Im Hafen von Genua (Foto: SR)

„Wandern für Europa“ – eine Aktion der Europawelle Saar (2)

Teil 2: Wütende Winzer in Frankreich, hoffnungsvolle Iren und ein europaskeptisches England mit Dauerstreiks

 

„Wandern für Europa“ war eine der größten, längsten und erfolgreichsten Radio-Aktionen* der Europawelle Saar. Für Europa-Reporter Hans-Jürgen Purkarthofen wurde sie zum journalistischen Härtetest. Aber laufend sammelte er dabei 1979 auch interessante Erfahrungen über die Stimmung im Vorfeld der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament. Im Januar 1979 machte er sich in Rom auf den Weg. Zu Fuß durch die neun Länder der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG). Im Juni kam er in Brüssel an. Nach 4000 Kilometern. Auch vierzig Jahre danach ist die Aktion unvergessen. Hier der zweite Teil seiner Erinnerungen.

Von Hans-Jürgen Purkarthofer

Für mich waren in Livorno, der Hafenstadt in der Toskana, die ersten 300 Wanderkilometer zu Ende gegangen. Und meine Zeit im ersten Land der damaligen europäischen Gemeinschaft (EG). Acht weitere und 3700 Kilometer lagen noch vor mir. Vorerst hieß es für mich: Abschiednehmen von Frau und Tochter, die mich bisher begleitet hatten. Ohne den „Pfadfinderservice“ meiner Frau hätte ich es wohl nicht bis hierher geschafft.

Nun wartete die Fähre nach Bastia, Korsika. Ich konnte mich auf zwei Ruhetage freuen, bevor es – ebenfalls per Schiff – nach Marseille gehen würde.

Der erste Teil des Berichts von Europa-Wanderer Hans-Jürgen Purkarthofer

Bastia (Foto: Pixabay)
Bastia.

Ich nahm Quartier im – wen wundert’s – Hotel Bonaparte. Die Insel Korsika wurde 1769 von der italienischen Stadtrepublik Genua an Frankreich verkauft. Seither tobte ein „Kulturkampf“ zwischen der Insel und der französischen Zentralregierung, die den Korsen einen französischen Kulturplan verordnen wollte. Über die Jahrhunderte erfolglos. Daran änderte auch Korsikas berühmtester Sohn nichts, der in der Inselhauptstadt Ajaccio geborene Napoleon Bonaparte. Versuche der Korsen, ihre eigenständige Kultur und Bräuche zu bewahren und zu pflegen, wurden in der Zentralregierung als Auflehnung gewertet. Bis 1972 war es an den Schulen bei körperlicher Strafe verboten, sich in korsischer Sprache zu unterhalten, die ihre Wurzeln im Vulgär-Latein hat und dem Italienischen und Spanischen eng verwandt ist. 

Spaziergänge in Bastia, Kiebitzen beim Boule und einige Gespräche mit Einheimischen füllten die zwei Ruhetage. Europa spielte in Korsika noch keine Rolle. Die französischen Kantonalwahlen im März standen vorerst im Vordergrund. Später wird man hören, was die Politiker des Kontinents – so nennt man Frankreich auf der Insel – sagen und wählen.

Mit geheilten Füßen und frischem Elan ließ ich mich dann von einer Fähre in die französische Hafenstadt Marseille bringen. Ich freute mich dabei auf Besuch aus Saarbrücken. Unser französicher SR-Kollege Daniel Mollard würde die öffentliche Sondersendung aus einem Hafen-Café moderieren.
Aus meiner Sicht konnte nun eine Art Kür beginnen. In Frankreich kannte ich mich aus, dachte ich. Seit meinen Schüleraustausch-Jahren beherrschte ich die Sprache und glaubte auch, die Franzosen zu kennen.

Sondersendung aus Marseille (Foto: SR)
Sondersendung aus Marseille: Hans-Jürgen Purkarthofer (M.) und Daniel Mollard (r.).

