Tour de France , 1950er Jahre (Foto: Annelie Fischer)

Erinnerungen an die SR-Tour-Berichterstattung: Geldscheine an der Wäscheleine

 

Auch 2016 bei der 103. Tour de France ist der Saarländische Rundfunk der Tour-Sender als Federführer des ARD-Teams. Das ist gute Tradition seit 1948. Viele Tontechniker, Kameraleute, Aufnahmeleiter, Fahrer und Reporter waren seither bei der „Großen Schleife“ im Einsatz. Für sie alle bedeutete die Tour jedes Mal einen großen persönlichen Kraftakt, aber immer wieder war sie zugleich ein äußerst intensives Erlebnis. So faszinierend, dass es auch ihre Familien zuhause in den Bann zog. Annelie Fischer, damals noch ein Kind, erinnert sich nur zu gut daran. Ihr Vater, der Tontechniker Karl Fischer, erlebte die Tour de France in den fünfziger und sechziger Jahren viele Male. Und erzählte gern darüber.

Von Annelie Fischer*

Die „Geburt“ dieses Artikels fand statt, als ich im Foto- und Dianachlass meines verstorbenen Vaters Karl über 100 Dias aus seiner Zeit beim SR fand. Viele davon stammten aus den 50er und 60er Jahren. Rudi Altig und Jacques Anquetil waren da große Namen im Radsport. Es war eine Zeit, in der wir mit Spannung am Radio verharrten, wenn Werner Zimmer oder Charly Scholz von den Etappen reportierten und wir – noch ohne Fernsehen und Telefon – der Phantasie und unseren Bildern im Kopf von diesem vierwöchigen Großereignisses Raum geben konnten. Allein schon die täglich ankommenden Postkarten meines Vaters und die Vorbereitung und Gestaltung der Dia-Abende nach seiner Rückkehr (auf dem Tisch der Käseigel nebst Salzstangen) bewirkten in mir als Kind eine Anspannung und Vorfreude, wie sie sich heute vergleichsweise bei einigen vor der Premiere eines Harry Potter-Films einfinden.

Tontechniker Karl Fischer 1957 (Foto: Annelie Fischer)
Auch privat beim Fasching 1957 ein Tonbandfreak: SR-Tontechniker Karl Fischer

Und nun saß ich da vor diesen fast 60 Jahre alten Raritäten und fand sie nach einigen wehmütigen, in nostalgischen Gedanken und Gefühlen versunkenen Tagen, doch zu schade, um sie bei mir im Schrank verstauben zu lassen. Ich fragte beim SR an, bei dem ich selbst 13 Jahre lang bis 1982 tätig war, ob nicht Interesse daran bestünde. Es bestand. In einem anschließenden Telefonat kamen mir dann so einige „Geschichten“ wieder in den Sinn, die mein Vater von den „Tour-Tagen“ mit nach Hause brachte: Erinnerungs-Fundstücke mit heute kaum noch vorstellbaren Sende- und Produktionsbedingungen.

Der große Ü-Wagen von Radio Saarbrücken, 1950er Jahre (Foto: Annelie Fischer)
Eine kleine Sensation und der Stolz des Fahrers Fritz Maurer (l.): der große Ü-Wagen von Radio Saarbrücken (spätestens 1956 aufgenommen)

Alleine die Fahrten mit dem alten Ü-Wagen müssen kräftezehrend und abenteuerlich gewesen sein. Ich erinnere mich, dass schon die Abfahrt vor unserer Haustüre zu einem Nachbarschaftsauflauf führte – zumal es damals kaum Autos gab. Außerdem ließ sich das Ungetüm nicht gerade leicht lenken. Servolenkung war noch ein Fremdwort. Das Rangieren in der Straße samt Einladen des Gepäcks dauerte meist über eine Stunde.

Die Serpentinenstrecken in den französischen Alpen (Foto: Annelie Fischer)
Die Serpentinenstrecken in den französischen Alpen: für den Fahrer des Ü-Wagens eine Herausforderung besonderer Art

Schon fast Abenteuercharakter hatten die Fahrten auf den Bergetappen. Ein Foto aus den französischen Alpen von 1956 zeigt, wie viele Serpentinen da überwunden werden mussten. Hinzu kam, dass die Straßen damals nur teilweise oder schlecht asphaltiert waren.

Mehr als zehn, maximal zwanzig Stundenkilometer gab der alte Wagen bei den Steigungen dann nicht her. Vor jeder Serpentine musste bis zu zehnmal vor- und zurückgefahren werden, bis die Kurve bewältigt war. Da musste sehr sorgfältig und vorausschauend geplant werden, damit der Ü-Wagen rechtzeitig dort war, wo er für die Übertragung gebraucht wurde.

