Franz_Josef Reichert (Foto: Lisa Huth)

Franz-Josef Reichert: Ein SR-Radio-Mann mit Saar-Sendungsbewusstsein

 

Dem Saarländischen Rundfunk bestätigen Umfragen immer wieder: Er ist der „Heimatsender“ an der Saar. Diese große Verbundenheit mit Land und Leuten ist über Generationen hinweg gewachsen. Viele SR-Mitarbeiter haben jeweils auf ihre Weise dazu beigetragen. Und dies beileibe nicht nur durch ihre Arbeit beim Sender selbst. Dr. Franz-Josef Reichert ist dafür gewiss ein herausragendes Beispiel.

Der gebürtige Saarländer Franz-Josef Reichert (21. 5. 1934 – 15. 4.2012) lebte in Wallerfangen, Saarlouis, Dillingen, Saarbrücken und Kleinblittersdorf, studierte an der Universität des Saarlandes und war dort Asta-Kulturreferent. Seine Doktorarbeit schrieb der Kunsthistoriker über die Baugeschichte der Abteikirche St. Mauritius in Tholey.

Abtei Tholey (Foto: Kunsthistorisches Institut der Universitaet des Saarlandes)
Die Abteikirche St. Mauritius in Tholey

Neben seiner Karriere beim Saarländischen Rundfunks vom freien Mitarbeiter bis zum Programmdirektor engagierte sich Reichert vielfach im Saarland, war Vorsitzender des Saarländischen Kulturkreises (1973 – 1996), des Saarländischen Landesdenkmalrates (1978 – 1996) und des Historischen Vereins Saar-Blies sowie Vorstandsmitglied des Historischen Vereins für die Saargegend. Die Saar-Lor-Lux Kulturwanderwege (Wolfgang Maria Rabe) und die 50 „Heimatstuben“ (nach einer Idee von SR-Literaturredakteur Fred Oberhauser) gehen (auch) auf Reicherts Initiative zurück. Den saarländischen Mundartwettbewerb förderte er über viele Jahre hinweg, kooperierte mit der Zeitschrift „Saarheimat“ und war Mitherausgeber der gesammelten Werke von Johannes Kirschweng.

Franz-Josef Reichert wurde mit dem Offizierskreuz des Verdienstordens des Großherzogtums Luxembourg, dem Saarländischen Verdienstorden und dem Louis-Pinck-Preis ausgezeichnet. In einem Vortrag* über „Heimat – Medien – Kultur“ bei der literarischen Gesellschaft „Melusine“ ging Reichert ausführlich auf sein Arbeitsleben beim Saarländischen Rundfunk ein.

Von Franz-Josef Reichert

Ich (hatte) im Elternhaus gewissermaßen das Radio mit der Muttermilch eingesogen. Mein Vater war seit 1936 dort beschäftigt (redaktionelle Ergänzung: zuerst also beim Reichssender Saarbrücken, dann bei Radio Saarbrücken und schließlich beim SR). Ich bekam als Heranwachsender viele Namen und Ereignisse nebenbei mit.

Josef Reichert (Foto: SR)
Auch Vater Josef (Jakob „Bob“ Josef Reichert/1901 – 1973) war beim Saarbrücker Sender bereits Kirchen- und Heimatfunkchef.

1960 kam (meine Doktorarbeit), „Die Baugeschichte der Benediktiner-Abteikirche Tholey“, als Band 3 der Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde des Saarlandes heraus. Es war gewissermaßen die Eintrittskarte in das Berufsleben, das eine medial-kulturell-heimat-bezogene Ausrichtung haben würde …

Auf dem Halberg in Saarbrücken residierte 1960 der Gründungs-intendant des Saarländischen Rundfunks, Dr. Franz Mai. Er regierte – wie weiland Fürst Ludwig – uneingeschränkt und autonom, noch nicht beengt von den Zwängen des Personalvertretungsgesetzes und seinen Auswirkungen auf die Mitarbeiterauslese.

Er las meine Bewerbung, dachte, der Kandidat mit diesem familiären und wissenschaftlichen Hintergrund könnte eine gute Besetzung werden und berief mich als Radio-Redakteur. Zunächst leitete ich (ab 1960) den Kirchenfunk, später den Heimatfunk, dann die Abteilung Chor- und Volksmusik (und zusätzlich auch die Sendeleitung). 1980 bekam ich die Verantwortung für die neugeschaffene Saarlandwelle, 1996 folgte ich meinem Freund Hans-Harro Schmidt nach dessen jähem Tod in die Funktion des Hörfunkdirektors.