Man würde sehen. Kollege Mollard hatte schnell Gelegenheit, mich in sprachliche Feinheiten tiefer einzuführen. Wir hatten einen Termin mit dem Sozialisten Gaston Deferre. Er war langjähriger Marseiller Bürgermeister, zweimal französischer Präsidentschaftskandidat und einige Jahre Innnenminister. Bei dem Interview mit ihm benutzte ich das Wort „Politicien“. Daniel klärte mich später auf, dass das eine eher abwertende Bezeichnung ist. Korrekt wäre „hommes et femmes politiques“. Nun denn.
Vor mir lag das Rhônetal, vorerst noch in milder Sonne. Die Ziele des ersten Frankreich-Abschnitts hießen Avignon und Lyon, an einer der Lebensadern Frankreichs gelegen. Meine Wanderung ging auf der Route Nationale 7 östlich des Flusses in Richtung Norden. Ich merkte schnell, dass meine Füsse mich trugen. Die Beschwerden vom Anfang der Tour waren Vergangenheit. Auch das wieder höhere Gewicht meines Rucksacks machte mir, anders als in Italien, keine Probleme. Zu den rund 15 Kilos meiner Ausrüstung kamen beim Start in ein neues Land immer wieder Zeitungen als erste Informationsquelle über regionale und nationale Probleme. Und Papier ist schwer. Im Vergleich zu Italien erschien mir Frankreich hochentwickelt. Man konnte von überall überallhin telefonieren.

Artikel über Purkarthofers Wanderung in „Le Journal du Centre“ vom 14. Februar 1979. Zum Vergrößern bitte klicken.

Nach und nach erschlossen sich mir die Probleme des französischen Südens. „Wir werden nicht einen Rebstock oder Obstbaum mehr ausreißen“, brachten die Obst- und Weinbauern ihre Sorgen auf den Punkt. Sie hatten mit der billigeren Konkurrenz der Italiener schon genug zu kämpfen. Ihre nicht verkäuflichen Bestände gaben sie zum Destillieren. Dann wurde Fleckenentferner oder Rasierwasser daraus.

Mit den Beitrittskandidaten Portugal, Spanien und Griechenland standen nun weitere Rivalen vor der Tür! Diese EG-Erweiterung wurde von der gaullistischen Partei des Pariser Oberbürgermeisters Jacques Chirac in seltener Einheit mit den Kommunisten abgelehnt. Ihr Koalitionspartner, die liberal-bürgerliche UDF (Union pour la Démocratie Française), die Partei des Staatspräsidenten Giscard d’Estaing, befürwortete sie.

Probleme bereitete auch das rund ein Dutzend Kraftwerke im Rhônetal. Darunter waren fünf Kernreaktoren mit dem äußerst umstrittenen Super-Reaktor von Malville bei Lyon. Dort lieferten sich Umweltschützer aus vielen Ländern erbitterte Schlachten mit der Polizei.

Näher an meinen direkten Befindlichkeiten damals, waren die „Routier“-Hotels und Gaststätten entlang der „Nationale 7“. Die Fernfahrer wussten, was für sie gut ist. Auf sie war das Übernachtungs- und Ernährungsprogramm dieser Gastronomie eingestellt. Die Zimmer einfach, mit bequemen Betten und Waschgelegenheiten. Das Essen großartig. Um 17.00 Uhr kam die „Bonne Femme“ und warf den Ofen an. Um 18.30 Uhr gab es für alle ein Essen. Jeder „haute rein“.

Über die Nougat-Stadt Montélimar und vorbei am touristischen Geheimtip, dem Departement Drôme, ging es in Richtung Valence. Viele LKW-Fahrer hupten mich an, eine Nachwirkung der regionalen FS-Berichterstattung von FR 3-Marseille über unsere Aktion. Die Gendarmerie indessen schaute offenbar nicht fern. Bei zwei Kontrollen wurde ich befragt: „Wer sind Sie, woher kommen Sie? Haben Sie einen Beruf? Können wir Ihren Ausweis sehen?“ Männer in Parka mit Rucksack im Winter an der Nationale 7 – das muss man prüfen. Der Posten in Livron stellte mir dann eine Art Passierschein aus, dass ich überprüft und als unverdächtig befunden worden war. 

