Der Jazz hat im Programm des Saarländischen Rundfunks eine lange und gute Tradition. Auf der populären Europawelle Saar war Jazz jahrelang sogar in der hörerstarken Mittagszeit eine ganze Sendestunde lang zu hören. Heute läuft Jazz auf SR 2 KulturRadio tagsüber im Cross-over-Musikprogramm und abends in Spezialsendungen. Immer wieder kamen und kommen Musiker mit großen Namen in der Jazz-Szene als Gäste zum SR.
Siebzehn Jahre lang war Dr. Peter Kleiß der SR-Jazzredakteur (von 1998 bis 2015). Auch er lud viele Jazz-Musiker zu öffentlichen Sendungen in die Studios auf dem Saarbrücker Halberg oder zu Jazz-Konzerten auf saarländischen Bühnen. Besonders gern erinnert sich Peter Kleiß an seine langjährige Zusammenarbeit mit dem schwedischen Jazz-Posaunisten Nils Landgren.
Von Peter Kleiß
Das erste was ich von Nils hörte, waren die CDs mit seiner Funk Unit. Als Jazzredakteur des Saarländischen Rundfunks wurde ich von den Firmen jede Woche mit ca. einem Meter CDs bemustert, die ich systematisch durchhörte. Nils‘ CDs fielen aus dem Rahmen des Üblichen. Ich dachte: „Wow, der Kerl macht den Jazz wieder tanzbar. Das hatten wir ja schon lange nicht mehr, und vor allem kann seine Musik eine Möglichkeit sein, dem Jazz jenes Publikum wieder zurück zu geben, das wir seit den 1950er Jahren verloren hatten.“ Vorsichtig setzte ich seine Songs auf SR 2 KulturRadio ein. Vorsichtig, denn das SR 2-Programm ist eine Mischung aus E-Musik, Jazz und Weltmusik. Es musste also passen. Auf das vierte Album der Unit folgte das erste Duo-Album mit dem Pianisten Esbjörn Svensson „Swedish Folk Modern“. Das fiel nun noch etwas deutlicher aus dem üblichen Jazz-Rahmen, denn hier hatten sich zwei geniale Musiker gefunden, die einen lockeren und dennoch sehr verbindlichen Zugang zu ihrer Folklore zelebrierten. So etwas hatte es in Deutschland bestenfalls ansatzweise gegeben.
Damals, kurz vor Ende des letzten Jahrhunderts, hatten wir Deutschen noch ein sehr verkrampftes Verhältnis zu unserer musikalischen Folklore. Die Lieder, mit denen wir als Kinder aufgewachsen waren, die unsere Mütter und Väter uns zum Einschlafen vorgesungen hatten, fanden kaum Eingang in den Jazz. Der Zugang zur ganz persönlichen inneren Klanggeschichte war vielen von uns nur gebrochen möglich. „Swedish Folk Modern“ und das Folgealbum „Layers Of Light“ waren und sind für mich Modelle, wie man das ändern kann.
Aber es kam noch etwas anderes mit der Musik von Nils und Esbjörn rüber, etwas, das ich nur schwer ausdrücken und begründen kann. Eine große Wärme und Herzlichkeit schien durch die Musik hindurch, etwas, das mich von Anfang an tief berührt hat. Wie gesagt, ich kann das schwer in Worte fassen. Jedenfalls engagierte ich Nils mit seiner Funk Unit für das Internationale Jazz Festival St. Ingbert, das ich damals leitete.
