Purkarthofer prüft seinen Schrittzähler (Foto: Dieter Leistner)

„Wandern für Europa“ – eine Aktion der Europawelle Saar (3)

Teil 3: Kiel und Coventry: Vorreiter der deutsch-englischen Aussöhnung – Dänen denken pragmatisch über Europa

  26.06.2019 | 12:16 Uhr

England war das vierte Land einer 4000 Kilometer langen Reportage-Wanderung des SR-Reporters Hans-Jürgen Purkarthofer durch die neun Länder der damaligen EG. In einer der größten, längsten und erfolgreichsten Radio-Aktionen* der Europawelle Saar testete er 1979 die Stimmung vor der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament. Und auch seine Kondition. Täglich berichtete er im SR und in einer Wochenend-Kolumne für zahlreiche Zeitungen. Gleich bei seiner Ankunft in Liverpool merkte er: Die Engländer haben ein gespaltenes Verhältnis zur EG. Aber das war beileibe nicht alles, was ihm auffiel.

Von Hans-Jürgen Purkarthofer

„Gehen Sie nicht über Northwich! Sie werden auf dem Weg nach London noch genug Industrie sehen“, riet man mir fast schon flehentlich beim Abmarsch in Liverpool. „Sie müssen unbedingt nach Chester!“ Nach einem Blick auf die Landkarte und Überschlagen der Entfernungen habe ich den Rat befolgt. Es war großartig: Auf der Strecke nach Chester liegt „Port Sunlight“, ein pittoresker Ort in einer grünen Oase mit Bilderbuch-Fachwerkhäuschen. Er wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg gebaut, mitten in ein aufstrebendes Industriegebiet hinein, von Lord Lever, dem Mitbegründer eines großen Chemiekonzerns. „Angewärmt“ kam ich nach Chester. Und schnell war klar: Das muss man gesehen haben!

Als einzige englische Stadt ist sie noch von einer komplett erhaltenen Ringmauer umgeben. In deren Schutz hat sich das mittelalterliche Stadtbild komplett erhalten.

Chester (Foto: Pixabay)
Chester, Foregate Street.


Die Besonderheit Chesters sind die sogenannten „Rows“, Bürgersteige, die quasi in der ersten Etage der Häuschen angelegt sind. Man kann in den Rows ganze Straßenzüge entlang bummeln und findet kleine Geschäfte, Restaurants und Pubs. Über zahlreiche Treppen und Treppchen kommt man zum „normalen“ Bürgersteig hinunter, nochmal gesäumt von Geschäfte und Boutiquen.

Auf meiner Strecke über Stoke on Trent, Stafford nach Coventry hatte ich Gelegenheit, britische Befindlichkeit zu erkunden. Umfragen zeigten, dass gerade eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Mitgliedschaft in der EG war. Häufigster genannter Grund: „Weil alles teurer geworden ist, Benzin, Essen, Mieten, Grundstückspreise“. Nachdenklichere Gesprächspartner führten an, dass Großbritannien 1973 gerade zu einer Zeit Mitglied wurde, als der Ölschock eine immer noch andauernde Krise in der Weltwirtschaft ausgelöst hatte. Auch die vielen Streiks in allen Wirtschaftsbereichen hätten eine Menge Geld gekostet und die Inflation mit angeheizt.

Purkarthofer als Europa-Wanderer (Foto: privat)
Hans-Jürgen Purkarthofer unterwegs in und für Europa.


Es gab allerdings auch tiefer liegende, psychologische Gründe für die Vorbehalte gegenüber der EG. Jahrhundertelang hatten die Briten ihre Maße und Gewichte. Und sollten von jetzt auf nachher mit den fremden Einheiten des Kontinents leben?

Ein Pfund hat 20 Shilling à 12 Pence. Klar? Und 5 Shilling sind ein Sovereign und 21 Shilling machen eine Guinee. Klar! Und jetzt soll das Pfund 100 Pence haben?

Andere Beispiele gefällig? Nun, ein ordentliches Steak wiegt 6 Unzen, ein Pound hat 16 Unzen, also 450 Gramm. Und jetzt sollte das Pound plötzlich 500 Gramm haben? Wie viel Gramm wiegt dann das 6-Unzen-Steak?