In Lyon angekommen, konnte ich noch die Schlussphase eines Treffens der „Eurodroite“ im Palais des Congrès beobachten. Die französische „Forces Nouvelles‟, Italiens „Movimiento Nationale“, die spanischen Frankisten „Fuerza Nueva“, Belgiens „Force Nouvelle“ und die „Nationale Sammlungsbewegung“ Griechenlands hatten sich zur Vorbereitung der Europawahl getroffen. Sie waren u. a. auch für die EG-Erweiterung um Griechenland, Spanien und Portugal. Nicht allein dieses Bekenntnis war Ursache dafür, dass sich die Demos zuweilen zu Straßenschlachten mit der Polizei auswuchsen. Dazu trug sicher auch der Faschistengruß bei, zu dem viele der Kongressteilnehmer vor den Fernseh-Kameras den rechten Arm erhoben.

Nach einem Ruhetag machte ich mich auf, über die Wasserscheide – sanfte, wald- und wiesenreiche Hügel – ins Loiretal. Noch bevor von der westlichen Hügelkette herab Sancerre grüßte und eine weiße Abwechslung vom roten „Côte du Rhône“ versprach, machte ich in Tarare und Roanne Bekanntschaft mit der sprichwörtlichen französischen Küchenkultur. Mit dem Wettstreit zwischen „Michelin-Stern” und der „Toque Blanche“ erwartete mich ein Höhepunkt. In Roanne drei Sterne bei den „Frères Troigros“. Diese Michelin-Auszeichnung hatten damals auch schon einige deutsche Genusstempel. Was aber war die „Toque“, die weiße Kochmütze? Diese Auszeichnung wurde von der Vereinigung der Küchenchefs an Mitglieder ihrer Zunft vergeben, die sich vor den Sternen nicht verstecken mussten.

Pascal Auroux. (Foto: SR)
Pascal Auroux.
Widmung von Pascal Auroux (Foto: SR)
Widmung von Pascal Auroux.

Auf der schon sanft in Richtung Tarare abfallenden Straße hupte mich ein Auto an. Pascal Auroux – wie sich herausstellte ein Kollege der Zeitung „Le Pays Roannais“ – lud mich zum Mitfahren ein. Als ich ablehnte, bot er mir an, wenigstens meinen Rucksack zu fahren und nannte mir ein Hotel-Restaurant als Ziel. So kam ich bei Jean Brouilly in Tarare, einem Träger der „Toque Blanche“, in den Genuss von „Saumon d’Allier“. Der Allier ist ein linker Nebenfluss der Loire. In seinem Oberlauf laichen Lachse, die von dort bis nach Grönland wandern – um dann zum Laichen wieder in den Allier zurückzukehren. Ich aß den köstlichen Allier-Lachs gedünstet auf Blätterteig mit ganzen Spinatblättern und winzigen Lammfilet-Stückchen garniert. Die Erinnerung daran ist bleibend. Erwähnenswert vielleicht noch: „Brouilly“ – wie mein Gastgeber – heißt auch eine der sieben „Grand Cru“-Lagen des Beaujolais.

In den nächsten Tagen würde ich an der Loire entlang bis Nevers gehen. Alle Straßen führen in die Hauptstadt. Frankreich ist nicht nur zentralistisch geführt sondern auch organisiert. Dass viele Bürgermeister auch Abgeordnete in der Nationalversammlung sind – Maire-Deputées – half ihnen in ihren Orten bisher recht wenig. Erst in jüngster Zeit begann die Zentralregierung damit, kleine Querspangen als Verbindungswege zwischen den Magistralen bauen zu lassen, um die Hauptverkehrswege von Industrieansiedlungen zu entlasten. Doch damit waren dann wieder andere Probleme verbunden. In Saint Martin-Belle Roche war durch regionale Wirtschaftsförderung die Einwohnerzahl um gut 40 % auf rund 1 500 gestiegen. Es hatten sich viele Geschäfte angesiedelt, es wurde eine neue Schule gebaut und ein Sportzentrum. Auch Ärzte hatten sich niedergelassen. Nur eine Apotheke gab es (noch) nicht, weil die Apothekerkammer dies erst ab einer Einwohnerzahl von 2000 erlaubte. Als schnellster Ausweg wurde eine Fusion mit dem 700-Seelen-Nachbarort Senozan angesehen.

