.

SR.de: Gibt es denn schon Erkenntnisse, was für Menschen das sind, die jetzt ernst machen mit ihrem Traum vom Leben auf dem Land?

Sept: Schon vor der Pandemie haben wir dabei vor allem zwei Gruppen ausgemacht. Das sind zum einen Menschen, die kreativen oder ortsunabhängigen Berufen nachgehen. Das können zum Beispiel Künstler sein oder Programmierer und Webdesigner. Das sind Menschen, die sowieso schon ortsunabhängig arbeiten. Für sie ist es quasi egal, ob sie jetzt in der Großstadt sitzen oder auf dem Land – sie brauchen nur eine schnelle Internetverbindung.

In Berlin-Brandenburg kann man beobachten, dass diese Menschen häufig sogar in Gruppen in die Peripherie gehen und sich dort auch in die Dorfgemeinschaft einbringen, gemeinsam Objekte übernehmen und versuchen, gemeinsam etwas zu schaffen.

Die zweite Gruppe sind ältere Menschen, die nach Ende ihres Berufslebens nochmal umziehen. Das kann eine Rückkehr an den Ursprungsort sein, vielleicht weil man ein Haus geerbt hat oder Menschen, die zu ihrem Zweitwohnsitz ziehen.

SR.de: Wenn man jetzt die erste Gruppe betrachtet, also Menschen die ortsunabhängig arbeiten - wenn das mehr werden, kann sich das auf die Stadt-Land-Beziehungen auswirken?

Sept: Wir sehen ja schon seit einigen Jahren die Tendenz, dass es Menschen gibt, die ortsunabhängig arbeiten und das eben gerne und auch freiwillig im peripheren Raum tun. Aber man muss mitbedenken: Das funktioniert natürlich nur, wenn wir in diesen peripheren Räumen – und das wird zunehmend ein wichtiger Standortfaktor – eine funktionierende Breitbandinternetverbindung haben. Damit steht und fällt einfach alles.

Der zweite Punkt ist, dass die Art und Weise des ortsunabhängigen Arbeitens auch sehr stark von dem abhängig ist, was überhaupt seitens des Arbeitgebers ermöglicht wird. Wir haben immer wieder festgestellt, dass es an organisatorischen Rahmenbedingungen fehlt oder es arbeitsrechtliche Schwierigkeiten gibt. Da muss es neue Regelungen geben, sonst ändert sich nicht viel. 

Aber wenn die Rahmenbedingungen stimmen, dann kann es durchaus zu Veränderungen führen. Dann kommt es auch sehr darauf an, was in den Orten selbst passiert.

SR.de: Welche Voraussetzungen müssen denn die Orte mitbringen, damit Städter sich dort niederlassen?

Sept: Zum einen, wie schon erwähnt, das zentrale Thema Breitbandausbau. Ich bin jemand, der sagt: Es braucht flächendeckenden Breitbandausbau, quasi „an jeder Milchkanne“, wenn man so will.

Dann muss es attraktiven Wohnraum geben. Denn wir sehen zwar, dass Menschen aus den ländlichen Räumen wegziehen. Gleichwohl ist in manchen Dörfern der Wohnraum knapp, weil eben die einzelne Frau jetzt alleine in einem großen Haus lebt, in dem früher eine ganze Familie gelebt hat. Nur weil die Einwohnerzahl sinkt, heißt es noch lange nicht, dass es Leerstand oder attraktiven Wohnraum gibt.

Zum anderen sind es die üblichen Standortvoraussetzungen, an die man rangehen muss: Kindergärten und Schulen mit langen Betreuungszeiten. Auch die Versorgung spielt eine Rolle: Es ist dauerhaft nicht attraktiv, 20 Kilometer bis zum nächsten Supermarkt zurücklegen zu müssen.

Auch die Verkehrsanbindung spielt eine Rolle. Auch wenn das Thema ÖPNV tatsächlich in manchen Regionen weniger bedeutsam zu sein scheint, als man denkt. Wir haben zum Beispiel ein Forschungsprojekt in der Eifel. Aus meiner brandenburgischen Sicht funktioniert der ÖPNV dort überhaupt nicht. Aber für die Menschen scheint das keine Rolle zu spielen, die Menschen in der Eifel rechnen offenbar gar nicht erst mit einem funktionierenden Nahverkehr.