Nicht zu beneiden waren auch die Schneider. Statt in Inches sollten sie jetzt in Zentimeter ausmessen. Gut, ein Inch misst rund 2,5 cm. 12 Inches ergeben ein Fuß und drei Fuß sind ein Yard, also genau 91,4 cm. Ist doch einfach, oder? Immerhin durften sie auf der Insel noch Acres für Grundstücke und Gallonen für Benzin behalten.

Mein Problem, beim Überqueren einer Straße erst nach rechts und dann nach links zu schauen, interessierte vor diesem Hintergrund eher wenig.

Der Lord Mayor, Oberbürgermeister, von Coventry heißt Kenneth B. Benfield. Ihm hatte ich die Grüße der Partnerstadt Kiel zu überbringen. Coventry hat wie keine andere englische Stadt unter dem Bombenterror der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gelitten, der die gesamte Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Als einziges Gebäude im Stadtkern war das Rathaus stehengeblieben. Welche Erinnerungen denn möglicherweise noch wach sind und wie man heute in seiner Stadt über Deutschland denkt, habe ich den Lord Mayor gefragt. Seine Stadt, so seine Antwort, sei heute ein Welt-Zentrum der Versöhnung. Ein Pater habe aus den Dachbalken der zerbombten Kathedrale drei Nägel wieder zum ersten Kreuz des Gotteshauses zusammengefügt. Und eine Nachbildung dieses Nagelkreuzes gehe seither als Symbol der Verständigung und Zusammenarbeit in alle Welt.

Kathedrale in Coventry (Foto: Imago Images/rovertharding/David Hughes)
Kathedrale in Coventry.

Es fehlte aber auch ansonsten nicht an Aussöhnungs-Aktivitäten: Deutsche Jugendliche bauten 1961 im Auftrag der „Aktion Sühnezeichen“ die Sakristei der zerstörten Kathedrale wieder auf. Im Gegenzug anerkannten die Briten ihre Verantwortlichkeiten aus dem letzten Krieg. Sie bauten 1964 in Dresden das von den Alliierten zerbombte Diakonissen-Krankenhaus wieder auf.

Mein weiterer Weg über Warwick, Stratford upon Avon, Chipping Norton bis Oxford führte durch die parkähnliche Landschaft Mittelenglands, in der sich die Orte im Zustand vor der Jahrhundertwende erhalten haben und Neubauten im Stil angepasst wurden. In den vornehm-alten und gemütlichen Pubs war immer am meisten über Land und Leute zu erfahren. Aber ich befand mich ja nicht auf einer Kneipentour und sprach natürlich auch auf der Straße Passanten an. Und auch dabei bekam ich zunächst viele der Vorbehalte gegen die EG zu hören. Auch schwang irgendwie die Vermutung mit, dass ich wohl für die falsche Sache unterwegs war. Wenn ich dann die Leute überzeugt hatte, dass ich nicht missionieren sondern reportieren wollte, da interessierten sie sich vorwiegend für die sportliche Seite unserer Aktion. „So many miles, really?“

Aus dem Grün der Landschaft ragten dann doch hin und wieder die klobigen Konstruktionen von Kühltürmen und rauchende Schlote von Industriezentren. Nur von Parks und Pubs konnte England denn auch nicht leben.

Prägend für den Eindruck von dieser Region waren aber eindeutig die in das Grün eingepassten malerischen Orte. Sie störten nicht das Bild der Natur, sondern ergänzten es eher durch ihr malerisches Aussehen. Hier, in „Shakespeares Country“, ca. 60 Meilen um Stratford upon Avon herum, liegen Zeugen der wechselvollen Geschichte sozusagen am Weg: die besterhaltene mittelalterliche Burg des Landes, Warwick Castle, die königliche Porzellanmanufaktur in Worcester und die alten Towers der Earls of Shrewsbury von Nord-Staffordshire. Und all das mitten in einer Park- und Gartenanlage, die als die herrlichste in England beschrieben wird.

Shakespeares Haus (Foto: Pixabay)
Das Haus von William Shakespeare in Stratford upon Avon.

Sich über die Bedeutung von Stratford auszulassen, hieße Eulen nach Athen …, aber wir sind in England. In Stratford upon Avon tobte gerade eine heiße Debatte darüber, wo die Schwäne geblieben waren, die sehr zahlreich den Avon vor dem Shakespeare-Theatre bevölkert hatten. Weil in den Mägen einiger verendeter Tiere Bleigewichte und in den Schlünden anderer Angelhaken gefunden worden waren, befanden sich die Angler gerade in der Defensive. „Im Stadtbereich gibt es nur noch ein Paar“, klagte die Besitzerin einer Teestube. Nun, gegenüber dem Shakespeare-Theater liegt das Pub-Restaurant „White Swan“. Die Künstler hatten es umgetauft in „The Dirty Duck“. Der Wirt bewies sprichwörtlichen britischen Humor und übernahm den Namen mit entsprechender Bemalung auf seinem Türschild.

