Werner Klippert (Foto: SR)

Das Radio wird „90“

 

Der regelmäßige öffentliche Sendebetrieb des Radios begann am 29. Oktober 1923 um 20.00 Uhr. Das einstündige „Eröffnungskonzert“ aus dem Voxhaus in Berlin wurde zur Geburtsstunde des neuen Massenmediums. Im selben Jahr kam am 22. April in Offenbach am Main auch der 2013 älteste Redakteur des Saarländischen Rundfunks auf die Welt: der frühere Hörspielchef Werner Klippert. Im folgenden Text* schildert er seine ersten Erinnerungen an die seltsamen Töne aus einer „Lokomotive ohne Räder“. (ab) 

Von Werner Klippert*

Das Radio und ich sind gleich alt. 1923 kam ich auf die Welt, und das Radio wurde in Deutschland öffentlich. Zwei oder drei Jahre später hatte ich meine erste Begegnung mit dem neuen Medium.

Aus dem Familienalbum: Werner Klippert mit Mutter beim Radiohören  (Foto: Klippert privat/SR)
Aus dem Familienalbum: Werner Klippert mit Mutter beim Radiohören

Ein Foto im Familienalbum. Ich sitze auf Mutters Schoß auf dem Kanapee mit der hohen Rückenlehne, und Mutter stützt den Ellenbogen auf die zylindrische Armlehne, um mit der Hand Aufmerksamkeit anzumahnen. Mein linkes Ohr ist vom Bildrand abgeschnitten. Eigentlich nicht mein Ohr, sondern einer von den Hörern, die mir übergestülpt sind. Auf einem einbeinigen Tischchen steht ein Radiodetektor, und mein Vater schaut auf die umwickelte Spule und das Döschen mit dem Demodulator. Mein Gesichtsausdruck strotzt vor stupidem Nichtverstehen.

In der Erinnerung sehe ich mich auf dem Boden mit Bauklötzchen spielen, unter dem Tisch kriechen und sie aufbauen in meinem dunklen Höhlenreich. Ich war ganz bei mir. Da wurde ich herausgerufen und, weil ich nicht zu hören schien, von Mutter hervorgeholt. Sie brachte den sich Sperrenden unter freundlichem Zureden aufs Sofa und platzierte mich auf ihrem Schoß. Man praktizierte mir etwas auf den Kopf, was meine Ohren drückte.

Loewe-Ortsempfänger "OE 333" (1926): mit einer Million Stück eines der ersten deustchen "Massengeräte"; Privat-Sammlung Dipl. Ing. Manfred Putze, Saarlouis

Vater saß vor dem kleinen Tisch mit der dunkelroten goldbefransten Filztagesdecke. Auf dem Tisch stand ein Ding, das einer Lokomotive ohne Räder ähnlich sah. Es war auf einem Brett befestigt, folglich unbeweglich und zum Spielen ungeeignet. Aber Vater spielte damit. Er hatte sich sein Spielzeug selbst gebaut, eine Röhre viele Male mit dünnem Draht umwickelt, und sie mit zwei aufrecht stehenden Brettchen an beiden Enden festgemacht. … Jetzt stocherte er mit einem winzig feinen Nädelchen auf einem Kristall herum, das ein Döschen krönte. Alles schien sehr wichtig zu sein, denn Mutter hob mehrmals den Finger, um zu bedeuten, dass ich schön aufmerksam zu sein habe. Ich wollte ja! Nur hinderten und störten mich die zwei über einen Bügel verbundenen Ohrenklappen aus Hartgummi, die in der Mitte je ein Loch hatten, aus dem mir Kratz-, Zisch- und Pfeifgeräusche in die Ohren stießen. Dauernd wollte ich sie abnehmen, um zu begreifen, was Vater mir immerzu anzudeuten schien. Aber beide – Vater und Mutter – waren wie versessen darauf, dass ich die Ohrmuscheln aufbehalten solle, wie sie auch ihrerseits ihre aufbehielten. Vater stocherte weiter, und auf einmal war so etwas wie ein formiertes Zischen und Tönen zu hören, fast wie Sprechen, was etwas weniger unangenehm war, so dass ich mich mehr der freudigen Aufregung, die beide Elternteile ergriffen hatte, widmen konnte. Vater und Mutter deuteten jetzt besonders heftig auf meine Ohrenklappen, als solle dort etwas Außerordentliches befestigt sein, so dass ich sie vom Kopf nahm und betrachtete. Ich konnte nichts Neues daran entdecken und verstand auch nicht die Unzufriedenheit der Eltern, die sich in einem Ausruf: „Dummer Bub!“ Luft macht, während mein Vater endlich meinte, ich sei halt noch zu klein, um das zu verstehen.

Anleitung für Radio-Bastler von 1925  (Foto: SR)
Weil Radio-Apparate teuer waren, gab es viele Radio-Bastler und viele Anleitungen für sie – wie diese von 1925

… Ich kann nicht sagen, dass ich mich damals besonders von dem Apparat angezogen gefühlt hätte. Ich war noch wortwörtlich „außen vor“. Aber das wiederum grummelte in mir fort, dieses Ausgeschlossensein von einem Vorgang, der doch meine Eltern so sehr beschäftigte und in Wallung kommen ließ, und für den Vater bei der Herstellung der umwickelten Röhren eine Menge Freizeit aufgewendet hatte und auch jetzt noch täglich manche Stunde damit verbrachte. Wegen seiner Unverständlichkeit war es ein tief beunruhigendes Erlebnis gewesen. Ein ständiges Bedürfnis blieb, dies unbekannte Land zu betreten und zu erkunden.

