Mein Land. Mein Sender – das ist der Slogan des Saarländischen Rundfunks. Und wie „hörernah“ der SR tatsächlich ist, das bestätigt nicht nur die Meinungsforschung. Gespräche zeigen immer wieder die engen Bindungen der Saarländerinnen und Saarländer zu „ihrem Sender an der Saar“. Geschichten darüber gibt es viele. Und für so manch einen hätte in den Zeiten des „Kalten Krieges“ seine Liebe zum SR sogar nicht so ganz ungefährlich sein können.
Von Axel Buchholz
Es begann mit einem Hörerbrief zum Abendmagazin „Zwischen heute und morgen“ auf der „Europawelle Saar“. Die war über Mittelwelle besonders abends noch weit entfernt gut zu hören. Anfang der siebziger Jahre wird es gewesen sein. Anneliese von Dossow schrieb von der Schönheit der Ostsee, von „ihrer“ Insel, dem Wetter und ihrem Reetdachhaus keine 100 Meter hinter den Dünen. Hörerpost aus der DDR bekam der SR damals häufig, meist allerdings aus Sachsen und Thüringen. In der „Hörerpost-Ecke“ lasen wir auch daraus vor. Was dazu beitragen konnte, DDR-Absender zu identifizieren, ließen wir weg. Schließlich waren Westmedien (und speziell auch die Europawelle) im Osten Deutschlands damals offiziell als „Propaganda-Zentralen“ gebrandmarkt. Kontakt zu ihnen wurde vor Gericht als strafverschärfend gewertet, war ideologisch verpönt und Grund für Nachforschungen – zumindest wenn die „Sicherheitsorgane“ ihren Staat dadurch als geschmäht ansahen oder einfach Belastendes gegen jemanden suchten.
Annelie von Dossow scherte sich darum nicht, schrieb immer wieder mal, berichtete von ihren allmorgendlichen Bädern in der Ostsee bis weit in den Herbst hinein, moserte auch mal über die Beschwernisse des DDR-Alltags. Und sie schickte als kleine Geschenke für die Moderatoren begehrte DDR-Briefmarken, die aber aus unserer Redaktion leider keiner sammelte. Also gab ich sie an meinen Vater weiter. Der war begeistert, bedankte sich bei der Absenderin – und übernahm fortan die Korrespondenz. Was seine Briefmarken-Sammlung nach und nach komplettierte und Annelie von Dossow von Zeit zu Zeit ein „Westpäckchen“ mit „gutem Bohnenkaffee“ und auch mal „echten“ West-Jeans einbrachte.
Jahrzehnte waren seither vergangen. Auf der Fahrt mit der „Hansestadt Stralsund“ durch die flachen Boddengewässer von Rügen auf die kleine westlich vorgelagerte Insel Hiddensee tippte mir plötzlich Kapitän Wehling auf die Schulter. Er hatte sich für mich nach Annelie von Dossow erkundigt. Mit 97 Jahren ist sie die Älteste auf Hiddensee. In der Hand hielt der Kapitän einen Zettel mit der Telefonnummer: „Wenn man mal davon absieht, dass sie ja nicht mehr die Jüngste ist, geht es ihr ganz gut“.
Das bekam ich dann gleich am Telefon zu spüren. Als ich ihr erst einmal erklären will, mit wem sie denn da spricht, unterbricht sie mich sofort: „Natürlich weiß ich, wer Du bist!“ Wann ich denn mal wieder auf die Insel käme? „In einer Stunde? Na, dann bleibst Du zum Mittagessen.“ Widerspruch zwecklos.
Kleinlaut an der „Goldenen Bremm“
Weniger forsch hatte ich Annelie von Dossow nur einmal erlebt. Das war bei unserem ersten Zusammentreffen wohl Mitte der siebziger Jahre. Da stand sie plötzlich bei uns in der Abendmagazin-Redaktion. Als Frührentnerin durfte sie damals schon vor dem offiziellen Rentenalter in den „Westen“ reisen. Zu ihrer Mutter in Friedrichsthal und zu Onkel Heini vom inzwischen längst geschlossenen Café Bohrmann. Und zum SR, ihrem „Heimatsender“: „Ich wollte euch mal persönlich kennen lernen“. Hörer, die einfach mal so vorbei kommen, das ist beim SR nicht selten. Aber Besuch aus der DDR, das gab es nicht so häufig.
„Tante Annelie“, wie sie inzwischen im Redaktionsjargon hieß, wurde also verwöhnt. Sie wollte allen die Hand schütteln, die sie vom Hören her kannte – und das waren nicht wenige. Auch die Studios interessierten sie, ja einfach alles. Jeder nahm sich natürlich Zeit.