Wenig später musste ich ins Krankenhaus. Koliken als Folge von Nierensteinen. Die blöden Steine lagen so ungünstig, dass sie mit der Schlinge geholt werden mussten, was noch schmerzhafter als die Koliken selber ist. Damals war ich der Sprecher des ARD-Gremiums, das als beratendes Kollektiv dem jeweiligen künstlerischen Leiter des Jazz Festivals Berlin zur Seite stand. Ein Handy hatte ich noch nicht, aber an meinem Krankenhausbett stand ein Festnetz-Telefon. Als ich aus dem OP kam – mein Körper bestand nur noch aus Schmerz – klingelte das Telefon. Normalerweise hätte ich unter diesen Umständen den Anruf ignoriert, aber da meine zwei Söhne in jener Zeit abwechselnd einen Quatsch nach dem anderen verzapften, nahm ich, noch völlig benommen, den Hörer ab und sagte: „Na, wer von euch beiden ist es denn, und welchen Unsinn hast du angestellt?“
„Hallo, hier ist Joachim Sartorius. Tut mir leid, wenn ich störe, aber ihre Assistentin hat sich lange geweigert, mir ihre private Telefonnummer zu geben, jetzt habe ich sie endlich und muss sie dringend etwas fragen, denn gleich gehe ich zur Pressekonferenz, um den Namen des neuen Künstlerischen Leiters des Jazz Fests Berlin bekannt zu geben.“
Dr. Joachim Sartorius, einer der wichtigsten Lyriker der deutschen Gegenwartsliteratur, war Intendant der Berliner Festspiel AG, der Dachorganisation großer Festivals in Berlin; und durch sein Amt war er befugt, den Leiter des Jazz Festivals Berlin einzusetzen. Es war sehr korrekt von ihm, mich als Sprecher des ARD-Gremiums in die Entscheidung mit einzubeziehen.
„Lieber Herr Sartorius, müssen wir das wirklich jetzt entscheiden?
„Na ja, die PK beginnt in wenigen Minuten …“
„Haben Sie denn eine Idee?“
„Kennen Sie diesen schwedischen Posaunisten mit der roten Posaune?“
„Sie meinen Nils Landgren? Ja sicher. Das ist eine sehr gute Wahl. Machen wir das doch.“
Die Wirkung der Betäubungsmittel nahm ab und die Schmerzen entsprechend zu, ich wollte das Telefonat eigentlich gerne beenden … „Ich muss aber Ihren Kollegen unten auch eine Begründung für unsere Entscheidung geben. Könnten Sie mir dazu etwas sagen?“
„Ja sicher. Nils Landgren wird der neue Künstlerische Leiter des Berliner Jazz Fests aus zwei Gründen. Erstens hat er mit seiner Funk Unit den Jazz wieder tanzbar gemacht und damit der Musik ein Publikum zurück gegeben, das wir verloren geglaubt hatten. Und zweitens zeigt er uns gemeinsam mit Esbjörn Svensson einen Weg, wie wir unser musikalisches Erbe für den Jazz fruchtbar machen können.“
„Wenn Sie das bitte wiederholen könnten, ich muss mir das notieren …“
„Sehr gerne …“
Ich wiederholte langsam, und nachdem Joachim Sartorius aufgelegt hatte, ging er zur Pressekonferenz, und Nils Landgren wurde der Künstlerische Leiter das Berliner Jazz Fests 2001 und danach noch einmal von 2008 bis 2011.
Wieder gesundet und zurück im SR erzählte ich Frank Johannsen, dem damaligen Wellenchef von SR 2 KulturRadio, diese Geschichte. Frank war ebenso wie ich ein Fan von „Mr. Redhorn“ und beschloss umgehend, dass SR 2 die Samstag-Konzerte des Berliner Jazz Fests live übertragen werde. Der SR war damit 2002der erste Sender der ARD, der vollständige Konzerte des Berliner Jazz Fests live übertrug. Die anderen zogen im Laufe der folgenden Jahre nach.
Auf dem Internationalen Jazz Festival St. Ingbert war Nils ständiger Gast, mit immer wieder neuen, wunderbaren Formationen. Ich verdanke ihm sehr viele Anregungen und Ideen für das Programm. Unsere Telefonate verliefen meist nach folgendem Muster: Zunächst fragte er mich nach meiner Programmidee, nach meinem Wunsch an ihn. Nachdem ich den geäußert hatte, fragte ich ihn, was denn seine Idee sei. Fast immer war seine die Bessere. Nein, nicht fast. Immer.
Im November 2002 war Nils dann zum ersten Mal Gast bei „Jazz live with friends“, der Konzertreihe des Saarländischen Rundfunks. Er kam im Duo mit dem Gitarristen Johan Norberg. „Chapter Two“ nannten sie die Formation, und es war ein grandioses Konzert im voll besetzten großen Sendesaal des Saarländischen Rundfunks.