Als junger Redakteur erlebte ich ab 1960 eine der größten technischen Revolutionen im Hörfunk, die Einführung der Ultrakurzwelle. (Ab 1953 hatte Radio Saarbrücken begonnen, auf UKW ein zweites Hörfunkprogramm zu senden. Zuerst nur wenige Stunden am Tag.) Stand dem Programm bisher mit der Mittelwelle nur eine Dimension zur Verfügung, wurden nun die Sendeplätze immer mehr.

Altes Logo SR 1 (Foto: SR)
Die Europawelle Saar, später SR 1 Europawelle Saar, war ab 1964 auf Antenne

Das hatte – grob gesprochen – zur Folge, dass (ab 1964) die Sendungen auf der Mittelwelle (der neuen Europawelle Saar) mehr der Unterhaltung, die auf der Ultrakurzwelle mehr der Kultur gewidmet wurden … Für die kulturellen Wortsendungen gab es durch diese technischen Möglichkeiten plötzlich doppelt so viele Sendeplätze wie im Mittelwellenzeitalter und das auch noch mit wesentlich besserer Hörqualität. (1967 wurde mit der Studiowelle Saar auf UKW ein Vollprogramm als Kontrastangebot zur Europawelle Saar eingeführt.) Das hatte natürlich auch zur Folge, dass die Beiträge mit regionalen Inhalten stark vermehrt werden konnten.

Über das Budget brauchten wir uns damals merkwürdigerweise nicht so viele Gedanken zu machen. Zwar waren die Geldmittel auf dem Saarbrücker Halberg (dem Sitz des Senders) stets begrenzt, aber es gelang dem Intendanten Dr. Mai immer wieder, neue Planstellen zu beschaffen und – dank des ARD-Finanzausgleichs – auch die erforderlichen Honorarmittel zur Verfügung zu stellen. Es war eine zauberhafte Zeit des Aufstiegs, von dem die heutigen Kollegen in Hörfunk und Fernsehen nur träumen können. Die regionale Ausrichtung der Hörfunkprogramme nahm ihren Fortgang, da wir als Programmphilosophie (der Studiowelle Saar) formuliert hatten, das Hörfunkangebot sei in erster Linie für die Hörer des SR-Sendegebietes zu konzipieren, da von dort schließlich ein Großteil der Gebühren komme.

Altes Logo SR 2 (Foto: SR)
Ab 1967 ein Kultur-Vollprogamm: Studiowelle Saar

Und nun gebe ich … einen kurzen, wenn auch leider unvollständigen Aufriss unserer Bemühungen um die saarländische Kulturszene. Wenn ich „unser“ sage, meine ich damit in erster Linie meinen Freund und Kollegen Fred Oberhauser, der als langjähriger Leiter und Redakteur der Literaturabteilung 1970 dem damaligen Heimatfunk zugeordnet und damit einer meiner engsten Mitarbeiter wurde. Auf Grund unserer langjährigen Kenntnisse, die wir von der Kulturszene des Landes und der angrenzenden Landschaften hatten, entwickelten wir in den Jahren zwischen 1970 und 1980 eine Fülle von Einzelsendungen und Sendereihen, die sich mit Geschichte, Kultur, Kunst, Literatur und auch Musik der Saar-Lor-Lux-Region beschäftigten. Natürlich bezogen wir auch die benachbarte Pfalz und das Elsass in unsere Betrachtungen und Darstellungen ein.

Fred Oberhauser (Foto: Winfried Goetzinger)
Engagierte sich ebenfalls begeistert für Heimat und Kultur: SR-Kollege Fred Oberhauser

Am 7. Januar 1980 ging zusätzlich (ebenfallsauf UKW) das erste regionale Landesprogramm als Vollprogramm auf Sendung. Es erhielt den Namen, den es bis heute behalten hat: SR 3 Saarlandwelle. Wer nun geglaubt hätte, die regionalen Themen, die wir bisher auf der Studiowelle Saar (später in „SR 2 KulturRadio“ umbenannt) behandelt hatten, gingen auf das neue Regionalprogramm über, wurde enttäuscht. Zwar gingen die wichtigsten Themen nicht verloren, sie erhielten aber eine andere Form. Kürzer und journalistischer aufbereitet. Es ist eine der alten Erfahrungen mit dem Medium Radio, dass die Formate der Wellen die Inhalte bestimmen.