Für den Abend fand sich dann eine Runde von Abendmagazin-Moderatoren zusammen, die mit ihr nach Frankreich zum Essen fahren wollte. Elke Herrmann saß am Steuer, Hans-Harro Schmidt war bestimmt auch dabei. Kurz vor dem alten Grenzübergang an der Goldenen Bremm in Saarbrücken wurde Tante Annelie plötzlich sehr kleinlaut. Sie war ja gerade an der innerdeutschen Grenze von den DDR-Polizisten barsch und übergenau kontrolliert worden. Und nun wollten wir mit ihr nach Frankreich, so ganz einfach ohne ein Visum, das sie dafür gebraucht hätte. „Grenze ist nicht gleich Grenze“, beruhigten wir sie. „Und mehr als zurückschicken können sie uns ja nicht“. Nichts dergleichen. Die deutschen Beamten kontrollierten gar nicht, der französische schaute nur kurz in den Wagen: „Bonsoir, ach, Frau Herrmann vom SR! … Zum Essen wollen Sie? Alors, bon appétit.“ Ein Grenzerlebnis der sehr besonderen Art war das für Tante Annelie.
Eine andere DDR-Erfahrung
Bei meinem zweiten persönlichen Zusammentreffen mit Annelie von Dossow war ich der Kleinlaute. Nach Terminen auf der Berliner „Grünen Woche“ hatte ich 1980 zusammen mit einem Freund Verwandte in der DDR besucht, der letzte war ein Arzt in Neuruppin in Brandenburg. Auch er ein Abendmagazin-Hörer. Wer uns denn sage, welche Minister wir da „zwischen heute und morgen“ interviewen sollen, wollte er wissen. Dass wir das in der Redaktion selbst entscheiden, glaubte er nicht. Es war für ihn zu unvorstellbar anders als die DDR-Medienwirklichkeit.
Nach Stralsund schien es von Neurupppin selbst bei Schnee auf den Straßen nur ein Katzensprung zu sein. Warum also nicht noch schnell bei Tante Annelie vorbei? Unser DDR-Visum galt schließlich noch drei Tage. Die Ostsee war allerdings teilweise zugefroren, deshalb fuhr nur von Schaprode auf Rügen eine Fähre nach Hiddensee. Ein Eisbrecher vorweg. Draußen dunkelte es schon, drinnen erschien es uns ziemlich trist und leer. Als sicher einzige Wessis blieben wir nicht unbemerkt. Zweifel kamen auf: Tante Annelie wusste von nichts und das Visum galt eigentlich nur für bestimmte Besuche. Wenigstens polizeilich melden sollten wir uns in Vitte, dem Hauptort der Insel. Eigentlich mussten das die DDR-Gastgeber oder die Hotels tun. Ein älterer Mann saß nicht weit von uns rauchend beim Bier. Wieso wir denn zur Polizei wollten? Als er’s gehört hatte, blickte er nur kurz auf: „Dat is gaud so. Ick bin de Polizei.“ Ende des Gesprächs. Und eine ganz andere Volkspolizei- und DDR-Erfahrung.
Kaum hatten sich die wenigen Fährpassagiere verlaufen, war Vitte wie ausgestorben, die Ferienheime dunkel, die Fenster mit Holzläden gegen Winterstürme und Schnee verrammelt. Schließlich fand sich doch noch jemand, der uns den Weg durch den Schnee zum „Heidehaus Palette“ erklären konnte. Einsam vor dem Ort gelegen, versteckte es sich in der Dünenheide unter verschneiten Krüppelkiefern und Birken. Tante Annelie saß mit ihrem Mann Richard nichtsahnend in einer kleinen, hell erleuchteten Glasveranda. Die Freude war groß, als sie schon an der Stimme erkannte, wer sie da mitten im Winter so überraschend besuchte.
Von der Saar an die Ostsee
Es wurde viel „vertellt“ in einer langen Nacht, die eindrücklich bewies: An der Versorgung mit „Klarem“ war trotz DDR-Mangelwirtschaft nicht zu mäkeln. Tante Annelies Erinnerungen ans Saarland litten darunter nicht, im Gegenteil. Obwohl es das genaugenommen noch gar nicht gab, als sie – lange bevor es den ersten Radiosender gab – am 26. März 1916 in der Heinitzer Str.1 im preußischen Friedrichsthal mitten im Ersten Weltkrieg auf die Welt kam.
Ihre ersten Schuljahre erlebte sie auch noch dort, da war aus der preußischen Rheinprovinz aber bereits das „Saargebiet“ geworden. Schon 1924 wurde ihr Vater, der Pfarrer Otto Bechthold, nach Morbach in den Hunsrück versetzt. Die Familie zog also um. Von da an alle drei Jahre. „Für länger reichen wohl Deine Predigten nicht“, spottete Tochter Annelie, die dann Säuglingsschwester lernte. Dadurch kam sie im Rahmen der „erweiterten Kinderlandverschickung“ im nationalsozialistischen Deutschland nach Göhren auf Rügen. Während einer Zugfahrt lernte sie dort den Marinemaler Richard von Dossow kennen, heiratete ihn und blieb – zuerst auf Rügen, ab 1961 im gemeinsamen Haus auf Hiddensee. Ihre Mutter, eine geborene Bohrman, zog es nach dem Tod des Vaters wieder zurück ins Saarland.