Es war indes nicht nur heimelig im Nordwesten Londons. In den Krankenhäusern streikten praktisch alle nicht-ärztlichen Dienste: Ambulanz-Fahrer, Techniker, Küchenpersonal, Zimmerdienste in mehr als 500 Hospitälern hatten die Arbeit niedergelegt. Die an Streiks gewöhnten Engländer verfolgten solche Aktionen eigentlich normalerweise mit stiller Solidarität. Und dass die Forderungen des Krankenhaus-Personals berechtigt waren, wurde auch nicht bestritten. Bei Demonstrationen in Oxford zeigten Krankenschwestern ihre Lohnstreifen mit Wochenlöhnen von rund 145 Mark (ja, den Euro gab’s damals noch nicht). Aber was, wenn man jetzt krank würde?

Die geforderten Lohnerhöhungen bewegten sich um 15 – 20 %. Die Regierung hatte sich aber auf eine maximale Steigerung um 10 % versteift. Ein schwer lösbarer Konflikt, der zunehmend auch Unmut bei den Bügern erzeugte. Die bekamen die Streitparteien zu etwa gleichen Teilen zu spüren: Einmal die Gewerkschaften, weil sie mit ihrer Aktion eventuell Patienten in Lebensgefahr brachten. Andererseits die Regierung, weil sie scheinbar tatenlos den Ausstand aussitzen wollte, auf Kosten von Kranken, Alten und Behinderten.

Und noch ein Streik beschäftigte vorwiegend die Eltern in ganz Britannien: Die sogenannten „Caretakers“ kämpften um bessere Bezahlung. Das sind in Ganztagsschulen u. a. die Hausmeister, Heizer, Aufsichts- und Küchenpersonal. Bitter für die Abschluss-Jahrgänge, deren Vorbereitung auf die unserem Abitur entsprechenden Prüfungen nun unterbrochen wurde. Die Gewerkschaften hatten verlangt, dass die Schulen geschlossen werden. Also fiel jeglicher Unterricht aus. Die Abschlussprüfungen wurden für Großbritannien zentral von acht sogenannten „Examination Boards“ abgenommen, die auch die Aufgaben dafür stellten. Nun versuchte Bildungsministerin Williams die Lage zu entschärfen: Sie bat darum, den Schülern, die ausgesperrt waren, entweder leichtere Aufgaben zu stellen oder die Arbeiten nachsichtiger zu korrigieren. Die Reaktion der Kommissionen war „britisch“: Der Unterrichtsausfall sei bedauerlich. Aber 1979 solle nicht als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die üblichen angemessenen Prüfungs-Anforderungen vernachlässigt worden seien.

„Ich habe damals einen Fehler gemacht, wie viele Engländer. Wir dachten alle, es könnte eine gute Sache werden“, sagte die Sekretärin im Bürgermeisteramt des Londoner Stadtteils Greenwich zu ihrer Abstimmung zum EG-Beitritt 1973. Früher habe es billiges Fleisch aus Argentinien und Neuseeland gegeben. Und Milch und Butter seien halb so teuer gewesen. „Fragen Sie mal die Hausfrauen, die einkaufen gehen, was sie vom gemeinsamen Markt halten“, forderte sie mich auf. Deren Antworten kannte ich indessen inzwischen.