Altes Logo SR 3 (Foto: SR)
SR 3 Saarlandwelle war das erste regionale Vollprogramm im deutschen Hörfunk.

In dem alten Ultrakurzwellenprogramm zwischen 1970 und 1980 hatten wir Gelegenheit, Literatur „am Stück“ zu senden, längere Gespräche mit den Autoren zu führen, Themen anthologisch (anhand einer Auswahl von Beispielen) darzustellen. Das war auf dem neuen Regionalprogramm (SR 3 Saarlandwelle) so nicht mehr möglich. Meine Aufzeichnungen belegen, dass in dem genannten Jahrzehnt die Darstellung der Saar-Lor-Lux-Kulturlandschaft am dichtesten stattfand. Dies ist auch der Zeitraum, den ich persönlich am besten überblicke, da ich mich in diesem Jahrzehnt redaktionell verantwortlich am stärksten engagierte. Mit der Verantwortung als Programmchef der Saarlandwelle verlor ich auch ein wenig die Nähe zu dem Kulturprogramm, sodass sich meine folgenden Darstellungen schwerpunktmäßig auf die Jahre zwischen 1970 und 1980 beziehen.

SR3 Goldenes Plätzchen (Foto: SR)
Manfred Sexauer, Günter Schmitt, Franz-Josef Reichert, Bernhard Stigulinszky und Armin Gehl (v. l.) beim traditionellen weihnachtlichen Plätzchenbacken von SR 3 Saarlandwelle bei der VSE in Dillingen

Zum Glück hatten wir Redakteure ausreichende Reisemittel, Zeit und technische Möglichkeiten zur Hand, um die ausgedehnten Fahrten zu unseren Gesprächspartnern in den genannten Regionen zu unternehmen. Das galt natürlich auch für unsere freien Mitarbeiter, ohne die kein gutes Programm zu gestalten ist.

Wir konnten also die wichtigsten kulturellen und literarischen Vertreter im Saarland, in Lothringen, Luxemburg, in der Pfalz und im Elsass persönlich aufsuchen, uns mit ihnen unterhalten, sie befragen, sie auf Tonträger aufnehmen …

Ich weiß aber nicht einmal, ob alle Tondokumente, die mir als kopierte Karteikarte vorliegen, noch in corpore (als Tonträger) erhalten sind, denn auch Tonarchive unterliegen einem ständigen Wandel. Mal kann ein Dokument nicht mehr wiedergegeben werden, wenn es nicht rechtzeitig (von den alten Tonbändern) „umgespielt“ (kopiert) wurde, mal besteht Platzbedarf und es werden Löschaktionen verfügt. Jedes Mal geht Unwiederbringliches verloren.

Tonbandarchiv (Foto: Jürgen Mahrenholz)
Was früher auf Tonband aufgenommen wurde, wird heute digital gespeichert.

Wie Sie wissen, gibt es in jedem Medium Ressorts, die sich mit der überregionalen und andere, die sich mit der regionalen Szene befassen. So auch im Saarländischen Rundfunk. Zwischen den beiden Abteilungen „Literatur“ und „Regionale Kultur“ gab es eine Absprache, die einen Autor dort, andere hier zu Wort kommen zu lassen. Bei der Regionalen Kultur kamen also die Autoren zur Darstellung, die in erster Linie oder ausschließlich für die Region wichtig sind. Es gab zwar Überschneidungen, aber Eugen Helmlé beispielsweise kam nur in der Literatur vor. Andere Autoren wurden nur von der Regionalen Kultur beachtet.

Eugen Helmé (Foto: SR)
Der Übersetzer und Autor Eugen Helmlé, nach dem heute ein SR-Übersetzer-Preis benannt ist.