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Hörspielchef Werner Klippert über „Luckel“ Harig
Werner Klippert war nach Heinz Hostnig der zweite Hörspielchef von Ludwig Harig beim SR. Zwischen 1970 und 1986 arbeiteten sie beim SR zusammen. Aus dem beruflichen Miteinander ist längst eine Freundschaft geworden.

Später dann, als wir einen richtigen Lautsprecher hatten, gab es regelrechte Hörspielabende, auf die ich mich freute. Mehr noch auf die Kasperlestunde, die Frankfurt mittags für Kinder ausstrahlte. Denn Kasperlepuppen hatte ich bald, doch die Stücke für mein Theater ließ ich mir selbst einfallen. Die im Radio waren mir zu langwierig. Die Kasperlestimme allerdings und die Redeweise des Kaspers waren mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich imitierte sie fleißig.

Mein erster Auftritt als Rundfunkmoderator oder Conférencier war auch eine Imitation. Ich spielte, parodierte, oder versuchte darzustellen, den Ansager des Wunschkonzerts des „Großdeutschen Rundfunks“ (Anmerkung: ab 1934 war der „Reichssender Frankfurt“, wie alle anderen auch, eine Zweigstelle des nationalsozialistischen Einheitsrundfunks), damals so ziemlich die beliebteste Sendung in Deutschland.

Es war im ersten Kriegswinter, ich war Fanfarenfähnleinführer, und wir hatten irgendeinen Mist gebaut, uns gestritten und sogar während des Dienstes verkloppt. Eine Fanfare war verdellert worden. Danach folgte als Disziplinarstrafmaßnahme das Verbot, die Führerschnüre und die Schwalbennester des Musikzuges zu tragen. Das schmerzte.

Ich wollte zeigen, zu was wir imstande seien, und entwarf einen Elternabend, der sich von den üblichen dadurch unterschied, dass er ein durchgängiges Konzept, eben die Form eines Rundfunk-Wunschkonzertes, hatte.

Auch als Film und Buch: Das „Wunschkonzert für die Wehrmacht“ (1939 – 1941) sollte „Volk und Wehrmacht  zu einer einzigen großen Familie“ verbinden

Wir bastelten eine Mikrofonattrappe (in einem Drahtrund hing frei schwebend zu vier Seiten mit Kordel befestigt eine Blechbüchse, die vom Zuschauerraum aus wie ein Mikro aussah). Wir imitierten die Don Kosaken (mit dem Wolgalied: „Zieht euch warm an, denn die Kälte greift den Darm an“), hatten ein Mundharmonikaorchester, karikierten mit umgesteckten Fanfaren einen Posaunenchor, parodierten den Rühmannschen Filmauftritt mit seinen zwei Freunden: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“. Kurz, wir versuchten uns in den verschiedenen Formen staatstragender Unterhaltung. Alles ganz ernsthaft. Ich stand auf der Bühne unserer Schulturnhalle, ein Din-A4 Heft mit Goldglanzumschlag in der Hand, in das ich die Verse geheftet hatte, die jedem Auftritt vorangingen. Und natürlich gab’s auch eine Ansage der Namen, die angeblich jeweils gerade dieses Stück gewählt hatten. Die meisten der genannten Personen saßen im Publikum, denn die Pimpfe hatten beim Verkauf der Eintrittskarten gefragt, ob der Name des Käufers erwähnt werden dürfe. Doch auch Namen von Soldaten waren dabei … Noch am selben Abend stellte der Stammführer unsere „Ehre“ wieder her und hob das Verbot, Führerschnüre und Schwalbennester zu tragen, auf, für die, wie für andere Ehrenzeichen, naive Gemüter leider immer sehr anfällig sind. Dass wir genaugenommen die Massenkultur des „Dritten Reichs“ auf die Schippe genommen hatten, bemerkte niemand, noch nicht einmal wir selbst. Wir waren ein Teil von ihr. 

Redaktionelle Anmerkung: Dank seines rundfunkbegeisterten Vaters lauschte Werner Klippert in Offenbach am Main schon als Kind den wundersamen Klängen aus dem Äther – wenn auch mühsam und nicht ganz freiwillig. Dort war ab 1. April 1924  „der Frankfurter Sender“ zu hören (korrekter Name: „Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG, Frankfurt am Main“).
Im abgetrennten Saargebiet empfing man damals – so gut es halt ging – neben „Frankfurt“ aus Deutschland auch „Stuttgart“ (ab 10. Mai 1924, „Süddeutsche Rundfunk AG“) und ab 1926 zusätzlich „Kaiserslautern“, eine Sendestelle der „Deutschen Stunde in Bayern“.  Erst 1935 bekamen die Saarländer mit dem „Reichssender Saarbrücken“ eine eigene Rundfunkstation (ab).

*Der Text von Werner Klippert ist, leicht gekürzt, seinem Buch  „Also sprach der Orang-Utan“ entnommen, erschienen 2002 im Gollenstein-Verlag Blieskastel. Wir danken dem Autor und dem Verlag.

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Susanne Hennings (dra), Sven Müller, Eva Röder und Roland Schmitt

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