Auf dem Col du Lautaret bei Briançon (Passhöhe 2.057 m) kam 1958 das Team mit dem Ü-Wagen an, nachdem eine halbe Stunde zuvor der Berg auf die Straße abgerutscht war. Die Aufräumarbeiten dauerten fünf Stunden, wie auf der Rückseite des Fotos von meinem Vater vermerkt ist.

Fundstück Juni 2016: Tour de France - Bergrutsch (Foto: Annelie Fischer)
Bergrutsch auf dem Col du Lautaret ...

Ü-Wagen bei der Tour de France (Foto: Annelie Fischer)
... Zwangspause für den Ü-Wagen ...

Tour de France Bergrutsch Zwangspause (Foto: Annelie Fischer)
... und für die Begleitfahrzeuge (v. l.: Fahrer Hans Thamerus und Ü-Stellen-Leiter Mathias "Matz" Horsch)

So manches Mal war Werner Zimmer, wie er später einmal sagte, besorgt, wo mein Vater und der Fahrer blieben – doch trafen sie in all den Jahren immer wieder rechtzeitig ein. Beim Anblick der Fotos erscheint mir das fast wie ein kleines Wunder.

Wenn der Wagen – vom Team heiß ersehnt – dann nach manchmal stundenlangem Warten eintraf, gab es hin und wieder Beifall. Auch vom Bürgermeister oder von Dorfbewohnern, die geduldig ausgeharrt hatten und den Ü-Wagen und seine Besatzung erleichternd klatschend begrüßten. Gelegentlich hatten sie zum Empfang sogar Gesangsgruppen oder Akkordeonspieler mitgebracht, mit denen mein Vater teilweise auch noch Jahre später in Kontakt stand und mit denen ihn eine manchmal langjährige Freundschaft verband. Die Tour war zwar auch damals schon „ein großer Zirkus“ – aber oft eben auch noch sehr persönlich und herzlich.

Sechzig Jahre später, in Zeiten der Kreditkarten, ist es heute auch kaum noch vorstellbar, dass in den 50ern die gesamten Spesen für vier Wochen vorweg in bar ausgezahlt wurden. Das Team trug sie, da auch ein abgeschlossener Ü-Wagen nicht diebstahlsicher war, immer irgendwo am Körper versteckt mit sich herum. Und zu Tour-Beginn waren das viele Bündel mit Scheinen französischer Franken.

Unvergessen bleibt mir die Erzählung meines Vaters über das Malheur, das dem als „Original“ bekanntem Kraftfahrer Fritz Maurer widerfuhr. 

Mitsamt den Spesen in der Hosentasche musste er einem menschlichen Bedürfnis nachkommen, suchte also eine der alten Toiletten im ländlichen Frankreich auf, die wohl vielen noch in Erinnerung sein dürften: Außer einem in den Boden eingelassenen Loch in einem kleinen Toilettenhäuschen, meist noch ohne Tür, gab es da nichts. Der Maurer Fritz kannte die natürlich. Im speziellen Fall aber, ziemlich stark unter Druck, bedachte er nicht, dass er die gesamten Geldbündel bei sich hatte. Man ahnt es schon, wo sie landeten … in selbigem! Kurz und gut – sie mussten da wieder raus … Was Fritz mit im wortwörtlichen Sinne „hand“-werklichem Geschick auch gelang. Nun waren die Geldscheine in dieser Form allerdings niemandem mehr anzubieten.

Die Ü-Wagenfahrer – Meister ihres Fachs: Fritz Maurer war einer von ihnen (Foto: Annelie Fischer)
Die Ü-Wagenfahrer – Meister ihres Fachs: Fritz Maurer war einer von ihnen und häufig bei der Tour am Steuer

Fritz und meinem Vater blieb also nichts anderes übrig, als Schein für Schein sanft unter einem noch sanfteren Wasserstrahl zu säubern und anschließend auf mehreren Wäscheleinen, die im Ü-Wagen aufgespannt wurden, trocknen zu lassen. Die Übertragung der Tour de France erfolgte zwei Tage lang unter einem wahrhaft sichtbaren Geldsegen-Himmel. Dessen Anblick versetzte auch so manchen Tour-Zuschauer in Staunen, der durch die Ü-Wagen-Fenster lugte. Dass trotz fast 40 Grad Außentemperatur die Tür verschlossen blieb und Fritz eine Nacht im Ü-Wagen nächtigen musste, war wohl ob der noch geretteten Spesen das kleinere Übel. Vom Geld an der Wäscheleine gab es mindestens ein Foto – leider ließ es sich aber trotz intensiver Suche nicht mehr finden.