Kommen wir aber nun zu den Einzelheiten: Das Thema „Literatur im Dreiländereck“ wurde im Ressort Regionale Kultur fast erschöpfend in 53 Folgen abgehandelt. Eine andere Sendereihe „Saarländische Autoren“ erlebte 33 Folgen. Die Reihe „Vor Kurzem erschienen“ stellte Neuerscheinungen und kulturelle Zeitschriften der Region vor. In der Sendereihe „Grenzfälle“, die in 10 Folgen gesendet wurde, kamen natürlich auch Autoren der Region zu Wort. Die Reihe „Das Saarland im Spiegel der Literatur“ brachte es auf 12 Folgen. An ihr wirkten Fachleute wie Professor Wilhelm Heinrich Recktenwald und Dr. Karl August Schleiden mit.

Cover Stadtgeschichte Saarbrücken (Foto: Krüger-Druck, Dillingen, 2009)
Dr. Karl August Schleiden verfasste auch eine Saarbrücker Stadtgeschichte: hier das Cover.

Den Mundartwettbewerb der damaligen SaarBank (heute Bank1 Saar) und SR 3 Saarlandwelle begleiteten wir in jedem Jahr seiner Neuauflage über 20 Jahre lang mit mehreren Sendungen. Es ist beruhigend, das originale Manuskriptmaterial im bereits erwähnten Literaturarchiv zu wissen. Alfred Gulden besorgte seinerzeit eine Auslese der ersten zehn Jahre in Buchform. Dr. Irmengard Peller ging für den Hörfunk nicht nur den Metzer Spuren von Ernst Moritz Mungenast nach, von seinem Geburtshaus bis zu den Steinbrüchen von Jaumont, dem Lager des Sonnensteins. Sie spürte auch den saarländischen Mundarten nach und zeichnete in neun Folgen Proben von Mundartsprechern auf. Die Dokumente sind unter dem Rubrum „Sprache der Heimat“ immer noch im Radioarchiv auf dem Halberg gesichert.

Der Zauberer - Muzot: Cover (Foto: Schneekluth, München, 1939)
Dr. Irmengard Peller rezensierte eine Neuausgabe des Mungenast-Romans „Der Zauberer Muzot“.

Nun komme ich zu einzelnen Autoren und ihren Beiträgen, ohne zeitliche Ordnung, so wie sie in meinen Karteikarten einzeln erscheinen:

Kael Conrath war uns allezeit ein verlässlicher Gesprächspartner für Mettlach und den moselfränkischen Raum. Bernhard Güth und Dieter Heinz gaben uns …1976 Auskunft über Kulinarisches in Alt-Saarbrücken. Wir pflegten also bereits Kochkultur, bevor das Fernsehen dieses wichtige Themenfeld als gesellschaftlichen Kult entdeckte. Johannes Kühn, der Poet aus Hasborn, fand mit neuen Texten immer Eingang in unsere Sendungen, so am 19. August 1972 zusammen mit Hans Bernhard Schiff, den wir in den Gründungsjahren von Radio Saarbrücken noch als (den Literatur-Redakteur)Jean Bernard Schiff kennen lernten (und nach dem heute ein Literaturpreis benannt ist). Felicithas Frischmuth und Klaus Bernharding stellten wir im Juli 1972 vor.

Johannes Kühn (Foto: Reiner Öttinger)
Der Poet aus Hasborn: Johannes Kühn


Die Beiträge hatten übrigens eine Dauer von 30 Minuten, das damals übliche Zeitmaß für eine normale Radiosendung. Petra Michaely und Karl Christian Müller wurden im Mai 1972 als Saarbrücker Autoren gesendet. Ruth Greiber und Cläre Fagherazzi waren im August 1973 Gäste in unseren Studios. Anneliese Hutzler und Kurt F. Andres standen im Mai 1973 auf unserem Sendeplan. Leo Griebler und Erich Hewer wurden als Autoren aus dem Raum Saarlouis im August 1974 gewürdigt. Klaus Bernarding und Martin Buchhorn wurden 1974 mit neuen Texten vorgestellt.

Zu den „Altliteraten“ in unserem Programm möchte ich Namen wie Ernst Bingen, Peter Gehl, Fritz Hoffmann, Albert Korn, Aloys Lehnert, Ernst Mees, Ernst Moritz Mungenast, Alfred Petto und Werner Reinert rechnen. Letzterer sprach uns im August 1961 die saarländische Erzählung vom „Liddermänner Wolf“ in der Mundart seiner Dieffler Heimat auf Band. Ein köstliches Tondokument, das noch erhalten ist.