Ebenfalls bekannt waren mir die Halb- und Unwahrheiten, mit denen Europa schlecht gemacht werden sollte: Billige Butter würde in die Sowjetunion verkauft und in Frankreich und Italien würden Riesen-Weinüberschüsse finanziert. „Nur hier müssen die Verbraucher ständig tiefer in die Tasche greifen“, war der Tenor. Um zuhause Punkte zu machen, warnte Premier Callaghan (Labour Party) seine Kollegen Regierungschefs, dass Großbritannien sich nicht weiter an den steigenden Agrarmarkt-Kosten beteiligen könne. Die im Prinzip europafreundlichen Konservativen warfen der Regierung aber umgehend vor, dass die Gemeinschaft allenfalls für 10 % der Kostensteigerungen verantwortlich sei, der Rest sei auf die katastrophale Wirtschaftspolitik von Labour zurückzuführen. Der Wahlkampf war damit voll entbrannt. Allerdings hielt es Oppositionsführerin Margret Thatcher für „klüger“, nicht mit pro-europäischen Parolen auf Stimmenfang zu gehen. Sie ließ Ende März nochmals die Parteizeitung „Conservative News“ vom Februar verteilen, in der sie ihr Wahlprogramm vorstellte, die zu hohen Staatsausgaben der Regierung kritisierte und Steuererleichterungen für Unternehmen versprach, die neue Arbeitsplätze bereitstellen würden. Außerdem sollten die Zügel für die rund 90 (!) Gewerkschaften stärker angezogen werden, die durch zahlreiche Streiks die Wirtschaft lähmen würden.

Stratford upon Avon (Foto: Pixabay)
Typisches strohgedecktes Haus in Stratford upon Avon.

Außer den schon erwähnten Ausständen in Krankenhäusern und Schulen streikten gerade auch Verkäuferinnen, Bühnenarbeiter in den Theatern, Studioarbeiter und Kraftfahrer des Fernsehens und wohl auch Müllmänner oder Deponiearbeiter. Denn in den Seitenstraßen und Höfen sammelten sich gerade meterhohe Berge von Müllsäcken. Beim Autoriesen British Leyland wollten die Gewerkschaften die Paritätische Mitbestimmung durchsetzen, und zum 1. April wurden für die Arbeiter des Öffentlichen Dienstes Lohnerhöhungen von 30 % verlangt. Auch das würde sicher nicht ohne Kampf gehen.

Die Deutschen hätten es einfach, für die Europäische Gemeinschaft zu sein, ihnen ginge es ja auch am besten, hörte ich oft von Menschen auf der Straße. Aus vielen Äußerungen klang auch Besorgnis vor einer Vormachtstellung der Deutschen, auch zuweilen Neid: Ein Engländer beklagte das unverdiente Glück der Besiegten, die vor allem mit amerikanischer Hilfe ganz neue Industrien hätten aufbauen können und damit natürlich jetzt anderen überlegen seien.

Margret Thatcher brachte es vor dem Sturz der Regierung Callaghan durch ihr Misstrauensvotum anders auf den Punkt: „We can't have a german standard of living without having a german standard of working.“

Über Watford im Norden Londons näherte ich mich der City. Die Bebauung war nun durchgehend, die Häuser sahen alle gleich aus, gleiche Größe, Erker im Erdgeschoß. Ortsgrenzen waren nun nicht mehr zu erkennen. Es ging auf der A5 – etwa einer Bundesstraße gleich – ca. 25 km geradeaus auf den Hyde-Park zu. Gegen 17.00 Uhr verdichtete sich der Verkehr, wurde zur Rush-Hour, und auf den letzten fünf Kilometern in Richtung Marble Arch und Speakers' Corner kam ich als Wanderer noch am schnellsten vorwärts. London brauchte Entlastungsstraßen. Der Motorway 25, eine Ringautobahn, war auch schon teilweise fertig. Aber immer noch wurde heftig dagegen protestiert. Um London herum gab es noch Farmen, deren Felder durch die geplante Trasse zerteilt würden.

Peter Hahne und Jürgen Köster beim „Mittagsjournal“. Zum Vergrößern bitte anklicken.

Mir blieb vorerst, mich auf die Sondersendung der Europawelle Saar und die Kolleginnen und Kollegen aus Saarbrücken zu freuen. Peter Hahne würde im Hyde Park moderieren, Peter Hüllen assistieren. Jürgen Köster hatte unser „Mittagsjournal“ am Samstag, 24. März, in bewährter Weise vorbereitet und würde die Regie übernehmen. Natürlich war ich auch mal wieder neugierig auf Infos aus Saarbrücken. Es wurde ein langer Tag in London, kreuz und quer durch den Park nach unserer Sendung. Dann noch durch die kleinen City-Straßen mit den kleinen Boutiquen, einschließlich Carnaby Street.

In drei Tagen würde ich im Südosten die traditionsreiche Hafenstadt Harwich erreichen. Ich war überzeugt, das wichtigste über die „Europastimmung“ auf den Inseln erfahren zu haben. Neue Eindrücke drängten sich nicht mehr auf, ich konnte mich an Landschaft und Natur erfreuen. Über Brentwood, Whitham und Manningtree erreichte ich am 27. März meine Fähre nach Dänemark. Abfahrt 17.30 Uhr.