Wenn Sie heute auf die Website von Nils Landgren und auf den Button „TOUR“ gehen, werden Sie erstaunt sein über die lange Liste. Nils ist fast jeden Tag unterwegs zu einem Gig. Und wenn Sie genauer hin schauen und die Bands erkunden, werden Sie wahrscheinlich noch mehr staunen. Ich kenne außer ihm keinen Musiker, der in so vielen, komplett unterschiedlichen Bands gleichzeitig zuhause ist. Von der Funk Unit bis zum Sinfonieorchester, vom Duo bis zur Big Band, von großen Stars, die neben ihm glänzen, zu jungen, ganz unbekannten Musikerinnen und Musikern. Und immer ist er Nils Landgren. Schwede. Der Mann mit der roten Posaune und dem warmen Butterton.
Der Autor dieses Fundstückes, SR-Jazz-Redakteur Dr. Peter Kleiß (geb. am 23. 12. 1949 nördlich von Frankfurt am Main), war bereits im zarten Alter von 10 Jahren vom Jazz-Virus infiziert. Sein Vater, der während des Krieges Geige, Bratsche und Oboe als Orchestermusiker studiert hatte, ließ sich einiges einfallen, um ihn zu bekehren. Auch so manche familiäre Diskussion half nicht. Mit 12 spielte der junge Peter Klarinette in einer Jazzband.
Mit 16 Jahren war er Tenorsaxophonist in einer Soul-Formation, die afro-amerikanische Sänger hatte und regelmäßig durch die Clubs der US-amerikanischen Kasernen tingelte. Mit knapp 20, kurz vor seinem Abitur, wurde er Vater. Die Musik ließ Peter Kleiß dann erst mal sein, ging nach Marburg und studierte Germanistik und Politik, u. a. bei dem Marxisten und Theoretiker der Arbeiterbewegung Wolfgang Abendroth.
Obwohl der allein erziehende Vater sehr aktiv in der Studentenbewegung war, finanzierte er sein Studium, sich und seinen Sohn Michael selbst. Er schrieb Zeitungsartikel (Frankfurter Rundschau) und machte Radiosendungen über Jazz und Literatur im WDR, NDR und HR.
Nach seiner Promotion über die Literaturkritik im Deutschen Vormärz absolvierte er zwar noch ein Referendariat an der Erst-Reuter-Schule in Frankfurt, die Radiosendungen gab er aber nicht auf. Dazu war ihm dieses Medium viel zu sehr ans Herz gewachsen.
1980 bekam Peter Kleiß ein Angebot von SWF3, dort als leitender Redakteur anzufangen. Er nahm an, zog nach Baden-Baden und wurde 1982 zum zweiten Mal Vater. Seine SWF3-Zeit unter dem prägenden Wellenchef Peter Stockiger war hart, spannend und ungemein lehrreich.
1986 meldete sich dann der Saarländische Rundfunk und bot eine Redakteursstelle an, die wesentlich lukrativer war – finanziell und vor allem durch die Möglichkeit, später von der Europawelle Saar in die Kultur zu wechseln, sobald er sich alt genug dafür fühle. Mit Mitte 40 war es soweit. 1998 übernahm Peter Kleiß die Jazzredaktion, moderierte regelmäßig die Abendmusik auf SR 2, leitete die Konzertreihe „Jazz live with friends“ und das Internationale Jazz Festival St. Ingbert, war Vorsitzender des beratenden ARD-Gremiums für das Berliner Jazz Fest.
Kleiß gestaltete auch das Programm der saarländischen Landesvertretung bei „Jazz in den Ministergärten“. Seit dem 1. April 2015 beim Saarländischen Rundfunk in Rente, macht er das auch weiterhin, ebenso wie seine Talk-Bühne innerhalb des renommierten Festivals „Jazz Baltica“ und zwei regelmäßige Reihen mit Autorenlesungen. Sein Motto: Täglich Lust auf Neues!
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Eva Röder (Gestaltung/Layout), Roland Schmitt, SR-Bibliothek (Bilder/Recherche); Mitarbeit: Sven Müller, SR-Fernseharchiv (Videos und Standbilder)