Zu jedem der anderen Namen ließen sich viele Geschichten und Anekdoten von persönlichen Begegnungen erzählen. Einige Autoren und ihre Geschichte möchte ich aber doch erwähnen.

Eines Tages erschien der nachmalige SR-Tatort-Kommissar Jochen Senf in meinem Büro, brachte eine Tonkassette mit und meinte, vielleicht könne ich damit etwas anfangen. Es waren Texte seines Freundes Alfred Gulden, die er als (damaliger SR-)Hörspielredakteur natürlich nicht verwenden konnte.

Alfred Gulden (Foto: SR)
Stolz auf seinen moselfränkischen Dialekt: der Schriftsteller Alfred Gulden

Aus dieser Zufallsbegegnung entstand dann eine jahrelange Zusammenarbeit des Saarländischen Rundfunks in Hörfunk und Fernsehen mit dem Saarländer aus Roden. Wir stellten alle seine Neuerscheinungen vor, seine Kalender, die er mit Frau Karin Jahr für Jahr produzierte, seine Gedichte, Lieder und Erzählungen. Wenn ein Autor das regionale Hörfunkprogramm eines Senders geprägt hat, dann er. Ich bin froh, dass sein Vorlass auch Eingang in (das Saarländische) Literaturarchiv gefunden hat.

Die köstliche Mühsal von Maria Croon: Cover (Foto: Saarbrücker Druckerei und Verlag, 1990)
„Die köstliche Mühsal“ - Cover einer Erzählung von Maria Croon

Maria Croon kannten wir aus ihren Erzählungen und Romanen. Ihr gesellschaftlicher und kultureller Hintergrund war uns (ebenfalls) bekannt. Wir haben sie in all ihren Facetten aufgezeichnet und den Hörern mitgeteilt. Dabei spielte ihre Sprache, die ihre Wurzeln im Hochwald hatte, eine prägende Rolle. Es war für mich ein unvergessliches Erlebnis, sie zu einer Öffentlichen Lesung nach Saarbrücken einzuladen, weil ich dachte, dieses Erzähltalent müsse auch in der Landeshauptstadt gehört werden. Ich wusste nicht, dass sie bis 1974 noch nie in Saarbrücken öffentlich gelesen hatte. Nach der Veranstaltung in der neueröffneten Modernen Galerie vertraute sie mir an, wie dankbar sie mir sei, dass ich sie zu diesem hervorragend besuchten und aufgenommenen Leseabend eingeladen hatte.

Das sind Sternstunden im Leben eines Redakteurs …

Natürlich wollte der philosophische Poet Karl Christian Müller im Abendrot seines literarischen Schaffens vom Saarbrücker Heimatsender wahrgenommen und gewürdigt werden. Seine Tragik: Der Literaturabteilung passte die weltanschauliche Richtung nicht, für die Regionale Literatur schwebte er gedanklich zu sehr über den Wolken. Ich suchte und fand einen Ausweg: ich stellte ihn im September 1972 mit seinem amüsanten Buch „Witz und Aberwitz“ den Hörern vor. Er ist vergnügt auf den Vorschlag eingegangen und wir beide waren’s zufrieden. Ich hoffe, die Hörer waren’s auch.

Cover: Und sie fliegen über die Berge weit durch die Welt - Ludwig Harig (Foto: Verlag Queißer, Dillingen, 1982)
Schüler-Stilblüten, gesammelt vom ehemaligen Lehrer Ludwig Harig

Ludwig Harig streuten alle SR-Abteilungen Weihrauch, wenn ein neues Buch, eine neue Publikation von ihm erschienen. Und er hatte es ja auch als Mensch und Autor mehr als verdient. Eine besondere Sendung widmeten wir ihm und den Volksschülern, deren Aufsätze der ehemalige Lehrer Harig in der Reihe Hanser als 100. Taschenbuch herausgegeben hatte: „Und sie fliegen über die Berge, weit durch die Welt“. Das war 1972. Am 20. Januar 1973 luden wir ihn und einige Schüler zur Radio-Wiedergabe ausgewählter Texte in unsere Studios ein. Über den unfreiwilligen Humor mancher Texte lachten sich auch die Techniker hinter der Scheibe (des Aufnahmestudios) schief.