Esbjerg (Foto: Pixabay)
Im Hafen von Esbjerg.

Am nächsten Mittag Ankunft in Esbjerg. Ich war schon neugierig auf die Dänen. Einige der 19 Stunden auf dem größten, komfortabelsten und bisher saubersten Schiff meiner Überfahrten hatte ich damit verbracht, mich „einzulesen“. Ich wusste bis dahin nicht viel von unseren nördlichen Nachbarn. Als ich von Bord ging, war mir immerhin klar, dass ich soeben das – eigentlich – größte Land der EG betreten hatte. Zu Dänemark gehört nämlich Grönland, die weltweit größte Insel, 1721 von den Dänen in Besitz genommen.

Dort leben rund 60 000 Menschen. Und die wollten gerade dem Mutterland nicht in die Europäische Gemeinschaft folgen. Die Grönländer*innen hatten einst gegen die Mitgliedschaft in der EG gestimmt. 1978 hatten sie dann in einer Volksabstimmung für eine Selbstverwaltung votiert. Und diese sollte nun am bevorstenden 1. Mai beginnen. Weil sie aber nach Beginn der Selbstverwaltung immer noch in dänischem Staatsgebiet mit Königin Margarethe als Staatsoberhaupt lebten, würden sie erst einmal an der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament am 10. Juni teilnehmen und dann in einer neuen Volksabstimmung entscheiden, ob sie in der EG verbleiben. Sie würden dann nicht die einzigen Dänen außerhalb der EG sein. Die Farör-Inseln, nördlich von Schottland, gehören ebenfalls zu Dänemark. Nur hatten die schon 1947 ihre Selbstverwaltung erstritten und waren 1973 nicht dem Mutterland in die EG gefolgt. Das Thema sollte mich noch begleiten.

Erst einmal hatte ich aber ein gutes und ein schlechtes Gefühl beim Gang an Land. Gut war, dass ich mir den Kauf von Zeitungen am nächsten Kiosk sparen konnte. Ich sprach kein Dänisch und mein Rucksack würde nicht schwerer werden. Wie aber sollte ich an Informationen über Land, Leute und ihre Befindlichkeiten kommen? Diese Sorge wurde mir schnell genommen: Anscheinend beherrschen alle Dänen fremde Sprachen, hauptsächlich Englisch oder sogar Deutsch. Reden konnte man also (fast) mit jedem. Dazu kam, dass es kaum offenere, freundlichere und hilfsbereitere Menschen gibt als Däninnen und Dänen. Nur in einem Punkt verstehen sie anscheinend keinen Spass: Ihre Eigenständigkeit ist ihnen „heilig“.

„Was ist das für ein Land, das Trunkenbolde in die Selbstverwaltung schickt?“ In dieser Frage gipfelte die Klage von Ansgar, einem Grönländer, den ich nach meiner Ankunft im „KRO“, einer Gaststätte, traf.

Grönländer trifft man überall in Dänemark. Aber sie sind keine Menschen wie alle anderen. Sogar die toleranten Dänen beschreiben sie oft mit einem Tippen des Zeigefingers gegen die Stirn. In anderen Gaststätten hätte man Ansgar wohl ein Bier spendiert, mit der höflichen Aufforderung, das nächste woanders zu trinken. Aber der Wirt des „KRO“ war Ansgars Freund: „Grönländer sind harte Kerle, und das Leben dort ist nicht einfach“, sagte er entschuldigend. Und Ansgar bekräftigte: „Auf Grönland muss man saufen, sonst wird man kalt und kommt in die Klapsmühle. Die dänischen Klapsmühlen sind voll von Grönländern!“.

Schon nach wenigen Tagen war mir klar, dass ich in einem „gespaltenen“ Land unterwegs war. Hier Landwirte und Industrie, denen es in der EG recht gut ging. Da vor allem Intellektuelle wie Lehrer, Anwälte und Professoren, die im Verbund mit den großen Partnern das Risiko sahen, an Eigenständigkeit und nationaler Selbstbestimmung zu verlieren und zu viele Entscheidungen aus der Hand geben zu müssen. Diese Sorgen betonten auch die damaligen drei kommunistischen Parteien, die auf Grönland im Hinblick auf die kommende Volksabstimmung eigene "Anti-EG-Sektionen“ gegründet hatten.