Nevers (Foto: Pixabay)
Nevers.

An diesem Teil der Loire kommt man durch eine ehemalige französische „Waffenschmiede“. Die Erde um den Fluss herum ist schwach erzhaltig, zu wenig für eine industrielle Aufbereitung. So hatten die Anwohner in der wasserreichen Gegend kleine Hammerschmieden konstruiert und in „Heimarbeit“ das Eisen aus der in Holzkohle-Meilern erhitzten Erde geschlagen. Das brachten sie dann in die Gießereien, wo es zu Waffen verarbeitet wurde. Das funktionierte bis in die Neuzeit. Mit Stahl von der Loire wurde auch der Eiffelturm gebaut.

Daneben „stolperte“ ich auch immer wieder über Geschichte. In Tronsanges, einem kleinen Ort, lud mich eine Steinbank mit Säule zur Rast ein. Oben auf der Säule prangte eine Tiara, die Papstkrone. Eine gemeißelte Inschrift auf Latein: An dieser Stelle hatte sich 1812 auch Papst Pius VII müde und leidend hingesetzt, weil er von Napoleon Bonaparte als Gefangener nach Frankreich genötigt worden war. Die Bauern der Region hatten dem Heiligen Vater hier mit einigen Schlucken Milch wieder aufgeholfen.    

Bevor ich bei Nevers das Loiretal verließ, konnte ich mich noch über den Besuch von zwei Kollegen aus Saarbrücken freuen, die mich an meinem Geburtstag mit einer Einspielung in die „Bunten Funkminuten“ überraschen wollten. Friedrich Hatzenbühler, ehemaliger Sportstudent, wollte mich bei dieser Gelegenheit wohl auch testen. Auf den letzten fünf Kilometern der Etappe am Vortag stieß er zu mir und legte in einem „Wahnsinnstempo“ los. So fit war ich indessen inzwischen auch und nach etwa einer halben Stunde ließ er es gut sein. Mit Herrmann Stümpert zusammen feierten wir einen schönen Geburtstag.

Friedrich Hatzenbühler (Foto: SR)
Friedrich Hatzenbühler.
Elke Herrmann (Foto: SR)
Elke Herrmann.

In Nevers bekam ich dann noch die Vorbereitungen auf das Fest der heiligen Bernadette von Lourdes mit, das am 16. Februar aus Anlass ihrer dritten Marien-Erscheinung gefeiert wird. Die 50 000-Einwohner-Stadt erwartete aus diesem Grund rund 500 000 Pilger aus aller Welt. Der noch vollkommen erhaltene Leichnam Bernadettes (sie war 100 Jahre davor, am 16. April 1879 in Nevers gestorben) wurde im Kloster St. Gildard in einem Sarkophag aus Kristallglas gezeigt. In der Kathedrale von Nevers würde Monsignore Ernoult, Bischof von Sens-Auxerre, den Gedenkgottesdienst zelebrieren. Danach würde der Ort zwei Monate lang nicht zur Ruhe kommen.

Die Loire wendet sich nach Westen, für mich ging es weiter nach Norden in Richtung Hauptstadt. Je weiter ich in Richtung Seine vorankam, desto mehr vermisste ich das französische Fernsehen, eine wichtige Informationsquelle. Seit einer Woche streikten die Mitarbeiter der SFP – Societé Francaise de Production – wegen eines Sanierungsplans, der viele Entlassungen vorsah. In dieser Gesellschaft hatte der Staat die Produktions-Kapazitäten der drei öffentlichen Programme konzentriert. Nun wurde nicht mehr produziert, vor allem keine regionalen Informationen mehr. Bei Antenne 2 lief noch die Serie „Holocaust“. Deren Synchronisation war gerade noch fertig geworden. Ansonsten war oft um 21.30 Uhr Sendeschluss, und die Fernsehzimmer der Hotels waren früh verwaist. Die größte Sorge der Sportfreunde war aber, dass die Übertragung des Rugby-Matches Frankreichs gegen England am ersten März gefährdet sein könnte.