An einen Satz kann ich mich noch besonders gut erinnern: „Weihnachten ist ein wunderbares Fest. Aber an Faasenacht darf et net tippen.“ Ich denke, dass Ludwig Harig nach Johannes Kirschweng der Autor mit der tiefsten saarländischen Bodenhaftung ist. Von Gustav Regler möchte ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Er ist der kosmopolitische Autor par excellence. Harig und Kirschweng sind aber in ihrem heimatlichen Umfeld geblieben, haben es sich anverwandelt, dargestellt, gedeutet und interpretiert. Ludwig Harig wird mir bis ins hohe Alter unvergessen bleiben. Als Saarländer und Freund.

Johannes Kirchweg (Foto: Karl Höchst)
Johannes Kirschweng: Pfarrer, Poet und Rundfunkautor

Johannes Kirschweng war altersmäßig begründet der Freund meines Vaters. Beide kannten sich seit Ende der dreißiger Jahre, sie erneuerten die Freundschaft nach 1945, als Kirschweng der Künder einer neuen saarländisch-europäischen Weltsicht wurde. Der Wadgasser Poet war oft Gast in der Wohnung meines Vaters in der Saarstraße in Dillingen. Dann fuhren sie über den Saarlouiser Gau und nach Lothringen, der geistigen Heimat von Freund Johannes. An einem Augusttag des Jahres 1951 wurde ich im Saarlouiser Gymnasium aus dem Unterricht gerufen. Auf dem Flur stand mein Vater. „Soeben ist Johannes Kirschweng im Elisabethkrankenhaus gestorben.“ Das waren seine Worte, die sich mir tief in die Seele gruben. Ich wollte Kirschweng zwei Jahre später meine Abiturarbeit widmen. Mein Deutschlehrer meinte, es sei noch zu früh. Er schlug mir Adalbert Stifter vor. So lebte Kirschweng in mir weiter.

1971 sagte ich in Wadgassen in einer Gedenkveranstaltung zu seinem 20. Todestag: „Ich wage keine Prophetie darüber, was von seinem Werk die Jahre überdauern wird. So wie der Name heute schon fast vergessen ist – bei den Jüngeren zumindest – werden es auch seine Werke sein. Eine Auswahl zu treffen und baldmöglichst zu veröffentlichen, sollte vornehmste Pflicht seiner Heimatgemeinde und seines Landes sein. Man kann damit seine Zeit nicht mehr zurückholen, aber man kann ein Zeugnis erhalten und bewahren für den Geist dieses Landes, das in den letzten 50 Jahren kein größeres Talent hervorgebracht hat als den Wadgasser und Saarländer Johannes Kirschweng.“

Doppelseite aus dem Buch "Das Saarland im Wandel der Zeiten"; Zeichnung von Jean Morette, Text: Johannes Kirschweng. Zum Vergrößern bitte klicken.

Aus dieser bewusst hervorgebrachten Anregung entstand dann die elf-bändige Gesamtausgabe, deren verlegerisches Risiko mit Unterstützung Wadgasser Kreise der „Verlag die Mitte“ von Dr. Karl August Schleiden trug und glücklich zu Ende brachte. Die Herausgeber klopften beim damaligen Kultusministerium um finanzielle Unterstützung an und erhielten die lapidare Antwort, ein Autor wie er passe nicht in die Gegenwart. Die Gesamtausgabe kam dennoch auf den Markt. So können sich politisch gelenkte Institutionen irren.

Auch Johannes Kirschweng war ein irrender Mensch. Er täuschte sich nicht nur in der Beurteilung seiner eigentlichen Berufung – Geistlicher oder Schriftsteller – sondern auch in seinen Positionen zwischen Frankreich und Deutschland. Seine Zeitgenossen haben ihm dies übel genommen. Sein literarisches Werk ragt aber mit all’ seinen Defekten über alle Zweifel hinaus. Wie Kirschweng für die Hörer von Radio Saarbrücken geklungen hat, belegt die Aufnahme seiner letzten Krankensendung.