Autogrammkarte der 20-jährigen Mireille Mathieu. SR-Toningenieur Karl Fischer bekam sie 1966

Von einer Tour in den 60ern kam mein Vater in höchsten Tönen von einer jungen Sängerin schwärmend zurück. Er hatte sie in einem kleinen Saal, wo sie anlässlich der Tour einen ihrer ersten Auftritte hatte, gehört und kennengelernt. Dabei bekam er eine ihrer ersten Autogrammkarten. Sogar über ihre Familie hatte er sich auch mit ihr unterhalten. In seiner Begeisterung über ihre Liebenswürdigkeit und ihre Gesangsqualitäten war er gar nicht mehr zu beruhigen, so dass meine Mutter schon leicht unruhig wurde. Selbst die Flöhe, die mein Vater wie jedes Jahr „en masse“ von der Tour mit nach Hause brachte, hatten keine solche Wirkung auf sie wie diese Autogrammkarte, die er wie einen Schatz verwahrte und die ich heute noch habe … von Mireille Mathieu. Und mir schwant in diesem Zusammenhang, woher der Ausdruck kommen könnte „jemandem einen Floh ins Ohr setzen“ …    

Persönlich war ich zum ersten Mal bei der Tour richtig dabei, als ich schon um die 20 Jahre alt war – und zwar, als sie damals durch Scheidt im Saarland führte.

Aber „fast“ dabei war ich öfter. Vier oder fünf Jahre war ich alt, als ich das erste Mal mit meiner Mutter mit dem Zug nach Paris fuhr, wo uns mein Vater in Empfang nahm. Das war 1956. Ich weiß noch, dass ich immer ungeheuer Heimweh nach meinem Vater hatte und in Paris durch die Absperrung vor dem Bahnsteig in die Arme meines Vaters rannte, obwohl man das ja nicht durfte. Der Bahnhofsbeamte lächelte und ließ mich durch, da ich ja eh nicht mehr aufzuhalten war … Komisch – anhand eines Fotos konnte ich mich noch total erinnern.

Als ich so 10 bis 14 war, übernachteten wir jedes Jahr eine Nacht im Pariser Hotel Terminus und fuhren dann mit dem Ü-Wagen zurück nach Saarbrücken. Ich kann mich sogar noch darin erinnern, dass wir am „Moulin Rouge“ vorbeigingen und meine Eltern mir irgendwie verlegen zu erklären versuchten, was die Bilder im Schaukasten so zeigten. Ich verstand es allerdings trotzdem nicht … Die Radrennfahrer in Paris je gesehen zu haben, kann ich mich nicht erinnern. Wenn wir am letzten Tag der Tour dort ankamen, war die Tour, so viel ich noch weiß, praktisch vorbei.

Die „Große Schleife“ 2016, die 103. Tour de France, werde ich im Fernsehen in HD-Format verfolgen – statt wie damals am Radio in Mittelwellenqualität. Und werde wieder darüber staunen, dass ich bereits bei der 43. Tour als kleines Kind (fast) mit dabei war – das hatte ich doch inzwischen echt vergessen! Was für ein Erinnerungs-Fundstück!

Annelie Fischer (Foto: Annelie Fischer)
Annelie Fischer, die Autorin dieses „Fundstücks zur SR-Geschichte“ arbeitete beim SR Fernsehen

*Die Autorin Annelie Fischer arbeitete von 1970 bis Ende 1982 beim Saarländischen Rundfunk. Unter anderem war sie als Sekretärin, Redaktionsassistentin in der Fernsehunterhaltung und als Realisatorin von Kurzfilmen für den „Saarbrücker Bilderbogen“ tätig. Den Text schrieb sie anhand von Erzählungen und Fotos ihres Vaters Karl Fischer. Er war von 1948 bis Mitte der 80er Toningenieur vor allem im Übertragungsdienst des Saarländischen Rundfunks und über 15 Jahre alljährlich bei der Tour de France im Einsatz.

(Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Eva Röder, Gestaltung/Layout, Roland Schmitt: Fotos/Recherche)

Artikel mit anderen teilen


Push-Nachrichten von SR.de
Benachrichtungen können jederzeit in den Browser Einstellungen deaktiviert werden.

Datenschutz Nein Ja