Während der Annäherung an Paris überschritt ich den Eintausendsten Kilometer meiner Wanderung. Das hatte ich nach einer entsprechenden Frage einer Gesprächspartnerin nachgerechnet. Es regnete nun wieder häufiger. Meiner Vorfreude auf die Sondersendung mit Elke Herrmann tat dies keinen Abbruch. Es zeigte sich aber, dass wegen des gestiegenen Seine-Pegels die „Bateaux Mouches“ nicht mehr unter einigen Brücken durchkamen. Das war enttäuschend für einige Dutzend SR 1-Hörer, die unserer Aktion wegen nach Paris gekommen waren.

Purkarthofer, Buchholz, Deutscher Botschafter in Paris Herbst (Foto: SR)
Empfang beim deutschen Botschafter in Paris, Dr. A. Herbst (rechts). Links Purkarthofer, in der Mitte Buchholz.

Geschichte wiederholt sich offenbar – nur nicht immer an gleicher Stelle. Die „Große Koalition” aus Gaullisten, der Partei des Pariser Bürgermeisters Jacques Chirac, und der UDF (Union pour la Démocratie Française), der Staatspräsident Giscard d’Estaing angehörte, hatte sich vor der Europawahl in einer Diskussion über die nationalen Interessen Frankreichs verkeilt. Chirac stellte Frankreichs Rolle im Weltsicherheitsrat heraus und seine Rolle als Atom- und Garantiemacht für die Bundesrepublik Deutschland und Berlin. Giscard d’Estaing verteidigte die Bundesrepublik gegen Versuche, Furcht vor einer wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands zu wecken. Keine der beiden Seiten problematisierte indes die gerade laufenden Auseinandersetzungen über Grenzausgleichszahlungen im Agrarhandel. Ein Streit, der das von Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt erwünschte „Europäische Währungssytem“ blockierte. Und im gerade laufenden Kongress der Giscardisten zur Vorbereitung der Europawahl wollte man ganz offensichtlich den Gaullisten und anderen Parteien keine weiteren Angriffspunkte liefern. Denn ausgerechnet die Punkte „Politische Union“ und “Befugnisse des Europaparlaments“ wurden ausgespart.

Kathedrale von Rouen (Foto: Pixabay)
Die Kathedrale von Rouen.

Über Versailles ging es weiter in Richtung Kanalküste. Noch sechs Tage auf dem Kontinent, dann standen die Inseln jenseits des Ärmelkanals auf meinem Wanderproprogramm. Die nächste größere Stadt war Rouen. Dort wartete auf mich eine schöne Überraschung: Mitglieder von „Europe Echange“ und dem „Comité de Liaisons Internationales“, Organisationen, die sich die Förderung von Familienkontakten und Städtepartnerschaften zum Ziel gesetzt hatten, warteten auf mich. Sie kamen aus einem Dutzend Umland-Gemeinden und begleiteten mich bis jeweils zu ihren Orten. Gelegenheiten zum Gespräch und zu Hinweisen auf die Rolle der Normandie im Verlauf der Geschichte: Von dort wurde letztmals England erobert, im 100-jährigen Krieg Jeanne d’Arc verbrannt und nach der Landung der Alliierten das Ende des Zweiten Weltkriegs eingeleitet. Eine Steigerung kam dann doch noch in Rouen: Bürgermeister Jean Lecanuet, Präsident der UDF, ließ mir die Ehrenmedaille seiner Stadt überreichen und lobte die Aktion „Wandern für Europa“ als die wohl geglückteste Initiative zur Förderung der Europäischen Idee.

