Stehpulte und Stühle der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern (Foto: Astrid Klein/SR)

Edgard Varèse: "Ionisation"

Meilensteine der Neuen Musik (1)

  29.04.2014 | 06:15 Uhr

Sendung: Donnerstag 01.05.2014 20:04 - 22:30 Uhr

Archiv

Als Wissenschaftler 1940 im amerikanischen Oak Ridge in Tennessee an der ersten Atombombe arbeiteten, hörten sie "zur Zerstreuung und zur Stimulation ihrer Arbeit" die Komposition "Ionisation" von Edgard Varèse, ein Stück für 13 Schlagzeuger, die erste Komposition ausschließlich für Schlagwerk. Wenige Jahre zuvor hatte Varèse festgestellt:

"Es gibt eine Solidarität zwischen wissenschaftlicher Entwicklung und dem Fortschritt der Musik… Indem sie neues Licht auf die Natur wirft, ermöglicht es die Wissenschaft der Musik, dadurch fortzuschreiten und sich im Wechsel der Zeiten zu verändern, so dass sie in unseren Sinnen nie zuvor empfundene Harmonie und Erschütterungen einschließt".

"Ionisation" – 15 Jahre vor den ersten elektronischen Stücken entstanden - hat Erschütterungen ausgelöst in der Musikwelt, das bekam auch Varèse zu spüren:

"Professionelle Musiker haben mich all die Jahre für einen Freak gehalten. Man nannte mich einen Scharlatan und lachte mich aus. Man hat meine Werke nicht als Experimente betrachtet, sondern als Exkremente."

Ein Kritiker nannte „Ionisation“ nach der Uraufführung eine „Socke in der Backe“, der junge Frank Zappa war aber begeistert: Zum 15. Geburtstag wünschte er sich ein Telefongespräch mit Varèse. Zappa:

"Wenn du fünfzehn bist und in der Mojavewüste wohnst, und du findest heraus, dass der größte Komponist der Welt (der außerdem aussieht wie ein verrückter Wissenschaftler) in einem geheimen Labor in Greenwich Village an einem Lied über deine home town arbeitet, kann das schon verdammt aufregend sein."

John Cage war fasziniert von Varèse, Iannis Xenakis hat sich auf ihn berufen, und Luigi Nono, der Varese in Darmstadt traf, hat in seiner frühen "Composizione per orchestra" ausgedehnte Schlagzeugpartien einbezogen, indem er wie Varèse ungestimmte Schlagzeuge nach ungefähren Höhen organisierte. Solch eine serielle Vorordnung ist ebenfalls bei Varese bereits angelegt. Seiner Rolle als Vorreiter und Enfant terrible war sich der Amerikaner durchaus bewusst:

"Ich bin so etwas geworden wie ein diabolischer Parsifal, der jedoch nicht den heiligen Gral sucht, sondern die Bombe, die die musikalische Welt hochschreckt."

Heute hat die Komposition „Ionisation“ ihren Schrecken verloren. Man kann sie als Programmmusik auffassen und eine klassische Form heraushören, denn das Stück hat eine Einleitung und eine Coda, es arbeitet mit "Themen", ihren Abwandlungen und mit Kontrapunkten. Strenge und Konzentration wechseln ab mit verspielten Passagen, die gelegentlich sogar ins Schweijkhafte reichen.

Friedrich Spangemacher


Meilensteine der Neuen Musik

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