Saarländerin mit „Künstlerkolonie“ im Garten
Die Dossows lebten von Richards Landschafts- und Schiffsbildern, vor allem aber von einer Pension, die Annelie führte. Die Gäste wohnten teils im Reetdachhaus, vor allem aber in einfachen Holzhäuschen, die sich im Garten unter die Bäume duckten. Hiddensee blieb auch während der DDR-Zeit eine äußerst begehrte Ferieninsel. Urlauberbetten gab es aber fast nur mit „Quartierschein“ über das Ferienwerk der Gewerkschaften oder über Betriebe. Tante Annelie hatte einen Vertrag mit dem Berliner „Metropol“, dem führenden Operetten- und Musical-Theater der DDR. Ihre Gäste waren also Theater-Angestellte, oft Schauspieler und Sänger, darunter Intendant Hans Pitra. Und oft auch der Schauspieler und Sänger Ernst Busch. Als Interpret internationaler Arbeiter und Kampflieder hatte er in der DDR einen großen Namen, den seit 1981 auch die Berliner Hochschule für Schauspielkunst trägt. In Annelies Garten erklang also so manches Lied. Nach ihrer Erinnerung aber mehr in Richtung „Ostseewellen“. Er war eine kleine begehrte „Künstlerkolonie“ mit romantischem Plumsklo-Komfort. Was perfekt zur Künstlerinsel Hiddensee passte, die u. a. stolz darauf ist, dass der Nobelpreisträger und Dramatiker Gerhart Hauptmann dort sein Ferienhaus „Seedorn“ hatte.
Früh morgens, noch im Dunkeln, ging schon die Fähre zurück. Als nach der Wiedervereinigung bekannt wurde, welch lückenloses Spitzelnetz die DDR im eigenen Land gesponnen hatte, lag die Frage nahe, was wohl die „Stasi“ davon mitbekommen hatte. Offenbar nichts. Jedenfalls findet sich in den Stasiakten kein Hinweis darauf, im Gegensatz zu einer anderen DDR-Reise. Allerdings ist nicht alles erhalten.
Noch vor der Wiedervereinigung besuchte ich Tante Annelie zum zweiten Mal auf „ihrer“ Insel. Die Mauer war schon gefallen, Deutschland aber noch zweigeteilt. Es war eine Fahrradtour in den deutschen Frühling 1990. Wo wir auch anhielten in der DDR, mit wem wir auch sprachen, alle waren voller Euphorie und Erwartung. Und wir erfuhren uns mit jedem Kilometer mehr Erkenntnisse über eine DDR-Wirklichkeit, von der wir viel weniger wussten als wir vorher dachten.
Nicht alles ist Pech, was schwarz ist
Auch Tante Annelie war positiv gestimmt. Die beliebte Ferieninsel Hiddensee würde von der nun offenen Grenze zur Bundesrepublik gewiss nur profitieren. Schließlich waren wir ja schon die ersten Vorboten des erhofften Urlauberstroms. Und außerdem hatte sie sich eine gewisse Gelassenheit angewöhnt. Gegenüber einer Reporterin der Wochenzeitung „Die Zeit“ formulierte sie das 2003 so: „Hier muss alles übers Wasser, auch die Politik. Die hat sich dann schon abgekühlt“. Und außerdem: „Es ist nicht alles Pech, was schwarz ist“.
Der erhoffte Urlauberstrom kam tatsächlich. Auf die Insel und auch zu ihr, in die einfachen Holzhäuschen in ihrem Garten. Im Sommer 2012 sehe ich, dass sie alle belegt sind, meist mit jungen Familien. Annelie von Dossow müht sich teilweise noch immer selber drum, auch wenn sie Hilfe braucht. Manches andere ist ebenfalls mühsam geworden. Aber wenn’s ums Saarland und den SR geht, wird sie munter. Früher war die Europawelle ihre Brücke von der Ostsee an die Saar. Jetzt ist’s das Saarländische Fernsehen mit dem Aktuellen Bericht. Und ob ich auch den Palu kenne, will sie wissen. Denn den hat sie immer gern gesehen.
Ihr Besuch im Saarland vor fast vierzig Jahren ist ihr gut in Erinnerung geblieben. Für die ersten Froschschenkel ihres Lebens, damals in Frankreich, habe sie sich zuerst doch ganz schön überwinden müssen. Aber dann hätten sie prima geschmeckt. Wie mir ihr Blumenkohl mit Spiegelei und Salzkartoffeln. „Nein, kein großer Dank bitte, das war doch eine freudige Überraschung“, sagt sie. Grüße soll ich bitte mitnehmen von einer SR-Hörerin und Zuschauerin, die ihre Kinderjahre an der Saar nicht vergessen hat – auch wenn sie inzwischen längst ein „Fischkopp“ ist.
Dieser Text wurde ähnlich auch im Wochenmagazin Forum, Saarbrücken und in der Inselzeitung Hiddensee veröffentlicht.
Redaktion für den Arbeitskreis SR-Geschichte: Axel Buchholz (ab); Mitarbeit: Eva Röder und Roland Schmitt