Kriminologe kritisiert geringe Verurteilungsquote bei Polizeigewalt
In den letzten vier Jahren wurden im Saarland 104 Verdachtsfälle von möglicher Polizeigewalt registriert. Zur Verurteilung kam es in keinem Fall. Ein Kriminologe der Uni Frankfurt fordert deshalb Konsequenzen, um die Aufarbeitung von Polizeigewalt zu verbessern.
Laut Statistik gab es im Jahr 2021 im Saarland 450 Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt. Aber auch umgekehrt gibt es Fälle von Polizistinnen und Polizisten, die ihr Amt missbrauchen, wie im August mutmaßlich bei den tödlichen Schüssen auf einen Teenager in Dortmund.
104 Fälle in vier Jahren
Deutschlandweit gibt es rund 2500 Verdachtsfälle von Polizeigewalt im Jahr. Im Saarland wurden seit 2019 insgesamt 104 Fälle registriert. Doch in keinem einzigen Fall kam es zur Verurteilung.
"Eine bedenkliche Bilanz", findet der Rechtswissenschaftler und Kriminologe Tobias Singelnstein von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Die geringe Anklagequote bedeute, dass die strafrechtliche Aufarbeitung solcher Verdachtsfälle nicht besonders gut funktioniere "und dass wir dringend andere Wege beschreiten müssen, um zu angemessener Kontrolle polizeilicher Gewaltausübung zu kommen".
Verurteilungsquote bei einem Prozent
Auf zehn Jahre gesehen liegt die Verurteilungsquote wegen Polizeigewalt im Saarland nach SR-Recherchen bei knapp einem Prozent, das ist etwa so niedrig wie im Bund.
Einen Grund dafür sieht Singelnstein darin, dass es häufig an objektiven Beweisen mangele. Oft fehlten etwa Videoaufnahmen von den Übergriffen. Dann stehe Aussage gegen Aussage. Das verschärfe sich noch durch einen Korpsgeist bei der Polizei.
"Es kommt in der Praxis sehr selten vor, dass sich Kolleginnen und Kollegen belasten", so Singelnstein. "Es gibt eine starke Binnenkultur, genannt 'cop culture'. Einen starken sozialen Zusammenhalt." Wer Kollegen belaste, der müsse mit sozialen Konsequenzen innerhalb der Organisation rechnen.
Gewerkschaft weist Vorwürfe zurück
Diesen Befund weist die Gewerkschaft der Polizei (GdP) scharf zurück. David Maaß, Landesvorsitzender der GdP im Saarland, sagte im SR: "Der Korpsgeist ist auch gut, er hilft etwas durchzustehen. Der Korpsgeist ist in meinen Augen nicht dazu da, sich gegenseitig zu decken, etwas zu verdecken oder zu vertuschen."
Maaß beteuerte zudem, dass der Rechtsstaat auch im Fall von Polizeigewalt funktioniere. Er äußerte Kritik an der Studie des Wissenschaftlers: Sie sei methodisch zweifelhaft und nicht repräsentativ.
Auch Innenminister Reinhold Jost (SPD) sprach von einem Zerrbild der Wirklichkeit. Verfehlungen von Polizisten würden konsequent verfolgt und sanktioniert.
Betroffene erleben "Ohnmachtsgefühl"
Von unrechtmäßiger Polizeigewalt sind laut Singelnstein vor allem soziale Randgruppen und Minderheiten besonders betroffen. Viele Betroffene würden mangels Erfolgsaussichten keine Anzeige stellen. "Die Betroffenen erleben das häufig als Ohnmacht, weil sie den Eindruck haben, gar keine Möglichkeit zu haben, damit umzugehen.
Solche Erfahrungen mit der Polizei könnten auch das Vertrauen in den Rechtsstaat gefährden - und sogar Gewalt gegen Polizisten schüren, so der Experte.
Singelnstein plädiert deshalb für eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Ermittlungsbehörde für Polizeigewalt. Auch die Pflicht zu Bodycams bei Gewalteinsätzen könne helfen. Ebenso das Filmen mit dem Handy durch Unbeteiligte, wenn sie Zeuge eines Polizeieinsatzes werden.
Über dieses Thema hat auch der aktuelle bericht am 03.04.2023 berichtet.