Meine Fähre nach Rosselare in Irland startete in Le Havre am 1. März um 18.00 Uhr. Nach einer recht bewegten Überfahrt ging ich am nächsten Tag um 14.00 Uhr mit breiten Schritten an Land. Erste „Amtshandlung“: Zeitungen kaufen. Der Rucksack bekam wieder rund drei Kilo mehr Gewicht. Papier – siehe oben – ist schwer.

Die Blätter waren erst mal voll mit britischen Problemen. Die Labour-Regierung unter Premierminister Callaghan hatte Wales und Schottland über eine Selbstverwaltung abstimmen lassen um Nationalisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Ergebnis war ernüchternd. Waliser und Schotten wollten nicht. Und allgemein wurde erwartet, dass Callaghan nach einem Mißtrauensvotum stürzen und die Konservativen um Margret Thatcher die Mehrheit erringen würden.

Dabei hätten die Zeitungen genug über Irlands eigene Probleme berichten können. Denn gerade tobte ein Streit über die als ungerecht empfundene Einkommens-Besteuerung. Tatsächlich griff der irische Staat oberhalb eng bemessener Verdienste kräftig zu. Erinnerungen an Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik wurden wach: Ein einfaches Steuersystem kann nicht gerecht sein und ein gerechtes Steuersystem kann nicht einfach sein.

Die Angestellten der Fluggesellschaft „Air Lingus“ jedenfalls riefen einen Steuerstreik aus und forderten andere Arbeitnehmer auf, ihnen auf die Straße zu folgen. Besonders prekär dabei: Die von der „Fianna Fail“-Partei getragene Regierung hatte kurz davor die Vermögenssteuer abgeschafft, um die Abwanderung reicher Iren ins Ausland zu stoppen. Und dann gab es da noch die NITRO-Bewegung (National Income-Tax Relief Organisation), die vom Streik auf der Straße abriet. Sie hatte stattdessen eine Verfassungsklage angestrengt.

Die Europawanderung als Titel der SR Information Januar 1979. Zum Vergrößern bitte klicken.

Als ich mich zum ersten Etappenort nach Wexford aufmachte, begannen meine Probleme. Schlappe 15 km hatte ich für den Rest des Tages eingeplant. Warum auch immer: Bei der Etappenplanung für Irland hatte ich übersehen, dass dort ja auch in Meilen gemessen wird. Und so kam ich ins Laufen. Denn auf mich warteten plötzlich noch vier 50-km-Etappen. Nach schnellem Blick auf den englischen Etappenplan: Entwarnung – dort waren die Meilen berücksichtigt.

Dass sich Irland als eines der „spannendsten” Länder auf der Tour präsentieren würde, hatte mehrere Gründe. Zum einen wurde durch die Aufnahme in die EG das Selbstbewusstsein der Iren gegenüber Großbritannien, ehemalige Besatzer, kräftig gestärkt. Sie strebten eine eigene Rolle an, gleichberechtigt mit dem großen Nachbarn. Und sie traten dem „Europäischen Währungssystem” (EWS) bei. Die Briten beteiligten sich an diesem System zur Wechselkurs-Stabilisierung nicht. Ihr Pound war plötzlich eine Fremdwährung. Für mich hatte das ungeahnte Folgen: Die „Bank of Ireland” zog systematisch und rasch die Noten mit der Queen ein. Ich hatte meine vom SR überwiesenen Spesen für die Inseln in „Irish Punt“ erhalten. Das hieß für mich: Ausrechnen, was ich noch für die Tage in Irland brauche und den Rest schnell in englische Pfund tauschen. Denn in England würde das Irische Pfund nur noch zum etwa halben Kurs eingetauscht werden. Leicht gedacht, schwer gemacht. In rund einem Dutzend Banken versuchte ich, noch zum 1:1-Kurs britische Pfund zu bekommen. Es dauerte tatsächlich bis Dublin, bis ich meine letzten Bestände umgetauscht bekam.

