Chefdirigent Pietari Inkinen (Foto: Andreas Zihler)

"Auf der Zeitschiene zu Wagner"

  16.04.2020 | 09:00 Uhr

Der Mann für Bayreuth 2022: Wie der finnische Dirigent Pietari Inkinen den Musikbetrieb aufmischt...

Wolfram Goertz, DIE ZEIT Nr. 17/2020, 16. April 2020


In der Musikhochschule von Helsinki hing an einem Mittwoch im Jahr 1994 ein Zettel. »Wer gern einmal dirigieren möchte, darf am Samstag um 10 Uhr in den Orchestersaal kommen.« An jenem Tag entschied sich das Leben von Pietari Inkinen.

Der 14-Jährige aus der finnischen Mittelstadt Kouvola, die vor allem Skispringer und Eishockeyspieler hervorgebracht hat, war ein hochbegabter Geiger, doch die verlockende Einladung ans Pult schlug bei ihm ein. Formuliert hatte sie eine finnische Legende: Jorma Panula, der an der Sibelius-Akademie fast allen großen Dirigenten des Landes das Hand- und Denkwerk beigebracht hat.

»Damals, an diesem Samstag, hat alles angefangen«, erzählt Pietari Inkinen, und wohin dieser Urknall führt, sollte die Musikwelt eigentlich in diesem Sommer erleben: Das 1980 geborene Nordlicht sollte seine Karriere per Turbolader beschleunigen und bei den Bayreuther Festspielen den Ring des Nibelungen dirigieren. Nun muss er nach der Absage noch zwei Jahre warten, bis dort die Tetralogie wieder geboten wird. Seine erste Reaktion: »unendliche Trauer«. So bleibe es noch etwas länger sein »Traum, den Ring mit diesem Orchester dirigieren zu dürfen«. Jedenfalls wird er auch 2022 einer der jüngsten Dirigenten aller Zeiten am Hügel sein.

In allem, was er tat, war Inkinen blutjung. Er studierte in Helsinki als Jungstudent Geige, wechselte in die ruhmreiche Violinklasse von Zakhar Bron nach Köln, kehrte zurück in seine Heimat, wurde Lieblingsschüler in Leif Segerstams Dirigierklasse und leitete bald alle wichtigen finnischen Orchester. Die Scouts der internationalen Agenturen notierten: »Ein Wahnsinnstalent!«

Als wir uns trafen, saß Inkinen in der Congresshalle Saarbrücken, wo Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1 auf den Notenpulten lag. Seit 2017 ist er Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, eines Orchesters, das man nicht unterschätzen sollte. Bei der morgendlichen Probe rumpelte es im Blech noch ein bisschen, aber wer sich zwei Tage später das Konzert anhörte, der staunte über die Festtagsinterpretation eines vorzüglichen Orchesters – und über Inkinens eindrucksvolle Ruhe bei der Deutung des Werks.

Wenn er mit den Musikern spricht, dann leise, mit kehlig knarrendem Deutsch. Einmal wünscht er sich ein Glissando bei den hohen Violinen etwas schneller. Die Stelle klappt deshalb so vorzüglich, weil er, der exzellente Geiger, genau weiß und vormacht, wie es gehen soll. Auch das hat Inkinen bei Panula gelernt: »Jorma hat immer gepredigt, dass jeder Dirigent mindestens ein Orchesterinstrument sehr gut beherrschen muss. Wie gut, dass ich die Violine nicht habe liegen lassen.«

Wenn Inkinen Symphonien von Gustav Mahler dirigiert, spielt die Aufführung nie im Zirkuszelt. Er veranstaltet auch keine Gottesdienste. Merklich hat Inkinen am Kontrapunkt gearbeitet, er denkt in Linien, nicht in Spezialeffekten, er begleitet die Musik wie ein Wissbegieriger, der durch Erfahrung selbst zum Lehrer geworden ist, und geht in ihren weiten Räumen nicht verloren. Die Weitherzigkeit, mit der Inkinen seinen Mahler anlegt, erinnert an die warmen Klangwelten seines großen dirigierenden Vorgängers Rafael Kubelík.