Die Einstellungen in der Bevölkerung und in der Politik erschien mir vor diesem Hintergrund eher entspannt. „Wenn wir billige dänische Butter kaufen wollen, fahren wir auf einen Wochend-Trip nach Norwegen“ seufzte ein Däne. Anders als in England wollte er damit aber nicht gegen die EG schimpfen. Der Seufzer galt den Verbrauchssteuern in seinem Land, die Lebensmittel teilweise bemerkenswert verteuerten. Bei im Durchschnitt aber auch bemerkenswert hohen Einkommen ging es unseren Nachbarn im Grunde jedoch nicht schlecht.

Ein Berufskollege von „Vestkysten“, einer Zeitung in Esbjerg, fasste es so zusammen: „Eigentlich sind wir Dänen mit unseren Lebensumständen ganz zufrieden, auch wenn wir klagen und demonstrieren.“ Und Dänen demonstrierten öfter. So hatte gerade der Dachverband der dänischen Gewerkschaften dem Regierungschef, Anker Jörgensen, für die Jahre bis 1980 Lohnerhöhungen zwischen 5 und 7,8 Prozent abgehandelt.

Eine Befürchtung gegenüber Europa war, so konnte man immer mal wieder hören, dass von außen in das Land hineinregiert werden könnte. Skepsis auch, ob die 16 dänischen Abgeordneten im Europaparlament dort irgendeinen Einfluss geltend machen könnten. Es blieb eine Aufgabe für die größeren Länder in der EG, solche Bedenken zu zerstreuen. Und hier wird auch die Toleranz gegenüber den Unabhängigkeitsbestrebungen der Grönländer plausibel: Was Du nicht willst, dass man Dir tu' … Das ging sogar so weit, dass Dänemark die grönländische Wirtschaft jährlich mit einer Milliarde Kronen – damals rund 260 Millionen DM – subventionierte, weil die Insel allein, mit hauptsächlich Krabben- und Dorsch-Fischerei - wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen wäre.

Es ist nicht einfach, aus manchen Volten der dänischen Politik schlau zu werden. Da war z. B. Mogens Glistrup. Mit einer neuen „Fortschrittspartei“ hatte er 1973 beim Beitritt Dänemarks auf Anhieb ein Sechstel der Parlamentssitze gewonnen. Er war wegen Steuerhinterziehung verurteilt und predigte die Steuerverweigerung. Seine Landsleute beschwor er, sein Land sei auf den ungeliebten großen Nachbarn Deutschland angewiesen, weil die Traditionsparteien so schlecht gewirtschaftet hätten. Er war für Dänemarks Verbleib in der EG, weil es dort lernen könne, wie gesunde Politik gemacht wird. Gleichzeitig verurteilte er jedoch, dass 90 % aller Ausgaben im EG-Haushalt Verschwendung seien.

Ein Vorsitzender der dänischen Liberalen, Poul Hartling, schaffte es, mit der Parole „So geht es nicht mehr weiter!“ 1975 den Stimmenanteil seiner Partei zu verdoppeln. Er verlangte, auf übliche hohe Lohnsteigerungen zu verzichten, außerdem Opfer zur Stabilisierung der Wirtschaft, um die Staatsfinanzen zu ordnen und die Inflation in den Griff zu bekommen. Er verfiel jedoch der üblichen Schwäche dänischer Politiker, den beständigen Forderungen der diversen Interessengruppen nachzugeben und bekam dafür die Quittung: Bei der Folketing-Wahl 1977 wurden Stimmen und Sitze seiner Liberalen wieder halbiert.

„Das größte Handicap unserer Politiker ist ihre Bürgernähe!“, versuchte der Wirtschaftsberater der Stadt Kolding mir begreiflich zu machen. „Die verantwortlichen Regierungen wissen im Grunde, was für die Dänen gut wäre, nämlich einige Jahre kürzer zu treten. Aber dann ruft einer den Ministerpräsidenten an und klagt, dass ihm die Hypotheken-Zinsen über den Kopf wachsen. Und schon gibt's für alle einen Zuschuss!“. Ich habe im Kopenhagener Telefonbuch nachgeschaut: Ministerpräsident Anker Jörgensen stand tatsächlich drin. Und Mogens Glistrup auch.

