Rabaté - Der Schwindler (Foto: Schreiber und Leser /Vents D’Ouest)

Schwindler, Feriensehnsucht und gnadenloses Island

Beeindruckende Graphic Novels Herbst 2018 2

Gerd Heger   06.11.2018 | 08:30 Uhr

Wenn das Comic zur Kunst wird - und zum literarischen Genre, dann nennt sich das Graphic Novel. Drei weitere neue, ganz unterschiedliche Bildergeschichten aus dem Frankophonen rechtzeitig vor Weihnachten.

Ferien am Meer mit beeindruckendem Mädchen (Foto: Reprodukt / Casterman)
Ferien am Meer mit beeindruckendem Mädchen

Diese Geschichte zaubert den Sommer herbei. Den Sommer vorzugsweise am Meer. Und das seltsame Zwischenreich zwischen Kindheit und Jugend, kurz bevor und gerade wenn die Sinne erwachen. Antoine (13) ist mit der Familie in Ferien auf einer Atlantikinsel, Hélène (16) wird während der heißen (und langweiligen) Tage ohne Richtung und Verpflichtung seine Freundin, sein Traum und seine erste Liebe. Verwirrend, schön, sexy, unwirklich.

Vivès - Eine Schwester (Foto: Reprodukt / Casterman)
Vivès - Eine Schwester

Bastien Vivès, Wunderkind der Graphic Novel in Frankreich, auf seinem Blog ein witziger Lebensfänger, hat es einfach drauf: Wie immer in seinen Geschichten schafft er es, mit wenigen, scheinbar einfachsten Zeichnungen, mit Timing, dem richtigen Blick und einer schier unglaublich präzisen Leichtigkeit unser Gefühlszentrum zu erreichen – bis das Herz klopft. Auch aufgrund eines dramatischen Showdowns. „Eine Schwester“ ist das ganze Wunder des ferienbedingten Er-Wachsens auf 200 Seiten schwarz-weiß-schattierter Gefühlsfarbe. Und mit Recht im Rennen um den Rudolph-Dirks-Award der Comic Con Deutschland.

Bastien Vivès Eine Schwester (Reprodukt)
Im Original: Une Soeur  (Casterman)


Eine russische Geschichte (Foto: Schreiber und Leser /Vents D’Ouest)
Eine russische Geschichte

Wer den Begriff Graphic Novel sinnlich erfahren möchte, sollte Pascal Rabatés „Schwindler“ in die Hand nehmen – gefühlt locker 5 Kilo im Format eines Ausstellungskatalogs. Ein bisschen größenwahnsinnig ist es schon, einen kompletten Roman von Meister Tolstoi, nämlich „Ibykus – die Emigranten“, in fast 2000 kleinen und großen aquarellierten Bildern umzusetzen. Die Geschichte des unbedeutenden Büroangestellten Semjon Iwanowitsch Newsorow in den Wirren der Revolution saust von Petrograd über die Weiten Russland bis hin in das damals großweltige Tblissi und nach Istanbul am Anfang des 20. Jahrhunderts, von Weissagungen geprägt, deftigen Liebesaffären, grausigen Mordgeschichten, Rettungen in letzter Minute und viel moralischer Flexibilität.

Rabaté - Der Schwindler (Foto: Schreiber und Leser /Vents D’Ouest)
Rabaté - Der Schwindler

Bewundernd stemmt man den 500-seitigen Klotz auf einen Tisch, die Augen fressen sich satt an den expressionistischen Schwarz-Weiß-Malereien – und man taucht staunend ein in eine Zeit, die so fern scheint und doch in so vielem den heutigen wirren Zeiten gleicht. Das monumentale Werk des 1961 geborenen Rabaté, der als Autor und Zeichner fungiert – inzwischen auch mal als filmischer Umsetzer seiner Comcis, 2005 fertig gestellt, ist jetzt endlich in einer wunderschön aufgemachten Ausgabe (mit Extras) auf Deutsch zu bewundern – wurde von ihm selbst 2018 auch in Deutschland präsentiert.

Pascal Rabaté  Der Schwindler (Schreiber & Leser)
Im Original: Ibicus (Vents d’Ouest)


Ursprüngliches grausames Island (Foto: Reprodukt / Delcourt)
Ursprüngliches grausames Island

Nicht wenige zieht es nach Island (keine Ahnung, wie viele Deutsche in den letzten Jahren die Insel von Björk, Geysiren und öd-überwältigenden Landschaften begutachten mussten). Für all jene, und die, die nicht unbedingt hinfliegen möchten, gibt es über Jérémie Moreaus „Die Saga von Grimr“ jetzt eine Alternative, kostengünstig und mit Bildern in die Seele Islands einzudringen. Klingt jetzt ein bisschen abschätzig – aber was Jérémie Moreau – eine andere Nachwuchshoffnung der französischen Bande dessinée – da vorlegt, das kommt mit farbigen Zeichnungen in einem ganz eigenen, halbnaiven Stil, mit Malereien der Inselwelt und mit der einer großen Nordsaga würdigen Mischung aus holzschnittartigem Direktleben und feinem psychologischem Gespür schon an die ganz große Erzählkunst heran. Kein Wunder, dass „Grimr“ beim Festival in Angoulême 2018 als „Bester Comic“ ausgezeichnet wurde: Die Sehnsucht nach ursprünglichem und nicht entfremdetem Leben, ausgeliefert einer mal behütenden, mal schonungslosen Natur, sie springt uns aus jeder Seite dieses Meisterwerks an. Da wundert es nicht mehr, dass Moreau in einem anderen Leben bei Dreamworks „Ich, einfach unverbesserlich“ hilft, die handelnden „Personen“ besonders schräg aufpeppt.

Jérémie Moreau  Die Sage von Grimr
Im Original: La Saga de Grimr (Delcourt)


Moreau - Die Saga von Grimr (Foto: Reprodukt / Delcourt)
Moreau - Die Saga von Grimr

Was man sonst noch über BD erfahren kann

Tanzen für den Ruhm (Foto: Reprodukt)
Tanzen für den Ruhm

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Konzept

Die Comicbegeisterung in Frankreich ist mit dem deutschen Comicmarkt nicht zu vergleichen. Aber sie schwappt auch über die Grenze: Gut die Hälfte aller frankophonen Bücher, die für Deutschland übersetzt werden, sind Comics. Von den Klassikern wie Asterix oder Lucky Luke bis zu heutigen Serien wie Largo Winch oder XIII, von Cartoongrößen wie Sempé oder Pénélope Bagieu bis hin zu den Zeichnern und Zeichnerinnen von Charlie Hebdo oder den Graphic Novels eines Guy Delisle.

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