Davor hatte ich reichlich Gelegenheit, mich mit irischen Streiksitten auseinander zu setzen, z. B. bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Straßenreinigung und Müllabfuhr. In Dublin wurde seit einigen Wochen nicht mehr gefegt und geleert, weil die Arbeitnehmer/innen nicht mehr am Wochenende und bei Regen arbeiten wollten. Dafür hatten sie zwischenzeitlich sogar eine Zulage von sechs Pfund pro Woche (ca. 23 DM) verworfen.

Dass gerade auch die irische Telefongesellschaft bestreikt wurde, war für mich indessen noch hinderlicher. Ferngespräche wurden zur damaligen Zeit noch über Stöpsel handvermittelt. Bei Streik aber eben nicht. Wie also sollte ich den Halberg in Saarbrücken erreichen? Die einzige Möglichkeit war, die Polizei als Streikbrecher zu „mißbrauchen“. Die Reviere hatten Direktleitungen nach Dublin. Und Dublin war der einzige Ort, von dem aus man direkt ins Ausland telefonieren konnte. Ich rief also von der Polizei aus den Irischen Rundfunk an, die Zentrale dort rief den SR an und übermittelte die Rufnummer des Polizeireviers, wo mich dann die Kolleginnen und Kollegen der SR-Redaktionen erreichen konnten. Es ist nicht überliefert, dass durch meine Inanspruchnahme der irischen Polizei etwa die öffentliche Ordnung auf der Insel gelitten hätte.   

Von all dem abgesehen bekam ich auch noch andere Eindrücke von Land und Leuten auf der „Grünen Insel“. Sie sind traditionsbewusst, halten ihre Feiertage. Gleichzeitig sind sie offen für Neuerungen, die ihnen Fortschritte versprechen. Südländisch-heißblütig feiern sie ihre Feste, geduldig und tolerant respektieren sie die Interessen anderer. Radikal aber werden sie gelegentlich, wenn ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen.

Die wenigsten Iren – rund drei Millionen – lebten damals in Irland selbst. Rund zwei Millionen hatten sich in England niedergelassen. Australien und Neuseeland zählten damals Iren nach Hunderttausenden. Und in den USA waren es rund 15 Millionen, die dort – allerdings überwiegend in zweiter und dritter Generation – lebten. Einer davon wurde sogar Präsident: John F. Kennedy. Die Zahl der Auswanderungen ließ aber mit der Mitgliedschaft in der EG zusehends nach. Allgemein wurden die Zukunftschancen zunehmend besser eingeschätzt. Noch ernährte die Insel nicht alle ihre Kinder. Diese kehrten ihr aber nur noch selten den Rücken für immer.

Achselzuckend, fatalistisch oder solidarisch ertrugen die Iren ansonsten die Streiks in wechselnden Wirtschaftszweigen. Ob Müllmänner, Straßenreiniger oder Telefonbedienstete: „Man darf über diese Leute nicht schimpfen, denn sie haben für ihren Streik sicher gute Gründe. Wenn wir einmal selbst streiken, dann wollen wir auch nicht, dass die anderen über uns schimpfen“, sagte mir ein Taxifahrer in Dublin.

Natürlich wurde ich auch in der irischen Hauptstadt wieder von Kolleginnen und Kollegen des SR erwartet, um dieses Land am 8. März in einer Sondersendung vorzustellen. Hans-Harro Schmidt moderierte eine muntere Sendung im Pub „O’Donoghue’s“. Das gehörte einmal der Band „Die Dubliners‟, die sich als Ex-„Chefs‟ natürlich eine Teilnahme an den zwei Stunden auf SR 1 nicht nehmen ließen. Mit dabei war auch der Botschafter der Bundesrepublik, Gerhardt Fischer, für den dieser „pub broadcast“ eine durchaus neue Erfahrung war.

Man blieb noch bis in den Abend hinein zusammen, die Zahl der „pints“ ist nicht überliefert. Ich musste mich auf den Weg machen, zum Hafen. Um 22.15 Uhr legte die Fähre nach Liverpool ab und machte dort pünktlich am Morgen des 9. März um 7.00 Uhr fest.