Weite Räume sind möglicherweise eine Spezialität Inkinens. Wer aus dem äußersten Norden kommt, hat ein offenes Verhältnis zur Geografie, für ihn geht jede Reise gen Süden. Dass Inkinen seinen ersten Chefposten 2008 ausgerechnet in Neuseeland antrat, am anderen Ende der Welt, war trotzdem eine Kuriosität, doch mit pragmatischen Aspekten: »Dann konnte ich einen Stopp in Hongkong einlegen, um dort ein Konzert zu dirigieren.« Außerdem liebt es Inkinen, Partituren im Flugzeug zu erarbeiten, »das ist viel nützliche Zeit, und niemand stört einen, vor allem kein Telefon«.

Was dirigieren Finnen in Wellington? Vieles, doch an Sibelius führte kein Weg vorbei. Zwar zeigt Inkinens Aufnahme sämtlicher Symphonien mit dem New Zealand Symphony Orchestra, dass der Dirigent in dieser Musik erfahrener ist als das Orchester. Manchmal fremdelt es. Doch in der 4. Symphonie a-Moll öffnet sich plötzlich dieser dunkle Sibelius-Raum, in dem jeder Fortschritt mäandert, in kleinen Erzählschritten, oft auch einstimmig. Dieses spröde Werk hat Inkinen grandios erarbeitet, ein überraschender Höhepunkt der Edition.

Die Leute in seiner Künstleragentur kennen Inkinen als unermüdlich Reisenden. Seine Omnipräsenz führt ihn regelmäßig nach Fernost; seit 2016 leitet er das Japan Philharmonic Orchestra. Auf dem Radarschirm des Musikbetriebs kann er unmöglich noch verloren gehen. Und nebenbei wirft er neue Platten auf den Markt, so etwa Dvořáks Zweite, deren melodisch-feurige Dringlichkeit man bestaunt: Wie konnte dieses schöne Stück Musik nur in Vergessenheit geraten?

Doch wie kam es zu Wagner, wie zu Bayreuth? Das ist eine Geschichte, die sich jenseits unseres Wahrnehmungshorizonts abspielte, in der Branche aber schon früh registriert wurde. Mehrfach hat Inkinen Wagner in Australien dirigiert, so auch den gesamten Ring in Melbourne, dessen enorme interpretatorische Dichte und Kompetenz sich herumsprach und mit Preisen dekoriert wurde. Als Inkinen dann, logistisch leichter erreichbar, Wagner in Palermo dirigierte, saßen Scouts aus Bayreuth im Saal. Die Entscheidung war schnell gefallen.

Nun ist raunendes Warten auf Bayreuther Debütanten seit je eine Lieblingsdisziplin vieler Wagnerianer – erst recht in diesen Zeiten, da auch berühmteste Festspiele ausfallen und eine Art Horror Vacui erzeugen. Sie können es sich aber verkürzen mit einer CD des dritten Akts aus Siegfried, die Inkinen mit Lise Lindstrom (Brünnhilde), Stefan Vinke (Siegfried) und seiner Radio Philharmonie aufgenommen hat. Da hört man schon sehr viel Schönes: leuchtende Diskretion bei den Pianissimo-Passagen, keinerlei Zeigefinger-Attitüde bei den Leitmotiven, ein Gespür für das Ahnende und Atmende. Manchmal fehlt es ein bisschen am Zug, am Denken in musikalischen Prozessen, am Willen zur Größe. Aber das kann alles kommen, wenn auf dem Hügel lauter Insider im Orchester sitzen, die den Ring fast auswendig spielen und bereits etliche Maestri erlebt haben. Bis 2022 wird Inkinen ja auch noch anderswo Wagner-Erfahrungen machen.

Sorgen vor der hehren Aufgabe hat Inkinen kein bisschen. Wenn man ihn fragt, was für ihn das Wichtigste in Bayreuth sein wird, damit alles gelingt, sagt er wieder in seinem lustig knarrenden Deutsch: »Gut schlafen und gut essen.«


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