Warum Erwachsene den Hauptschulabschluss nachholen
Wer keinen Hauptschulabschluss hat, hat keine Chance in vielen Ausbildungsberufen. Deshalb holen jedes Jahr auch Erwachsene diesen Abschluss nach. Warum sie dafür auch nach langen Arbeitstagen noch paukt, erzählt Melanie Ostermayer.
Für Melanie Ostermayer sind es Schritte zurück in die Vergangenheit und gleichzeitig will sie hier ihre Zukunft gestalten. Seit Ende September drückt sie wieder regelmäßig die Schulbank in der Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken – und das mit 36 Jahren.
Drei Mal die Woche büffelt sie am Abend Deutsch, Mathe, Biologie, Geschichte, Sozial- und Erdkunde, immer von 17.30 Uhr bis 21.15 Uhr. Morgens arbeiten, mittags die beiden Kinder betreuen, abends lernen – Ostermayers Tage sind eng getaktet.
Abschluss vor der Ausbildung
Melanie Ostermayer hat keinen Abschluss. Mit 14 Jahren schmiss sie die Schule, wollte Geld verdienen. Heute arbeitet sie als Pflegeassistentin in einer Seniorenresidenz in Völklingen, nun will sie sich verändern und weiterbilden, ihren Hauptschulabschluss über die VHS Saarbrücken nachholen.
Sie verfolgt damit ein klares Ziel: „Ich will kommendes Jahr eine Ausbildung als Pflegefachfrau beginnen. Dafür brauche ich aber einen Bildungsabschluss. Und deshalb bin ich hier.“
Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lebensläufen
Damit ist sie nicht allein. Rund 19 weitere Schülerinnen und Schüler sitzen heute mit ihr in der Klasse. Ihre Lebensläufe und Hintergründe sind ganz unterschiedlich, aber sie haben ein gemeinsames Ziel: mit mehr Bildung bessere Jobs zu bekommen.
„Auch ich möchte mit einem Abschluss die Ausbildung als Pflegefachfrau beginnen“, sagt Lisa Wagner. Wasim Aljabban hofft, dass er mit dem Hauptschulabschluss bessere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt hat und bald eine Lehre beginnen kann.
Zahlenlage unübersichtlich
Wie viele Menschen im Saarland keinen Bildungsabschluss haben, darüber lässt sich laut Bildungsministerium keine seriöse Aussage treffen, da das Ministerium keine Schüler-Individualdaten erhebe. „Das heißt, wir können nicht sagen, inwiefern eine bestimmte Schülerin oder ein bestimmter Schüler die Schule mit welchem Abschluss verlassen hat“, teilte ein Sprecher mit. Abgänger ohne Hauptschulabschluss aus den allgemeinbildenden Schulen wechselten oftmals in den Bereich der beruflichen Schulen und könnten dort den Abschluss nachholen.
Die Zahl der Absolventen und die Zahl derjenigen, die durchfallen, ist in den vergangenen Jahren in etwa konstant. Die Prüfungen zum Hauptschulabschluss haben in diesem Jahr 1649 Schülerinnen und Schüler bestanden (Vorjahr: 1670). Durchgefallen sind 98 (Vorjahr: 72). Im Vor-Corona-Prüfungsjahr 2019 hatten 1834 die Prüfungen erfolgreich abgelegt, nicht bestanden hatten damals 110 Schülerinnen und Schüler.
Abschluss als Kickstart für erfolgreiche Karriere
Der pensionierte Deutsch- und Kunstlehrer Fred Weber begleitet die Saarbrücker VHS-Klasse auf ihrem Weg zu den Prüfungen. Kurz vor den Sommerferien ist der Termin. Heute geht es im Unterricht darum, einen Aufsatz zu schreiben, zu einem Thema Pro- und Contra-Argumente zu finden. „Deutsch ist ein Fach, das mir relativ schwer fällt“, gesteht Ostermayer. Sie hört zu, ist konzentriert, meldet sich regelmäßig und schreibt sorgfältig mit.
Fred Weber unterrichtet bereits seit 20 Jahren für die VHS. Er weiß, der Abschluss hier kann die Initialzündung für eine erfolgreiche Karriere sein. „Ich habe festgestellt, welche Fähigkeiten, welch eine Wissbegierde und Neugierde Menschen entwickeln, die in einer gewissen Lebensphase sind. Wir haben hier Teilnehmer, die arbeiten in der Pflege oder anderen technischen Berufen und da entdecken sie erst richtig ihr Potenzial. Und ihnen dabei zu helfen, das auszuschöpfen, das macht mir ganz viel Spaß.“
Abschluss auf dem zweiten Bildungsweg
So wie Melanie Ostermayer und ihre Klasse an der VHS in Saarbrücken holen auch viele weitere Menschen im Saarland ihren Abschluss nach. Nach Angaben des Bildungsministeriums erhielten im vergangenen Schuljahr 2021/22 insgesamt 59 Schüler einen Mittleren Bildungsabschluss und 19 Schüler die allgemeine Hochschulreife über den Zweiten Bildungsweg.
Pro Jahr erlangen rund 15 Personen darüber die Fachhochschulreife. Zudem nehmen rund 100 Personen an der jährlich angebotenen Nichtschülerprüfung zum Erreichen eines Hauptschulabschlusses oder Mittleren Bildungsabschlusses teil, durchschnittlich 75 Prozent bestehen die Prüfungen.
Zukunft gestalten
Ihre Prüfungen bestehen will auch Melanie Ostermayer. Nochmal wird sie die Schule nicht abbrechen. „Ich möchte nämlich noch möglichst lange meinen Job ausüben können, das wäre mein Wunsch.“
Nach bestandener Prüfung kommt die dreijährige Ausbildung zur Pflegefachfrau. Melanie Ostermayer hat einen klaren Plan für die Zukunft und will sich nicht mehr aufhalten lassen.
Ein Beitrag auch in "aktuell" im SR Fernsehen am 17.11.2022.