Eine der unverbrauchten literarischen Stimmen, die nach 1945 über die Ätherwellen zu klingen begannen, war die von Herbert Mailänder aus Saarlouis. Er war kriegsversehrt mit einem Holzbein nach Hause gekommen und begann zu schreiben und zu sprechen. Er war ein anderer Wolfgang Borchert. Jean Bernard Schiff entdeckte und förderte ihn. Das Gedenkbüchlein „Frühes Wort“ aus dem Verlag Saarzeitung Saarlouis mit einem Vorwort seines Mentors belegt sein Talent. Lebens- und Schaffenszeit waren nur kurz bemessen. 1973 und 1974 versuchten wir, ihn mit einer Gedenksendung und einer Öffentlichen Veranstaltung in Saarlouis dem Vergessen zu entreißen. Vergebliche Mühe. Die kurze Zeit des Herbert Mailänder war bereits verstrichen. Heute erinnert sich niemand mehr dieses Namens.

Nach dieser saarländischen Revue wird es nun allerhöchste Zeit, den Blick über die Grenzen zu erheben.

Im Elsass war es unser Freund Martin Allheilig, Redakteur bei Radio Strasbourg für die Sendungen in der alemannischen Landessprache, der uns mit den wichtigsten Autoren bekannt machte. Ich will aus der Vielzahl nur drei Namen hervorheben: Maxime Alexandre, Cathérine Kany und Claude Vigée.

Eine Begegnung mit Joseph Lefftz ist mir besonders kostbar. Es ist vielleicht nicht übertrieben, ihn den Louis Pinck des Elsass’ zu nennen. Mit ihm sprach ich am 12. Januar 1967, um ihn zu seinem Lebenswerk der drei Bände über „Das Volkslied im Elsass“ zu befragen. Natürlich hat er von Pinck gelernt, natürlich hat ihn die äußere Aufmachung der (Pinck’schen) „Verklingenden Weisen“ inspiriert, natürlich hat er seiner elsässischen Heimat ein unverlierbares literarisches Denkmal gesetzt. Einem solchen Menschen in seiner Bescheidenheit und Güte begegnet zu sein, macht die Erinnerung an ihn wertvoll.

Lothringen muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Die Moselle ist dem Deutschen sprachverwandt. Man versteht sich über Saar und Blies hinweg und hat eine gemeinsame Geschichte. Diese Geschichte hat aber auch ihre Tücken. Zwei Autoren haben das hautnah erlebt.

Louis Pinck (Foto: Gemälde von Henri Bacher)
Louis Pinck (1873 - 1940), katholischer Priester sowie Lothringer Volkskundler und Volksliedersammler
Das Volkslied im Elsass, Joesf Lefftz (Foto: Alsatia Verlag, Colmar, 1966. )
Verfasste ein Buch über das Volkslied im Elsass: Joseph Lefftz

Auguste Rohr, der Sänger Lothringens, ehemaliger Bergmann, Mitarbeiter von Louis Pinck auf Volksliedsuche, Organist, Chorleiter und Verfasser zahlloser Lieder in Deutsch, Französisch und Lothringisch. Er hat, ohne es zu wollen, die Nationalitäten gewechselt, wurde nach 1945 zum Tode verurteilt, begnadigt und gnädig wieder dem bürgerlichen Leben anverwandelt. Sein Lebenswerk hat er kurz vor seinem Tod einem Band mit dem Titel „Trilogie“ anvertraut. Ich durfte ihm bei der redaktionellen Gestaltung zur Hand gehen. Wenn einer unserer Nachbarn, hat er „das Kreuz mit dem Lothringerkreuz“ gelebt, ohne je an seiner Berufung irre zu werden. Sein Lebensweg wäre einer eigenen Darstellung wert. Er war zeitlebens ein treuer Mitarbeiter des Saarländischen Rundfunks.

Ebenso wie Peter Michels, der gebürtige Spicherer. Er hat bei Studium und Grenzwechsel mit seiner heimatlichen Mundart nie gebrochen, hat nie aufgehört zu denken und zu sprechen wie seine Spicherer Landsleute. Was er der Gegenwart und Nachwelt mitteilen wollte, ist in mehreren Veröffentlichungen dokumentiert. Natürlich befasste sich seine Dissertation 1939 mit den „lothringischen Mundarten“ und wurde der Universität Köln vorgelegt. 1943 und 1944 erschienen im französischen Béziers Teil I und II des lothringischen Balladenbuchs und ab 1959 „Der Brunnen Gottes“ (1959), „Der Garten der Gerechtigkeit“ (1963), „Der Engel des Herrn“ (1966) und „Der Sohn des Jonas“ (1970) – alles „lothringische Gedichte“.