Das muss sich langfristig natürlich ändern, schon aus Umweltschutz- und Klimaschutzgründen.

SR.de: Da haben sie ja schon viele harte Standortfaktoren genannt. Was brauchen Dörfer darüber hinaus noch, zum Beispiel an weichen Faktoren?

Sept: Etwas, das wir auch schon länger sehen, bei den Menschen, die ortsunabhängig in der Peripherie arbeiten, ist das Bedürfnis nach Austausch vor Ort. Denn auch im Homeoffice mit dem schönsten Haus, mit dem tollsten Garten fehlt irgendwann so ein bisschen der Austausch.

Da spielt dann die Frage nach Treffpunkten eine Rolle. Denn es ist ja absurd: Die ländlichen Räume sind attraktiv, weil man einen stärkeren Bezug zu anderen Personen hat - gleichzeitig gibt es aber eigentlich keine Treffpunkte mehr. Man schneidet sich also eigentlich die eigenen Vorteile ab.

Wir sehen bei unserer Forschung in vielen Dörfern, dass zumindest ein „Schmalspurdorfleben“ ganz viel dazu beitragen kann, ein Dorf zu erhalten. Wo es eine aktive Dorfgemeinschaft gibt, wo regelmäßig Feste veranstaltet werden, man sich zu gemeinsamen Aktivitäten verabredet, aufgeschlossene Ortsvorsteher hat. Das alles macht einen riesengroßen Unterschied.

Es braucht auch eine Offenheit gegenüber Interessierten, die in die ländlichen Räume ziehen wollen. Nennen wir es mal eine Art „ländliche Willkommenskultur“.

SR.de: Jetzt haben wir viel über Städter gesprochen, die man neu für die Dörfer gewinnen kann. Was ist denn mit den jungen Menschen, die aus den Dörfern wegziehen? Kann man da irgendwie gegensteuern?

Sept: Natürlich bleibt nach wie vor die Frage nach dem Arbeitsmarkt wichtig. Auch wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen zunehmend ortsunabhängig arbeiten. Aber ich halte es für falsch, dafür sorgen zu wollen, dass die jungen Menschen nicht aus den Dörfern weggehen. Es spricht ja nichts dagegen, dass man für Ausbildung und Studium erstmal weggeht. Das hat noch niemandem geschadet.

Die interessante Frage ist eher, was muss passieren, damit sie dann mit ihren neu erworbenen Kompetenzen auch wieder zurückkommen? Ich glaube das ist eine ganz wichtige Zielgruppe, die man adressieren müsste und auch kann. Es gibt ja auch junge Menschen, die sagen: Eigentlich bin ich ja ein Landkind und fühle ich mich auf dem Dorf wohl.

SR.de: Also ist insgesamt die Hoffnung berechtigt, dass der ländliche Raum auch im Saarland von den aktuellen Trends profitiert, wenn die richtigen Weichen gestellt werden?

Sept: Grundsätzlich sollte man Regionen nicht zu früh aufgeben. Wir hatten ja auch in Brandenburg schon aufgegeben. Und jetzt geht man davon aus, dass die Einwohnerzahl stabil bleiben wird, weil es so viel Zuzug, zum Beispiel aus Berlin und Hamburg gibt. Man hat natürlich auch Möglichkeiten, politisch einzugreifen, um eine Region attraktiver zu machen.

Auch die Art und Weise, wie man über Räume redet, kann deren Entwicklung beeinflussen. Wenn ich ständig sage, diese Gegend ist unattraktiv und stirbt, dann wird die Gegend auch sterben. Es ist auch eine kommunikative Frage.

Wenn das Saarland mal ein bisschen von seinem Ruf wegkommen würde, nur eine ehemalige, traurige Kohle- und Industrieregion zu sein, die sowieso den Bach runtergeht und dann noch Elsass-Lothringen vor der Haustür hat, dann glaube ich, ist das Saarland ein total attraktives Bundesland.

Schon allein aufgrund seiner geografischen Lage, mitten in Europa. Ich war mal in Blieskastel, da hat man schon als Außenstehender den Eindruck, hier treffen sich zwei unterschiedliche Kulturen. Man sieht französisches Gebäck, man hört Menschen, die Französisch sprechen. Mit diesem Frankophilen und Europäischen kann man punkten.

SR.de: Frau Sept, wir danken für das Gespräch.

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