Kolding (Foto: Pixabay)
Die dänische Hafenstadt Kolding.

Ich näherte mich Kolding an der Ostküste Jütlands und überschritt dabei die 2000 km-Marke. Die Hälfte der Strecke war geschafft. Gleichzeitig näherte ich mich der jüngeren nordeuropäischen Geschichte. Die Kronen der dänischen, norwegischen und schwedischen Könige hatten nämlich im Laufe der Jahrhunderte des Öfteren wechselnde Köpfe geziert. Beim Marsch von Kolding über die Brücke des kleinen Belts nach Middelfart auf die Insel Fünen, kam ich zu Schloss Hindsgovl.

Dort hatte 1808 ein Marschall Napoleons, Jean-Baptiste Bernadotte, sein Hauptquartier. Der „Empereur“ hatte ihn dahin geschickt, um den Dänen im Krieg gegen die Schweden zu helfen. Nun ergab es sich, dass 1810 in Schweden die Königslinie ausstarb und dem französischen Marschall selbst die Würde des Kronprinzen von Schweden angetragen wurde. Der wollte sich gleich als guter Schwede beweisen und wandte sich nun mit seinen Truppen gegen die Dänen, denen er zuvor noch behilflich gewesen war. Als Folge dieses letzten schwedisch-dänischen Kriegs musste 1814 der dänische König Friedrich IV den Friedensvertrag mit der Abtretung von Norwegen an Schweden unterzeichnen. Nach der Ära Napoleon wurde im Wiener Kongress dann aber zur teilweisen Kompensation dem dänischen König das Herzogtum Lauenburg zugesprochen.

Etwas weniger schwere Kost wartete dann in der größten Stadt Fünens auf mich. In Odense ist der große Märchendichter Hans-Christian Andersen geboren. An dem ihm gewidmeten Museum kam ich natürlich nicht vorbei und wollte es auch nicht. So eine Gelegenheit in Kindheitserinnerungen zu schwelgen – da muss die Wahl zum Europäischen Parlament mal einen Schritt zurück treten!

Das Rathaus von Odense, einer Großstadt auf der dänischen Insel Fünen (zum Vergrößern bitte anklicken).

Von Odense aus erreichte ich auf der 70. Etappe im Osten der Insel Fünen die Hafenstadt Nyborg. Dort ging's auf die Fähre zur Insel Seeland in deren Osten die Hauptstadt Kopenhagen liegt. Auf der Überfahrt kam ich ins Gespräch mit einem Herrn im grauen Anzug und Schlips. Er stellte sich als Mitglied des „Gleichstellungsrats“ vor und war kein bisschen verwundert über meine Frage, was das denn nun sei. Er war recht nachsichtig und erklärte, dass in den dänischen Gesetzen natürlich auch die Gleichstellung von Frauen und Männern im Beruf und von Mädchen und Jungen in der Ausbildung verankert seien. Dabei würde auch besonders darauf geachtet, dass sich nicht der Zug von Frauen und Mädchen in Männer-Domänen zur Einbahnstraße entwickelt, sondern, dass vor allem auch Männer Zugang zu sogenannten typischen Frauenberufen bekommen.

Ein junger Mann, der unbedingt Nähen lernen wollte, wurde abgewiesen mit der Begründung, dass dabei ja so viele Sachen auch immer wieder anprobiert werden müssten. Der Gleichstellungsrat konnte ihm helfen und fand dabei auch heraus, dass die Frauen in dem Kurs überhaupt nichts gegen einen männlichen Teilnehmer hatten. Der Gleichstellungsrat hat erreicht, dass alle Stellenausschreibungen geschlechtsneutral zu halten sind. Er ist dabei, in den Arbeitsämtern das Verhältnis zwischen der Zahl der männlichen und weiblichen Berater ausgeglichener zu gestalten. Und noch ein Projekt ist in Arbeit, auf dessen Erfolg viele Männer hoffen: Es geht um den bezahlten „Vaterschaftsurlaub“, einmal um die jungen Mütter zu entlasten und zum anderen, weil die Säuglinge gerade in den ersten Lebenswochen auch den Kontakt zum Vater haben sollten.