Der Beruf als Germanist hatte Michels nach 1945 nach Düsseldorf verschlagen. Dort verstand man seine lothringische Sprache nicht. Also wandte er sich an seinen Heimatsender Radio Saarbrücken/Saarländischer Rundfunk. Wir verstanden ihn natürlich und nahmen seine Gedichte dankbar auf.

In jüngster Zeit hat sich der in der Schweiz lebende Lothringer Prof. Dr. Pierre Gabriel um die Rezeption der Texte von Michels verdient gemacht.

Eine Pointe am Rande: im Juli 1977 recherchierte ich das Thema „Mutter-Sprache – Vater-Land“ im Elsass. Unser Wegbereiter Martin Allheilig schlug uns ein Gespräch mit dem Präsidium des „René-Schickele-Kreises“ vor und vermittelte uns eine Begegnung. In der Abenddämmerung fand das Treffen fast unter konspirativen Bedingungen statt. Gustav Woytt und Pierre Gabriel waren unsere Kontaktpersonen, die hinter den Journalisten aus Saarbrücken „agents provocateurs“ befürchteten. Wir wollten aber keine Politik betreiben, sondern hören, wie sich unsere Nachbarn sprachlich fühlen. Vor einigen Wochen habe ich Pierre Gabriel auf dieses Treffen angesprochen. Er erinnerte sich sehr gut daran.

Dr. Peter Michels und seine mundartlichen Texte bleiben ein literarisches Denkmal für die politisch-kulturellen Wechselfälle diesseits und jenseits der deutsch-französischen Grenze.

Mit dem Großherzogtum Luxemburg, dem benachbarten „Ländchen“, hat uns unser Cicerone (Fremdenführer), Léon Blasen, im beschriebenen Zeitraum mit allen wichtigen Persönlichkeiten und literarischen Leuchttürmen seiner Heimat zusammengeführt. Die verbleibende Zeit erlaubt es nur noch, Namen aufzurufen, ohne – wie es sich gehörte – Hintergründe zu beschreiben. Also: Victor Abens, Henri Blaise, Georges Hausemer, Carlo Hemmer, Leopold Hoffmann, Georges Kiesel, Anise Koltz, Jean Pierre Koltz, Pier Kremer, Roger Manderscheid, Cornel Meder, Joseph Merz, René Merz, Jean Millmeister, Michel Raus, Will Reuland, Henri Rinnen, Paul Spang, Gérard Thill, Gilbert Trausch und Nikolaus Welter.

Was bleibt?

Erinnerungen und (Ton-)Dokumente.

Wie sollte der Saarländische Rundfunk bleiben? Darauf antwortete Franz-Josef Reichert dem „aktuellen bericht“ (vom 31. 5. 1999) bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand. (Quelle: SR-Fernseharchiv)
Video [SR.de, (c) SR, 01.12.2017, Länge: 00:30 Min.]
Wie sollte der Saarländische Rundfunk bleiben? Darauf antwortete Franz-Josef Reichert dem „aktuellen bericht“ (vom 31. 5. 1999) bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand. (Quelle: SR-Fernseharchiv)

*Dr. Franz-Josef Reichert hielt den hier gekürzt wiedergegebenen Vortrag am 30. 10. 2007 in der Literarischen Gesellschaft Saar-Lor-Lux-Elsass e. V. „Melusine.“ Größere Auslassungen innerhalb dieser Passagen wurden redaktionell gekennzeichnet, kleine Auslassungen, Wort- oder Satzumstellungen nicht. Kursiv sind in Klammern kurze Erklärungen eingefügt.

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Eva Röder (Gestaltung/Layout), Burkhard Döring (Fotos/Recherche); Mitarbeit: Sven Müller und Elionore Steimer.
Der „Arbeitskreis SR-Geschichte“ bedankt sich bei der Familie Reichert und der Literarischen Gesellschaft „Melusine“ für die Erlaubnis, das Vortragsmanuskript verwenden zu dürfen.

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