Liverpool (Foto: Pixabay)
Liverpool.

Meine erste Begegnung auf englischem Boden hatte ich mit einem Iren, der echtes irisches Frühstück anbot, mit Porridge, Eiern, Speck, Würstchen und Schwarzbrot. Das Haus mit „Frank’s Café“ ragte wie ein Finger aus einem Trümmerfeld heraus. Der Liverpooler Hafen und die ganze Stadt Liverpool wurden damals saniert. Alle Lager- und Büro-Häuser rundum waren abgerissen. Nur Frank durfte bis zum Übersiedeln in seiner Bleibe ausharren. Dafür hatten seine Stammkunden aus Kais und Docks mit einer Protest-Unterschriftensammlung gesorgt. Frühstücken mussten allerdings alle recht schnell, denn die Toiletten waren schon abgerissen.

Liverpool, neben London größter Hafen Englands, hatte die Umstellung auf den Container-Verkehr verschlafen. Der Handel war auf die nördliche Seite des Flusses Mersey zu einem neuen Containerhafen bei Birkenhead gezogen. Als nun das neue Container-Terminal in Liverpool fast fertig war, stellte man fest, dass vergessen worden war, auch einen Bahnanschluss dafür zu bauen. Diese neue Verzögerung war für viele Betriebe der Stadt fatal und die Arbeitslosigkeit auf rund 14 % gestiegen. Fehler und Irrtümer auch in der Innenstadt: Der alte Kern der viktorianischen und georgianischen Häuser war, bis auf zwei Straßen, völlig abgerissen. Statt Geld für die Modernisierung der historischen Viertel in die Hand zu nehmen, hatte man neue Wohnblöcke ohne Gesicht gebaut, die u. a. auch für die gestiegene Jugendkriminalität verantwortlich gemacht wurden. Auch der berühmte „Cavern“, der Keller in dem die Beatles auftraten, bevor der Weltruhm kam, wurde „Opfer“ dieser Vorgehensweise. Vor einem zugemauerten Fenster hing immerhin eine Gedenktafel für die Pilzköpfe.

Schon in Liverpool konnte ich feststellen, dass Engländer ein merkwürdig gespaltenes Verhältnis zur EG hatten. Sie mussten einerseits – nicht zuletzt wegen des Widerstands von General de Gaulle – rund 12 Jahre auf ihren – auch im Inneren – nicht unumstrittenen Beitritt zur EG 1973 warten. Andererseits sprachen sich schon 1975 in einem Referendum rund
67 % der Briten für einen Verbleib in der EG aus. Sicher spielte dabei eine Rolle, dass „Remain“ vor dem Hintergrund der schwächelnden Wirtschaft nur von Vorteil sein konnte. Doch aus Gesprächen mit Einwohnern konnte ich auch noch 1979 heraushören, dass sie der Zeit nachtrauerten, in der Großbritannien eine Weltmacht und sie Herren eines Imperiums gewesen waren.

Probleme und Versäumnisse in Liverpool waren sicher „hausgemacht“. Mir gegenüber hat jedenfalls niemand die EG dafür kritisiert. Das sollte auf den nächsten Etappen deutlich anders werden.

*Die Radio-Aktion des 1. Hörfunk-Programms des Saarländischen Rundfunks lief zwischen dem 6. Januar und dem dem 10. Juni 1979 unter dem Titel „Wandern für Europa! Eine Reportagesendung von SR 1 Europawelle Saar im Vorfeld der 1. Direktwahlen zum Europäischen Parlament“.

Der erste Teil des Berichtes von Hans-Jürgen Purkarthofer darüber wurde als „Fundstück zur SR-Geschichte“ unter der Überschrift „Wandern für Europa – eine Aktion der Europawelle Saar“ veröffentlicht. Weitere Folgen sind geplant.

Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Eva Röder (Gestaltung/Layout); Burkhard Döring (Illustrationen), Sven Müller (Videos)

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