Um dem Gleichstellungsrat die nötige Autorität zu geben, ist es direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. „Das macht vieles einfacher“, sagte mein Gesprächspartner, als ich ihm bei der Ankunft in Korsör viel Erfolg wünschte.Es war der 4. April und mir fiel ein, dass die Grönländer ja heute ihr eigenes Parlament gewählt hatten. Also: Erst mal in den „Kro“ und fragen, wer gewonnen hat und - vielleicht - wie das einzuschätzen ist. In Slagelse angekommen, geriet ich in einem „Kro“ aber in eine „engagierte“ Diskussion über die Folgen des Atomunfalls in „Three Miles Island“, dem Reaktor im amerikanischen Harrisburg.

Purkarthofer macht mal Pause (Foto: Dieter Leistner)
Auch eine Pause muss einmal sein: Hans-Jürgen Purkarthofer vor einem „Kro“ in Dänemark.

Wie es dem nordischen Naturell entspricht, wurden die Diskussionen leicht unterkühlt und fast etwas leidenschaftslos geführt. Kernenergie-Gegner und -Befürworter hatten sich bis zum Reaktorunfall etwa die Waage gehalten. Nun hatten erst mal die Gegner ein leichtes Übergewicht. Aber auch sie kamen an der Erkenntnis nicht vorbei, dass Dänemark das energieabhängigste Land Europas war und weder über Kohle, noch Erdöl oder Erdgas selbst verfügte. In Dänemark liefen drei Versuchsreaktoren. Die Tendenz der Wissenschaftler und Ingenieure ging nun vorerst dahin, möglichst genau herauszufinden, welche Fehler in Harrisburg zu der Katastrophe geführt hatten und sie für die heimischen Reaktoren auszuschließen.

Noch drei Tage bis Kopenhagen. Ich begann wieder, mich auf Kolleginnen und Kollegen aus Saarbrücken zu freuen. Doch vorerst lag noch Roskilde vor mir. Kopenhagen ist heute die Hauptstadt Dänemarks. Einst war aber Roskilde Sitz der Könige und Kirche. Die Stadt wurde schon im 6. Jahrhundert von König Roar gegründet. Und der Name Roskilde bedeutet „Roars Quelle“.

Quellen, d. h. Wasser, haben Roskilde zu einer reichen Stadt gemacht und geben ihr immer noch eine große Bedeutung für Kopenhagen, wohin heute noch jährlich 20 Millionen Kubikmeter durch eine 40 km lange Leitung gepumpt werden. In Schloss Frederiksborg, im Norden Kopenhagens, ist in Rechnungsbüchern festgehalten, wie viele Fässer Sherry und Wein und Wasser aus Roskilde für Feierlichkeiten des Adels im Mittelalter gekauft wurden.

Im Dom von Roskilde liegen fast alle dänischen Könige der letzten 1000 Jahre begraben. Aber die Bischöfe bekamen Geld und Land auch von Adligen, die sich ein Grab neben denen der Könige kauften. König Harald Blauzahn hatte Dänemark christianisiert und 960 den Dom errichtet, als Dank dafür, dass ihn irische Mönche von seinen Zahnschmerzen befreit hatten.

Am Ende meiner 74. Etappe war dann die Hauptstadt erreicht und die Kollegen waren da: Herrmann Stümpert würde moderieren, Jürgen Köster hatte alles vorbereitet und sie hatten Armin Gehl für die Technik mitgebracht. Dänemark – siehe oben – war nicht billig. Gefeiert wurde trotzdem. Vor allem, weil auch meine Frau mit Kindern gekommen war, denn mir „winkten“ drei freie Tage inklusive Überfahrt nach Amsterdam. Aber das wird eine neue Geschichte.

*Die Radio-Aktion der Europawelle Saar (des 1. Hörfunk-Programms des Saarländischen Rundfunks) lief zwischen dem 6. Januar und dem 10. Juni 1979 unter dem Titel „Wandern für Europa! Eine Reportagesendung von SR 1 Europawelle Saar im Vorfeld der 1. Direktwahlen zum Europäischen Parlament“.

Der erste Teil des Berichtes von Hans-Jürgen Purkarthofer darüber wurde als „Fundstück zur SR-Geschichte“ unter der Überschrift „Wandern für Europa – eine Aktion der Europawelle Saar“ veröffentlicht. Der zweite Teil hatte den Untertitel: „Wütende Winzer in Frankreich, hoffnungsvolle Iren und ein europaskeptisches England mit Dauerstreiks“.

 Weitere Folgen sind geplant.

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz/Eva Röder (ab); Eva Röder (Gestaltung/Layout); Burkhard Döring (Illustrationen).

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